Hörbarer Lärm
„Ich liebe den alltäglichen Lärm“, sagt Jamie Lidell und meint damit eigentlich sein neues Album COMPASS.
In Irrgärten soll man sich verlieren, Labyrinthe hingegen dienen zur Selbstfindung. Jamie Lidells neues Album COMPASS ist ein solches Labyrinth. Wer es betritt, droht zunächst die Orientierung zu verlieren, und doch findet er unbeschadet den Weg hinaus. Lidell selbst ging es kaum anders. Der New Yorker Klangfrickler mit dem ausgeprägten Hang zur Extravaganz hat ein Album voller Gegensätze produziert. Im Zustand innerer Zerrissenheit suchte er mit seiner Produktion bewusst einen therapeutischen Ansatz. „Eigentlich sollte das Album trust your compass heißen, aber das war mir dann doch etwas zu pathetisch“, rekapituliert ein Jamie Lidell, der im persönlichen Gespräch lange nicht so grimmig wirkt, wie er auf seinem Album dreinschaut. „An der Aussage ändert das aber nichts. Ich fühlte mich verloren und musste meinem eigenen Kompass vertrauen. Auf meinem kleinen Schiff mitten im Sturm wies mir eine leise Stimme die Richtung. Es war mir wichtig zu lernen, wieder auf mich selbst zu hören.“ Auf diesem Album gehe es darum, so Lidell weiter, Vertrauen zu etwas zu finden, das uns stets begleitet. Unser ganzes Leben sei eine Aneinanderreihung von Entscheidungen. „Das reibt uns auf. Wir brauchen einen Kompass. Man muss nur aufpassen, dass man keine Sammlung von Kompassen mit verschiedenen Antworten hat.“
Lidells neues Album hört sich nicht leicht weg. In den Songs offenbart sich eine überaus komplexe Persönlichkeit, die von Kämpfen verfeindeter Gedankenarmeen heimgesucht wird und von Zeit zu Zeit ein Ventil braucht, um den so entstandenen Druck abzubauen. Ein Klangphilosoph, der noch nach seinem System sucht. Allerdings ist der introvertierte Visionär bei seiner Arbeit lange nicht so autistisch, wie es den Anschein haben mag. Angst, in kreativer Klausur dem Wahnsinn anheim zu fallen, muss er nicht haben. „Ich habe eine sehr verständnisvolle Freundin, die ebenfalls Künstlerin ist. Einen großen Teil der Platte habe ich für sie und mit ihr geschrieben. Zwar verbrachte ich mit bestimmten Ideen auch viel Zeit allein, aber wenn ich den Überblick zu verlieren drohte, gab es immer Menschen wie Beck oder meine Freundin, die mir weiterhalfen. Ich habe keine Angst, irre zu werden, treibe aber einige Leute mit meinen präzisen Vorstellungen zu einzelnen Details in den Wahnsinn. Ich bin süchtig nach dem Effekt von Sound und verfolge bestimmte Klangfarben so lange, bis sie exakt umgesetzt sind.“
Am Ende kam es Lidell auf die richtige Balance zwischen emotionalen und rationalen Entscheidungen an. „Sitze ich zu lange an bestimmtem Material, gewinnt der Computer-Spezi in mir über den Musiker Oberhand. Statt den Sound wie ein Toningenieur zu beurteilen, sollte ich meinem Gefühl vertrauen und die Dinge etwas offener lassen. Zum Glück hatte ich diesmal zu wenig Zeit für Korrekturen, sodass viele Fehler erhalten blieben. Wo andere Künstler mit ihrer Musik in einen perfekten Kokon schlüpfen wollen, liebe ich den alltäglichen Lärm. Wenn ich eine ehrliche Platte machen will, muss ich diesen irgendwie hörbar machen. Das Chaos ist erwünscht.“
Albumkritik S. 96
www.jamielidell.com