Horch, Was Kommt Von Draußen Rein
Es gibt Platten, die gibt’s gar nicht. Das heißt: Es gibt sie schon, in England, Australien, den USA oder sonstwo auf der Welt,— bloß findet sich keine deutsche Plattenfirma, die sie hier auf den Markt bringt. Weil die Musik zu frisch ist, weil die Bands zu jung sind, oder einfach weil man Angst hat: „Wer will das denn haben? 0, heißt es dann. Und: „Sowas kann man hier doch nicht verkaufen.“ Kann man eben doch — und nicht zu knapp. ME/Sounds folgte den verschlungenen Import-Wegen, sprach mit Machern, Fans und Händlern und verrät, wo man heute schon kriegen kann, was andere morgen suchen werden.
Fall I: Die junge, unbekannte Gruppe aus England. Eine Single mit dem Titel „Down To Earth“ plazierte sich in den Top Ten der englischen Charts. Deutsche (Radio-)Discjockcys wurden als erste neugierig, wenig später auch die Trend-Späher aus dem breiten Publikum. Trotzdem tauchte die Scheibe hierzulande in den Plattenläden einfach nicht auf.
Die deutsehe Plattenfirma, die darüber entscheiden kann, ob der Song auch in der Bundesrepublik herauskommt (sie hat die Lizenz-Rechte exklusiv), mußte gründlich nachdenken. „Wir haben ersnnul abgewartet“, hieß es offiziell. „Schließlich war die Gruppe variier in Deutschland völlig unbekannt.“ Aber: „Wir Indien sie dem lernsehen angeboten. „
Erst als die „Formel 1“ — das Goldene Kalb der deutschen Plattenindustrie, ihre Zusage gab, wurde die Platte veröffentlicht und kess als Debüt-Single beworben. Dabei war das schon die zweite. Und die Gruppe kannte inzwischen jeder: Curiosity Killed The Cat.
Deren erste Single „Misfit“, zu der Andy Warhol kurz vor seinem Tod noch das Video inszenierte, ist natürlich nie in Deutschland herausgebracht worden, hatte im Tante Emma-Plattenladen keine Chance: „Misfit“ gab’s nur als Import.
Fall 2: Der gestandene Country-Rocker aus Texas. Nach etlichen LP-Veröffentlichungen genießt T-Bone Burnett inzwischen auch in Deutschland ein beachtliches Ansehen. Doch was der Mann an Platten verkauft, ist nicht der Rede wert.
Sein neues Album — in Amerika längst veröffentlich! — liegt eines Tages auf dem Tisch eines Hamburger Product Managers. Der soll nun entscheiden, ob Burnett-Fans in den Genuß einer deutschen Pressung kommen. Und obwohl dieser Gitarrist „seine kleine, aber feine Gemeinde mit einem puren und obendrein äußerst gelungenen Countn-Album“
bedient (Jörg Feyer in ME. Sounds), hat der Mann in Hamburg ein Problem: „Mit Coiimiy gibt’s große Schwierigkeiten im Handel“, runzelt er die Stirn. Also wird das Album bei uns nicht veröffentlicht, obwohl sogar schon ein deutsches Cover gedruckt ist. T-Bone Burnett gibt’s nur als Import. „Mein privater Geschmack muß manchmal himenan stehen“, seufzt der Product Manager. Fall 3: Die Popgruppe aus Georgia. Als sie vor dem letzten Album BOUNCING OFF THE Satellites ihren Plattenvertrag neu aushandeln mußten, pokerten die Witzbolde von den B-52’s viel zu hoch. Für die bloße Veröffentlichung in Überseegebieten wie dem europäischen Kontinent verlangten sie derartig hohe Garantiesummen, daß ihre Firma dieses Thema mit einem schlichten „Dann eben nicht“ beendete. Ein Jahr lang konnte man das Album nur als Import-Platte kriegen — jetzt sind die Damen und Herren B-52’s wieder auf dem Teppich, haben ihre finanziellen Vorstellungen nach unten korrigiert, und Bouncing Off The Satellites wird auch in Deutschland gepreßt.
Gerade noch rechtzeitig. Die B-52’s-Gemeinde ist nach wie vor so groß, daß sich eine Veröffentlichung trotz der ungeheuren Verspätung lohnt — verkaufszahlenmäßig. Bei weniger populären Gruppen, den britischen Shop Assistants beispielsweise, kann ein halbes Jahr Verspätung schon zu viel sein: Clevere Importeure, Läden und Versand-Händler haben die Gunst der Stunde genutzt und den Bedarf bereits so gut wie gedeckt. ,. Besonders importgefährdet sind sogenannte Kultgruppen“, erklärt Bernd Dopp, Product Manager der deutschen WEA. „Bei einer Band wie The Jesus And Mary Chain laufen die harten Fans sofort am ersten Tag in den Luden und kaufen sich die Platte. „
Trotzdem wird hierzulande mit der berühmt-berüchtigten Schere im Kopf gearbeitet, gehen Marketing-Strategien oft genug vor RepertoireÜberlegungen. Man sieht weniger den Künstler und sein Publikum, sondern vor allem die Kosten und die mögliche Rendite. Angesichts eines vollgestopften Markts mit mehreren tausend Neuveröffentlichungen pro Jahr und einer Rock-Historie, die in die Hunderttausende geht, ist das allerdings auch kein Wunder.
Wann wird eine Platte in Deutschland veröffentlicht?
„Wir handeln nicht nach der Devise Je mehr Dreck man gegen die Wund schmeißt, desto mehr bleibt hängen'“, winkt Dopp ab. „Die untere Grenze der Verkaufserwartimg muß bei 1500 bis MX) Stück liegen, sonst lohnt sich der administrative Aufwand nicht.“
Pressung. Cover-Druck. Anzeigen-Kampagnen. Rezensions-Exemplare und eventuelle Promotion Interview-Rundreisen kosten ein Heidengeld — trotzdem darf der persönliche Geschmack hin und wieder mit-entscheiden. Dopp: „An eine Gruppe wie die Replacements zum Beispiel glauben wir langfristig: also veröffentlichen wir, selbst wenn wir nicht davon überzeugt sind, gleich mit der ersten LP das Limit zu überschreiten. „
Mit der ersten deutschen LP. wohlgemerkt. Wie interessierte Leser auf Seite SO feststellen werden (wenn sie’s nicht längst wissen), gibt es die Replacements nicht erst seit 1987. und Pleased To Meet Me ist bereits ihr fünftes Album.
Daß die ersten vier bei uns nicht veröffentlicht wurden, kann man allerdings nicht den Deutschen ankreiden (sie erschienen auch in den USA nicht bei WEA. sondern auf dem Klein-Label Twin Tone) — daß sich die Industrie früher oder später für diese Gruppe interessieren würde, wußten Importeure und Import-Händler allerdings schon längst.
Leute wie Siegfried Kluge (hat vor 15 Jahren mit dem legendären Flash Shop angefangen und versendet heute als Groovers Paradise) kennen so was zur Genüge: „Wir erleben immer wieder, daß die Industrie plötzlich Gruppen aufkauft, die man hier vorher nur über uns beziehen konnte. Du brauchst bloß bei den aktuellen Veröffentlichungen zu gucken: Die Replaceniems zum Beispiel, oder die Hoodoo Gurus. Von denen verkaufen wir schon jahrelang ganz ansehnliche Stückzahlen, selbst bei teuren Single-Sets. Auf einmal haben’s auch die Pkiiienjirmen mitgekriegt und zugeschlagen — eigentlich zu spät, denn mittlerweile klingen diese Bands längst nicht mehr so frisch. „
Von der“.frischen“ Musik leben die Importeure, und gar nicht schlecht. Vier Branchen-Zweige profitieren am meisten: ¿ die großen Plattenläden wie Saturn (Köln. München) oder WOM (Kiel. München. Berlin. Nürnberg), ¿ die Platten-Versände, ¿ die Import-Dienste der Industrie-Firmen und ¿ Spezial-Importeure, die sich um die Unzahl kleiner und kleinster Independent-Label kümmern (siehe Kasten).
Helga Meyer. Chef-Einkäuferin bei Saturn in Köln, schätzt den Verkaufsanteil von Import-Platten auf ein Drittel ihres Gesamtumsatzes. LPs wie das erste Album von Anita Baker beispielsweise gehen bis zu 5()mal pro Woche über den Ladentisch, auch wenn dafür 24.90 Mark hingeblättert werden müssen.
Otto Normalverbraucher käme allerdings nicht im Traum auf die Idee, so viel Geld für eine einzige Platte zu zahlen. Otto ist mit dem Angebot, das die deutsche Industrie (billiger) auf den Markt bringt, auch schon voll bedient: da sind sich alle Import-Profis einig.
Sie arbeiten für Otto Un-Normalverbraucher. und der ist beileibe nicht knickerig, wenn er endlich das seltene Stück seiner Wahl gefunden hat. Außerdem bieten die großen deutschen Plattenläden inzwischen in vielen Bereichen eine Auswahl, die selbst legendäre Kon.sumtempel wie Tower Rccords in New York mühelos abstinken läßt. Sven Witt (WOM, München) kommentiert die teilweise gesalzenen Preise gelassen:
„Die Leute wissen, daß sie bei uns altes kriegen können: und was sie nicht finden, besorgen wir. Dafür sind sie gern bereit, ein bißchen mehr zu zahlen. „
Mail-Order-Käufer wohnen meist auf dem Land.
Die Mehrheit der Platten-Kaufer drängelt sich aber nicht oder nur selten an den Kassen der Laden-Ketten. Die Mehrheit der Plattenkäufer wohnt auch nicht in Köln, Berlin und München, sondern in Griesbach, Haßfurt oder Gütersloh. Daß die Fans auf dem Land nicht in die Röhre gucken oder auf den nächsten Großstadt-Urlaub warten müssen, verdanken sie einer Reihe größerer und kleinerer Platten-Versände, die — nimmt man die Gesamtheit ihrer Angebote — ebenfalls keine Wünsche offenlassen. Nur wenige Versender bieten lediglich das plattenladen-übliche Standard-Programm, die meisten haben sich (darüber hinaus oder ausschließlich) auf bestimmte Import-Sparten spezialisiert (siehe Kasten S. 14).
Wer ein paar Mark Porto invenstiert und sich sämtliche Kataloge und Listen schicken läßt, braucht auf nichts zu verzichten und wird in 99 Prozent aller Fälle prompt und perfekt bedient; auch was Vorauszahlungs-Rückerstattungen, Bestellungen im Ausland und all die anderen Dinge angeht, vor denen der ungeübte Versand-Kunde Angst haben könnte.
Das Import-Geschäft floriert mitunter so gut. daß auch auf diesem Wege echte Verkaufs-Hits gelandet werden können. Bekanntestes Beispiel: die Rocky Horror Picture Show. Da haben alle Großen gepennt, und mehr als 250000 Alben gingen in aller Stille an die Fans. Screamin‘ Jay Hawkins wurde in Deutschland über 40000mal verkauft — und das nur, weil sein „I Put A Spell On You“ im Jarmusch-Film „Stranger Than Paradise“ blechern aus einem Cassettenrecorder quäkte. Der Teldec Import Service konnte allein 150000 Maxi-Singles der Flirts verkaufen, von ein paar anderen Scheiben sogar noch mehr. Geschäftsführer Rolf Baehnk: „Aber die nenne ich nicht, sonst kommt die Industrie und holt sie weg.“
Der Importeur als Spür- hund und Talentscout.
Mit diesem Zwiespalt müssen mehr oder weniger alle Groß-Importeure leben: Einerseits wollen sie natürlich so viele Platten wie möglich absetzen, andererseits kann es jederzeit passieren, daß die Industrie ihnen einen Bestseller einfach wegschnappt, indem sie ihn selbst in Deutschland veröffentlicht. Wie den Schweizer Harfen-Mann Andreas Vollenweider, den Rolf Baehnk nach 20000 verkauften Behind The Garden …-LPs an die CBS abtreten mußte. Transfer-Summe: 100 000 Mark. An Vollenweider.
Wolf gang Breuer, Chef des lntercord Record Service und seit Januar auch Sachwalter des schier unerschöpflichen CBS-Import Katalogs, sieht sich dagegen durchaus auch als Hit-Scout für die Mutterfirma. „Unsere Pilotfunktion muß sein!“ findet er. „Trends zu entdecken, ist beabsichtigt und findet statt.“ Breuer, der deutlich gegen Journalisten-Ignoranz zu Felde zieht, fühlt sich gern „von einem Hit entlastet“, um sich anschließend wieder neuen Newcomer-Perlen widmen zu können.
Seit die Plattenfirmen dazu übergegangen sind, ihre Superstars weltweit gleichzeitig zu veröffentlichen, sind erfolgreiche Newcomer die Haupt-Umsatzträger der Importeure (egal ob es sich um die den großen Firmen angeschlossenen oder kleinere Spezial-Unternehmen handelt). „.So eine Platte kommt im Normalfall erst in Amerika raus, einige Zeit später in England und schließlich auch in Deutschland“, erklärt Charlotte Vaughn-Lesser, die für E.A.M.S. in Deggendorf seit fünf Jahren Platten importiert, hauptsächlich schwarze Tanz-Musik.
„Als Oran Juice‘ Jones , The Rain‘ hier ein Hit war, wollte mir keiner glauben, daß wir das schon sieben Monate lang verkauft haben.“
Außer den Umsatz-Spähern der Industrie, die sogar ganz dankbar sind, wenn Importeure erst mal die Spreu vom Weizen trennen. Product Manager Dopp: „Gerade in einem so uniiberschaubaren Bereich wie der Disco-Szene warten wir lieber erst mal ab, welche Platten sich als Renner herauskristallisieren.“
Als Dauer-Renner — auch auf dem Import-Sektor — erweist sich mehr und mehr die irrwitzig boomende Sparte Heavy Metal. Für Markus Röder. Großhändler mit US-Independent-Platten aller Art, war der Durchbruch des Schwermetalls die Initialzündung, sich selbständig zu machen: „Ich habe früher in einem Plattenladen gearbeitet und die ganze Entwicklung mitgekriegt. Der rasante Außchwung des Heavy Metal zog eine ganze Reihe Crossover-Bands nach sich, die Metal mit Hardcore Punk verbanden oder umgekehrt und damit Fans der einen Stilrichtung auch für die andere begeisterten. Die Nachfrage stieg rapide, nicht zuletzt weil immer mehr Leute begriffen, daß auch Nachwuchs-Bands wirklich gute Rockmusik machen können. Also suchten sie nach immer rareren Scheiben auf immer kleineren Labels und brauchten dazu immer bessere Importeure. Wir verkaufen gigantisch, und das wird vorerst nicht stagnieren, im Gegenteil …“
Marktlücken für Importeure gibt’s immer wieder.
Für Furchen, wie sie Markus Röder beackert, besitzen die großen Plattenfirmen gar nicht die passenden Pflüge — dafür haben sich einige kleine Labels ebenfalls um die Beschaffung von Platten, „die man hier eigentlich nicht kriegt“ verdient gemacht. Mit viel Liebe und Idealismus gehen Klein-Unternehmen wie Line in Hamburg oder Demon in London zu Werke und fischen sich aus den Archiven der Großen die Perlen heraus, die dort sonst verstauben würden. Sie veröffentlichen jede Menge gute alte Scheiben, die längst aus den regulären Programmen gestrichen wurden — plus neue Bands, die die Industrie (noch) nicht will, und kümmern sich dabei wesentlich intensiver um den einzelnen Künstler.
„Mit den obskuren Sachen machen wir uns die meiste Arbeit“, bestätigt Demon-Chef Andrew Lauder. Jemand wie Elvis Costello weiß solche Hingabe zu schätzen; der ist inzwischen mit seinem gesamten Repertoire bei Demon (in Deutschland bei Line).
Und der Plattenkäufer hierzulande sollte zu schätzen wissen, daß wir unsere Anfangs-These revidieren müssen: Platten, die es nicht gibt, gibt’s nicht. Hier gibt’s alles. Man muß bloß wissen, wo.