Herrscher der Affenstadt


Sie wollen eine Freakshow sein. Minimal ist ihnen zu minimal. Sie wollen Mitglied einer großen Familie sein. Die Berliner Szene ist ihnen dafür nicht groß genug. Sie wollen nicht nur die Nacht, sie wollen auch den Tag. „Wir wollen die Coolsten sein.“ Das sind sie. Denn sie sind Modeselektor.

Friedrichshain, Kreuzberg und kein Ende. Der Easyjetset marodiert weiter durch die Spreestadt, als gäbe es keinen Morgen und einen Montag schon gar nicht. Inmitten all des Wahnsinns haben sich Gernot Bronsert und Sebastian Szary ihr eigenes Techno-Paralleluniversum aufgebaut. Auch auf ihrem neuen Album Monkeytown vermählen sie globale Bass-Power mit Berliner Augenzwinkern und nonchalantem Popverständnis. An ihrer Seite: ein weltweit vernetztes Kreativkollektiv. Auf ihrem Laptop: die beste Liveshow des Planeten Rave. Wer soll Modeselektor stoppen? Ortsbesuch in der Affenstadt.

Ein Bösewicht mit Skeletor-Stimme brummt die Worte „Evil Twin“. In den turmhohen Monitorboxen schlägt eine überdrehte Kickdrum Kapriolen. Der Bassline schiebt alle Anwesenden mit jedem Takt tiefer in die standesgemäß angeranzte Studiocouch. Sebastian Szary steckt sich zufrieden die gefühlt 50. Zigarette des Tages an; sein Partner Gernot Bronsert grinst und schiebt versonnen am Frequenzregler, während sich die Störgeräusche in den Untiefen des Stücks zu einer seltsam einnehmenden Eufonie des Lärms verdichten. Der Bruchteil einer Pause, noch mehr Bass, die Skeletor-Stimme bösewichtet: „Mooodeselektor“. Als wäre man da nicht von selbst draufgekommen.

Seit mittlerweile 15 Jahren machen Bronsert und Szary nun schon gemeinsame Sache. Aufgewachsen am östlichen Stadtrand Berlins, haben sie elektronische Musik und Clubkultur wenn nicht mit der Muttermilch, so definitiv doch mit der Pausenmilch aufgesogen. „Nachts mit der S-Bahn in die Clubs zu fahren und die ganze Fahrt über Schiss zu haben, aufs Maul zu kriegen – das prägt einen fürs Leben. Techno war das Erste, was uns nach Public Enemy musikalisch richtig geflasht hat.“ Auf den Flash folgte eine recht lebhafte Anteilnahme. Die von Modeselektor veranstalteten Abende in Schuppen wie dem Kurvenstar („Labstyle“) oder dem WMF sind längst lokale Legende. Parallel verdingte sich Szary in der Frühphase der Band als DJ sowie als Tonmeister in einem Köpenicker Jugendclub, Bronsert hütete stolz den Tresen des Hardwax-Plattenladens am Kreuzberger Kanalufer: noch so ein magischer Ort der Berliner Technogeschichte. Nachts tanzte dann Jimi Tenor zu ihren Beats auf dem Tresen des Café Moskau und die „Modeselektor Groupie Group aus Wedding“ riss sich die (selbst bemalten) T-Shirts vom Leib. Da sollen diese ganzen Spanier noch mal was vom Berghain faseln.

Als besonders nachhaltig jedoch erwies sich die Chemie zwischen den beiden im Studio. Szary hatte bereits Anfang der Neunziger selbst gebastelten IDM (Intelligence Dance Music) nach damaliger Mode veröffentlicht, erst gemeinsam jedoch entwickelten die Selektoren ihren bis heute unverkennbaren Stilmix aus Dub, schmutzigem Techno, verballertem Jungszimmer-Hop, schrägem Humor und konsequent übersteuerten Electronica mit Eiern.

Dubstep – heute einer der großen Einflüsse des Duos – existierte damals noch nicht, zumindest nicht unter diesem Namen. Aber die Haltung war dieselbe. Sich nehmen, was einem nicht zusteht. Einfach mal machen. Und immer schön den Bass hochziehen. Mit dieser Attitüde zogen Modeselektor schon bald das Interesse der Berliner DJ und Produzentin Ellen Allien auf sich und landeten schließlich auf deren Label BPitch Control (gemeinsam übrigens mit einem gewissen Paul Kalkbrenner, mit dem sie noch heute eine innige Freundschaft verbindet, obwohl sich die musikalischen Anknüpfungspunkte in einem gewissen elektronischen Grundkonsens erschöpfen).

Es folgten zwei Alben, Hello Mom! von 2005 und Happy Birthday von 2007, ein gemeinsames Projekt mit Sascha Ring alias Apparat (Moderat), bemerkenswert unterhaltsame Liveauftritte mit dem Berliner VJ-Kollektiv Pfadfinderei und schließlich 2009 die Gründung gleich zweier eigener Labels, 50WEAPONS und Monkeytown. Besonders Letzteres steht dabei auch dem Namen nach für die Vision, die Modeselektor im Jahre 2011 verfolgen. Weltweit organisiertes Chaos. Wahnsinn ohne jede Methode, aber mit dem Herz am rechten Fleck und jeder Menge Druck unter dem Hintern. „Eine gute gemachte Freakshow eben“, wie Bronsert aus dem Off einwirft, während er noch schnell das Facebook-Profil von Modeselektor auf Vordermann bringt.

Eine gut gemachte Freakshow. Da ist zum einen die Clique, die Modeselektor um sich schart. Während Monkeytown eher für das eigene Schaffen sowie das ihres langjährigen Kumpels Moritz „Siriusmo“ Friedrich gedacht ist, hat sich 50WEAPONS zu einer fast einzigartigen Plattform für all jene Clubmusik gemausert, die Bronsert und Szary derzeit für interessant und wichtig halten: den düsteren Dubstep von Anstam, den galoppierenden UK Funky von Doc Daneeka und Benjamin Damage, die vertrackten Stolperbeats von eLan, den perkussiven Techno von Cosmin TRG.

Dasselbe Konzept verfolgen sie mit ihrer Compilation-Reihe „Modeselektion“ und den von ihnen kuratierten Bühnen beim Manchester Warehouse Project, der Mutek in Montreal oder dem heimischen Melt! Festival: ihren Namen und die von ihnen aufgebaute Vollprofistruktur um den ehemaligen Beatport-Manager Ronny Krieger zu nutzen, um das Feiervolk auf neue, tolle, extravagante Musik jenseits der üblichen Tech-House-Klischees aufmerksam zu machen. „Diese Crew-Idee war uns immer wichtig“, erklärt Bronsert im Gespräch. „Ich will nicht sagen, dass wir in dieser Hinsicht Ossi-mäßig sind, das hört sich immer ein bisschen doof an. Aber diese Art der gelebten sozialistischen Marktwirtschaft, wie sie zum Beispiel Ed Banger (Label des ehemaligen Daft-Punk-Managers Pedro Winter – Anm. d. Red.) praktizieren, hat uns immer gefallen. Deren ganzes Gehabe kann man finden, wie man will. Aber was da um einen erfolgreichen Act herum entstanden ist, wer da alles mitgezogen wird, ist schon beeindruckend. Die machen wat. Und die machen’s gut. In Deutschland hat so etwas Ähnliches vor zehn Jahren stattgefunden: Da gab’s die Kölner, die Berliner, die Frankfurter, die Münchner. Das hat sich aber jeweils in einem ganz bestimmten Zirkel abgespielt. Das waren immer die gleichen Zeitschriften, die gleichen Clubs, die gleichen Labels – und einmal im Jahr haben sich dann alle auf Ibiza getroffen. Wir wollen das ein bisschen offener halten, ohne dabei den Familiengedanken aus den Augen zu verlieren.“

Das nachgeschobene Witzchen vom „Warp Records Deutschlands“ jedenfalls könnte ernster gemeint kaum klingen. So wird bei jedem der kommenden Modeselektor-Konzerte mindestens ein Act des Labels im Vorprogramm zu hören sein. Ihre DJ-Sets bestreiten die beiden ohnehin mindestens zur Hälfte mit Weapons aus hauseigener Produktion, und auch das Studio wird brüderlich mit dem geförderten Nachwuchs geteilt. Dass sich derzeit wieder ganze Horden blutjunger Dubstep-Produzenten für House und Techno der klassischen Schule begeistern, dürfte durchaus auch dem Einfluss von Onkel Gernot und Onkel Sebastian geschuldet sein. Natürlich spielen die beiden glühenden UK-Fans ihren Einfluss routinemäßig bescheiden herunter. Und dennoch: Da wächst ein Netzwerk heran, wie es die Stadt seit den legendären Gastspielen der Detroiter Großwesire Anfang der Neunziger nicht mehr erlebt hat.

In gleichem Maße trifft das Bild von der gut gemachten Freakshow aber auch auf den Sound von Modeselektor selbst zu. Mit der vorgeblich reinen Leere der Berliner Minimal-Monokultur nämlich hat das Duo nichts am Hut. Zwar unterhalten sie ihr Studio tatsächlich mitten in einem jener Sehnsuchtstempel, die Wochenende für Wochenende Tausende Exzesstouristen auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer verschlucken und Montagmorgen mitsamt ihrer Ursuppe aus Bier, Schweiß, Putzmittel und verklärten Erinnerungen wieder ausspucken. Zwar kennen sie noch immer die meisten jener „Verbimmelten“ (O-Ton Bronsert) persönlich, die sich an einem durchschnittlichen Sonntagvormittag vor dem Berghain die erste/letzte Kippe anzünden, während die beiden Familienväter mit dem Taxi direkt von Tegel heim zu Frau und Kind düsen. Doch trennt sie von dieser Welt längst mehr als nur eine schalldichte Studiotür und ein paar Lebensjahre.

Typische Modeselektor-Songs folgen nicht der Dynamik der ewigen Nacht, sondern dem Gebot des Hier und Jetzt. Kaum ein Stück auf Monkeytown ist länger als fünf Minuten. Und während DJs wie ihre Berghain-Kumpels Marcel Dettmann und Shed minimale Verschiebungen im Klangstrom maximal ausdehnen und ihre Hörer mitnehmen auf eine jener viel beschworenen Reisen, geben Bronsert und Szary mit Hingabe die „schnelle Eingreiftruppe von der Fraktion kurz und schmerzhaft“ – auf mexikanischen Marktplätzen ebenso wie in kalifornischen Wüstentälern oder eben im Schatten der Monster-Tagebaubagger zu Gräfenhainichen. Ein Affenzirkus ist ein Affenzirkus ist ein Affenzirkus. „Uns war immer wichtig, dass an der Bar nicht mehr geflirtet wird, wenn wir anfangen zu spielen.“ Für billige Fernsehturm-Romantik bleibt da leider keine Zeit.

Entsprechend sind Modeselektor-Tracks randvoll mit brillanten Ideen, waghalsigen Wendungen und subtilen musikalischen Scherzen. Sie leben von der Kombination aus feiner Selbstironie und fettem Sound, Augenzwinkern und tiefem Respekt vor ihren zahlreichen musikalischen Einflüssen. So rappt auf „Pretentious Friends“ der kalifornische Wortverdreher Busdriver durch einen irrwitzigen Leierschleier, bei „War Cry“ winselt die Gitarre von Apparat, „Berlin“ ist lupenreiner Lowrider-R&B mit Miss Platnum – und damit eine perfide Umkehrung der Euro-Besessenheit von Usher und Snoop Dogg. Andere Tracks wie „German Clap“ oder das überirdisch gute „Blue Clouds“ üben sich dagegen im derzeit populären Grenzgang zwischen House und Dubstep. Aber sie tun es ohne den blasierten Blick des berufsmäßigen Auskenners, sondern mit jenem typisch breitbeinigen Gestus, den Szary treffend mit „musikalisches Mackertum“ umschreibt. Und dann sind da natürlich noch die mittlerweile fast schon obligatorischen Kollaboration mit ihrem Busenkumpel Thom Yorke, wundervolle, mollgetränkte Stilübungen in Ambient-Bass. Damit ist Monkeytown, im besten aller Sinne, ein ganz normales Modeselektor-Album.

Das hätte durchaus auch anders kommen können. Als nach dem exzessiven Touren der vergangenen Jahre nämlich der Ruf nach einer neuen LP laut wurde, herrschte in der Affenstadt zunächst Leere. Das Label brauchte was zum Arbeiten, das Volk neue Stücke – und seine Helden blickten in einen langen Tunnel der Planlosigkeit. Besonders den ansonsten nimmermüden Bronsert plagte eine Schreibblockade. Verzweifelt erwog man Verwegenes; die Ideen reichten von einer Underground-Techno-Totalverweigerer-Platte bis hin zum Konzeptalbum als Tribut an bereiste Lieblingsstädte. „Aber irgendwie können wir schlecht konzeptionell arbeiten. Wir brauchen das Chaos, das Spontane.“

Also besann man sich, auch dank des regelmäßigen Zuspruchs von Kumpel Thom („I had the biggest block ever before Kid A, and it ended up in a good thing“), auf bewährte Ansätze. So entstanden die Skizzen zu Monkeytown wie üblich auf dem Laptop, irgendwo zwischen Vielfliegerlounge und Wickeltisch. Ausgearbeitet aber wurden die Ideen in echter Gemeinschaftsarbeit im Berliner Studio. Manche Stücke durchliefen dort bis zu 50 Entwicklungsstufen – ein sensationeller Wert, nicht nur für die beiden Instinktproduzenten. Bronsert: „Im Unterschied zu früher haben wir bei dieser Platte großen Wert auf den Sound gelegt. Sie klingt viel offener und erfahrener. Ich sage bewusst nicht ‚reifer‘ oder ‚erwachsener‘, weil sie nach wie vor diesen typischen Modeselektor-Humor transportiert. Aber früher haben wir einfach alle Regler hochgerissen und dabei vermutlich auch viel falsch gemacht. Mittlerweile haben wir im Studio einiges dazugelernt. Dass die Musik am Ende trotzdem noch lässig und echt klingt, ohne nach links und rechts zu schauen, das war die eigentliche Herausforderung.“

Die Transformation jedenfalls von sympathischen Kiezclub-Heroen zu echten Schwergewichten im Großrave-Betrieb haben Modeselektor souverän gemeistert. Längst denken, spielen und funktionieren Szary und Bronsert wie eine Band – wie eine weniger museale Version von The Prodigy und Underworld. Ihren Underground-Resistance-Pulli mussten sie trotzdem nicht an der Garderobe abgeben. Will heißen: Modeselektor sind groß in gut. Und leben so offensichtlich, was sie lieben, dass man sich ihrem Charme kaum entziehen kann. „Für das Geld könnten wir das alles nie machen“, beteuert Bronsert. „Dafür sind wir viel zu sehr UR-Atzen. Ich stehe auf Anti-Anti, auch wenn das Quatsch ist. Polizisten mag man nicht, das ist einfach so. Das ist nun mal das Berlin, mit dem ich groß geworden bin.“

„Eeevil Twin“ knarzt und furzt es aus den Lautsprechern. „Everybooody has one.“ Wie sich Sebastian Szary und Gernot Bronsert zwischen zwei monströsen Bassklatschen zufrieden zunicken, wirken sie kaum wie böse Zwillinge. Eher wie Mario und Luigi: zwei ganz normale Superstars, vereint durch eine ewige Mission. „Wahrscheinlich wollen wir einfach immer nur die Coolsten sein“, sagt Bronsert und dreht die Musik noch ein kleines bisschen lauter. Als hätte jemals jemand etwas anderes gewollt.

Das Berliner Duo Modeselektor – Musiker, Produzenten und DJs in wechselnden Ausprägungen – gründet sich 1996. Die vielseitigen stilistischen Interessen von Gernot Bronsert und Sebastian Szary sorgen nicht nur dafür, dass ihre eigenen Veröffentlichungen zwischen Techno, HipHop, Dubstep und vielen anderen Genres hin und her springen, es entstehen dadurch auch viele Kooperationen mit anderen Künstlern wie Thom Yorke, Maxïmo Park, Otto von Schirach und Siriusmo. Am bekanntesten wird ihre Kollaboration mit Sascha Ring alias Apparat unter dem Namen Moderat (Album im Jahr 2009). Ihre erfolgreichste Veröffentlichung ist die Charts-Platz-drei-Single „Bettina, zieh dir bitte etwas an“, die Fettes Brot 2007 unter ihrer Mithilfe produzieren.