Im Supermarkt der Geschichte


Vier Akkorde und ein Text über die Unausweichlichkeiten des Lebens. Es könnte alles so einfach sein. Alles kann, nichts muss. Die 53-jährige Geschichte der „"Bitter Sweet Symphony".

Wie viele Partys wären heute um wie viel ärmer, hätten Huey Lewis & The News 1985 Ray Parker Jr. tatsächlich in die Knie gezwungen? Dessen Monsterhit „Ghostbusters“ klang nämlich verdächtig nach „I Want A New Drug“ von Huey Lewis & The News, fanden Huey Lewis & The News. Schließlich einigte man sich außergerichtlich, und die DJs dieser Welt hatten ein As mehr im Ärmel. Nur eins von aber vielen Beispielen für fast verhinderte Welthits. Eines der haarsträubendsten lieferten 1997 The Verve.

Die (aufgezeichnete) Geschichte beginnt 1955, als Roebuck „Pops“ Staples mit seinen Kindern Cleotha, Pervis und Mavis als R&B-Gruppe The Staple Singers ein altes Gospel-Traditional unter dem Namen „This May Be The Last Time“ erstmals auf Band bannt. Rechtlich einwandfrei, da es an dem Stück keine Urheberrechte gibt. Zehn Jahre später kommen die Rolling Stones, damals noch bei Decca Records unter Vertrag, bis dato vorrangig für Coverversionen (Chuck Berrys „Come On“, Willie Dixons „Linie Red Rooster“ etc.) bekannt, und nehmen ihre vierte „selbst geschriebene“ Single-A-Seite auf: eine in Teilen umarrangierte, umgetextete (aus dem heiter-spirituellen Song wird eine Drohgebärde an ein mit den Vorstellungen des Sängers inkompatibles Mädchen) riffrockende Version von „The Last Time“. Die Stones sichern sich die kompletten Rechte an dem Lied; die Songwriter-Credits gehen somit ausschließlich an Jagger/Richard [sie]. The Staple Singers sehen nie einen Penny aus dem Erlös der Single. Warum auch, sagen die einen. Warum denn um Himmels willen nicht, schließlich basiert das Stück doch eindeutig auf der Umsetzung der Staple Singers, sagen die anderen und beschuldigen die Stones, ihre schwarzen Vorbilder auszuschlachten. „Der Song war stark von den Staple Singers beeinflusst“, gibt Richards Jahre später zu. Das sei ihm allerdings „erst aufgefallen, nachdem das Stück schon geschrieben war. Wir hatten dieses Album der Staple Singers einfach über zehn Monate hinweggehört. Wir haben den Song ja nicht geklaut, aber was du spielst, ist eben oft das Produkt von dem, was du davor gehört hast.“

„The Last Time“ wird Nummer 1 im UK, Top Ten in USA. Die Cashcow will weitergemolken werden, und an ihr pralles Euter begibt sich Andrew Loog Oldham, flamboyante Schlüsselfigur im Drama um diesen einen Song und damaliger Manager der Stones (welcher deren Platten mit dem Aufdruck versieht, man könne doch bei Geldnot blinde Bettler ausrauben, um sich die LPs leisten zu können). Oldham bewundert Phil Spector über alle Maßen und trachtet danach, dessen „Wall Of Sound“ nachzuahmen. Mit seinem Andrew Oldham Orchestra (das ohne das ähnlich konzeptionierte Vorbild des George Martin Orchestra nicht denkbar gewesen wäre) macht er sich schon seit Längerem einen Spaß daraus, orchestrale Easy-Listening-Beatpop-Remakes von zeitgenössischen Popsongs einzuspielen. Eher weniger als mehr zur Freude von Kritik und Kundschaft. Den Abschluss ihres ’66er Albums The Rolling Stones Songbook bildet eine pompöse, psychedelische, Pierre-Henry-lastige Adaption von „The Last Time“ – die beim ersten bis zum hundertsten Mal Hinhören eigentlich überhaupt nichts mit dem „Original“ gemein hat. Audiophilen mag auffallen, dass das Glockenspiel am Anfang des Stücks die Grundtöne von Brian Jones‘ nudeliger Gitarrenfigur aufnimmt. Singt man allerdings die Gesangslinie Jaggers dazu, lässt sich die Verbindung erahnen. 1967 gibt Oldham im Größen- und Drogenwahn die Businessseite der Stones an den kontroversen amerikanischen Manager Allen Klein ab. Im Laufe der Jahre „erwirbt“ der gewiefte Klein die Rechte an allen Aufnahmen der Stones aus den 6oern und verleibt sie seiner 1968 gegründeten ProduktionsfirmaABKCO ein.

„Gebt uns 100 Prozent oder zieht den Song zurück, ihr habt keine Wahl!“

1995 basteln Peter Salisbury, Simon Jones und Simon Tong von The Verve an einem Song, der das Gerüst für ihren größten Hit darstellen sollte. Text und Titel, „Bitter Sweet Symphony“, will Sänger Richard Ashcroft eigentlich für eine Kollaboration mit James Lavelles TripHop-Projekt UNKLE auf derem Debüt psyence fiction verbraten. Nach etwas Überzeugungsarbeit begnügt sich Lavelle allerdings mit Ashcrofts Gesangsbeitrag zum Song „Lonely Soul“, und „Symphony“ schießt 1997 als offizieller The-Verve-Song erst in die UK-, dann auch in alle anderen Charts. Zur geschmacklichen Abrundung des Stücke hatte Ashcroft „vier Takte aus Oldhams Version von ,The Last Time‘ gesampelt. Das war eine Spur. Dann haben wir noch 47 weitere draufgepackt. Das sind unsere eigenen Streicher und unsere eigene Percussion.“

47 Spuren hin oder her, die Instrumentals beider Werke klingen weitgehend identisch. Auf frühen Demos von „Bitter Sweet Symphony“ singt Ashcroft sogar noch über Oldhams Vorlage. Der hörbare Input Ashcrofts beruht auf dem Verfassen des Texts und der Komposition des prägnanten Streichermotivs, das den Song mehrheitlich begleitet (wobei auch dieses im Original schon halbwegs vorkommt – achten Sie mal auf die Sekunden ab 1:39). Seine Rechtfertigung: „Kunst lebt davon, sich im Supermarkt der Geschichte zu bedienen -und neue Dinge zusammenzusetzen. Was ist denn bitte schön an den Beatles oder Miles Davis ursprünglich?“

Decca und die leibhaftigen Stones erlauben, das Sample zu verwenden. Fatalerweise versäumen es The Verve jedoch, ABKCO um Verwendung zu bitten. „Symphony“ entwickelt sich, auch dank der brillanten Videoclip-Umsetzung von Walter Stern, zum Riesenhit, und der geschäftstüchtige Allen Klein („Unser Geschäft liegt nicht in einer Tätigkeit als Sampling-Bereitsteller“) zieht wegen Lizenzverletzungen vor Gericht, sein Argument lautet, The Verve hätten zu viel des lizenzierten Samples benutzt. Simon Jones: „Ursprünglich hatten wir einen 50/so-Deal. Nachdem sie aber sahen, wie gut die Single lief, riefen sie uns an und drohten:,Gebt uns 100 Prozent oder zieht den Song zurück, ihr habt kaum eine Wahl!'“ Alle Verwendungsrechte und Einnahmen des Songs werden ABKCO und den Rolling Stones zugesprochen. Auch müssen The Verve einen nicht unerheblichen Anteil des Verkaufserlöses ihres Erfolgsalbums urban hymns und der Compilation This is music: the Singles 92-98 an eben jene abführen. Ohne Zustimmung der Band landet der Song auf dem Soundtrack zum Teeniedrama „Eiskalte Engel“ sowie in TV-Spots von Nike und des Automobilherstellers Vauxhall Motors. Ashcroft ruft daraufhin öffentlich zum Boykott von Vauxhall auf: „Kauft ihre Autos nicht, sie sind scheiße!“ 1999 wird das Stück als bester Rocksong für einen Grammy nominiert. Als Autoren werden Jagger und Richards, nicht aber die Interpreten The Verve verlesen. Letzten Endes beruft sich die Gruppe auf Gesetze des moralischen Rechts und stoppt somit eine weitere Verbreitung des Songs.

„Die größte Ungerechtigkeit ist, dass Richard dafür nie etwas bekommen hat“, klagt The-Verve-Bassist Simon Jones. Ashcroft selbst nimmt’s gelassen. Zwar habe er am Anfang des Rechtsstreits „schon einige Türen eintreten wollen“. Letztlich gehe es aber darum, „dass uns der Song ja viele Türen in der ganzen Welt geöffnet hat“. Publicitywirksam bezeichnet er „Bitter Sweet Symphony“ als „den besten Song, den Jagger und Richards in den letzten 20 Jahren geschrieben haben, den größten Hit für die Stones seit ,Brown Sugar'“. Außerdem „hätte auch alles noch viel schlimmer kommen können. Hätten wir kampflos aufgegeben, wäre ,Symphony‘ noch in einer Werbung für Cheeseburger geendet, und niemand hätte es je wieder ernst nehmen können.“

Rechtlich gesehen wäre es für Klein schwer gewesen, eine Urheberrechtsverletzung nachzuweisen, hätten The Verve die Verwendung des Samples verschwiegen. Denn ein Musikstil, Rhythmen und Harmoniefolgen dürfen sehr frei nachgeahmt werden. Wozu Ehrlichkeit eben führen kann.

In der Aufarbeitung von Traumata lässt sich bei Opfern von Kriminalfällen oftmals eine Emulation des Täterverhaltens feststellen. Dem widersprechend und beruhigend zu wissen, dass The Verve nie gegen die deutsche Castingband Preluders vor Gericht gezogen ist. Deren 2003er Nr. l-Hit „Everyday Girl“ ist ja wohl bedenklich nahe an Ashcrofts Stringriff von „Bitter Sweet Symphony“. Und kennen Sie eigentlich den „Tune Up! Remix“ vom Stück „Beat Bangs“ des Trance-DJs Pulsedriver etc. etc.?

Von The Who gibt es übrigens einen Song, ebenfalls 1965 aufgenommen, dessen Gesangsmelodie die kleine Schwester derer von „The Last Time“ sein könnte – der Titel: “ A Legal Matter“.