Ike & Tina Turner Story
Seitdem Ike und Tina Turner im letzten Jahr mit den Rolling Stones auf Amerika-Tournee gingen, haben sie sich ein ganz neues Publikum erobern können. Vorher spielten sie vorwiegend in kleineren Clubs, und sie animierten mit ihrer Show mittel-alterliche Geschäftsleute, die sich den teuren Whisky leisten konnten, der in diesen Clubs ausgeschenkt wird. Mittlerweile spielen sie auf Popfestivals vor zehntausenden von Zuhörern und begeistern die 15- bis 25-jährigen Rock-Fans die bis dahin vielleicht für Blues, aber nur selten für schwarzen Rhythm & Blues schwärmten.
Spätestens seit dieser Tournee ist Tina Turner für alle männlichen Rock-Fans eine Frau, die man nur heimlich zu sich mit nach Hause nehmen würde – selbst für den Fall, dass man stolzer Besitzer einer absolut sturmfreien Bude wäre. Denn Tinas Sexappeal ist so offensichtlich, dass die lieben Nachbarn sofort Böses ahnen würden. Tina weiss genau, wie lang ein Minirock sein muss; und wie kurz er sein darf, um die Phantasie ihrer Zuhörer zu stimulieren. Wenn sie auf der Bühne Otis-Redding-Nummern wie „Respect“ oder „l’ve been loving you too long“ singt und dabei liebevoll mit dem Mikrofon spielt, sind ihre Gesten und Anspielungen so unmissverständlich wie die von Robert Plant und Mick Jagger.
Ike und Tina Turner sind nur selten nach Europa gekommen, das letztemal 1966, um den Erfolg ihres „klassischen“ Hits „River Deep – Mountain High“ zu feiern und zusammen mit den Stones in England aufzutreten. Das ist schade, denn man muss ihre Show auf der Bühne sehen, um zu begreifen, in welchem Masse die visuelle Sinnlichkeit ihres Auftritts den Sex in ihren Texten unterstützt. Nicht von ungefähr hat man Tina Turner als den „weiblichen Mick Jagger“ bezeichnet. Sie bekennt zum Beispiel auf „Young And Dumb“, einer Nummer ihrer vorletzten LP „Come Together“, ohne Umschweife: „I want somebody to keep me statisfied/Cause I got too much time for my hands“, und jeder weiss, warum sie unzufrieden ist, wenn sie „zuviel Zeit für ihre Hände hat“. Sie bemüht nicht einmal mehr die übliche doppeldeutige Bilderwelt von Blues-Texten, wenn sie singt: „And when I get him in my bedroom alone/He’ll never won’t go back home“. Was man ihr auch sofort glaubt, wenn man sie einmal live erlebt hat. Vielleicht ist Tina Turner nicht ein „weiblicher Mick Jagger“, sondern eher noch ein weiblicher Jimi Hendrix?
Ike Turner gibt auch zu, dass sie 60 Prozent ihres neu gewonnenen Erfolges den Rolling Stones verdanken. Er muss es wissen, denn er ist schon seit 1948 im Geschäft. Damals arbeitete er mit grossen Blues-Sängern wie B. B. King und Howlin 1 Wolf zusammen die zu dieser Zeit nur wenigen Spezialisten und eingefleischten Blues-Liebhabern bekannt waren. Wenn man damals eine Platte aufnahm, bekam man dafür allenfalls einmal zehn oder zwanzig Dollar, oder man durfte während der Aufnahme-Session soviel Whisky trinken, wie man eben noch vertragen konnte. Bis 1960 reiste Ike Turner mit seiner Gruppe, den „Kings of Rhythm“, durch den Süden der Vereinigten Staaten und spielte Abend für Abend für ein Publikum von vielleicht dreissig bis hundert Leuten. In der Gegend von St. Louis war er enorm populär, aber leider nur dort. Seinen ersten grossen Hit hatte er, als dieses Mädchen mit Namen Annie Mae Bullock – die spätere Tina Turner – seine Komposition „A Fool In Love“ sang, eine Soul-Nummer, bevor überhaupt der Ausdruck Soul populär wurde. Trotzdem spielte er weiter in relativ kleinen Plätzen, und er hat auch heute keine Hemmungen, in einem kleinen Club in Watts, dem unruhigen Negerviertel von Chicago, für wenig Geld aufzutreten. Denn er weiss, dass seine Musik auch dort richtig verstanden wird. Inzwischen ist die lke-&-Tina-Turner-Revue berühmter als andere Soul-Gruppen. Sie haben ihr Niveau und den Stil ihrer Show nicht dem Geschmack des weissen Mittelstandspublikums angepasst, um kommerziell noch erfolgreicher zu werden, und sie verschmähen die Klischees der keimfreien, sterilen Popmusik, und gerade deswegen sind sie momentan die beste amerikanische Rhythm & Blues-Band. Kompromisslos spielen sie „race music“ – Musik die in Europa zunächst von Gruppen wie den Animals und den Stones popularisiert worden war und von der viele damals behaupteten, dass sie die Gemüter der weissen Jugendlichen vergifte. Wer das heute noch glaubt, ist nicht mehr ernstzunehmen. Eines ist sicher: Tina Turner singt heute auch Rock ’n‘ Roll-Nummern („Honky Tonk Women“, „Get Back“), wie sie vor ihr noch niemand gesungen hat!