Heinz Rudolf Kunze
Ein Kopfmensch entdeckt seinen Bauch. Früher Titel und Thesen - heute hingegen ein Temperament, das man dem vermeintlichen Biedermann nie und nimmer zugetraut hätte. Heinz Rudolf Kunze öffnet sein ganzes Herz.
ME/SOUNDS: Dein „ganzes Herz“ verkauft sich besser als alle fünf Vorgänger-Alben zusammengenommen. Wie erklärst du dir das neue Kunze-Publikum ?
KUNZE: „Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, daß alle Stammhörer auf einmal abgesprungen sind. Es gibt da allerdings eine Fraktion, die sich grundsätzlich und ausschließlich für meine Inhalte interessiert — und meine Musik immer nur als lästige Beigabe in Kauf genommen hat.
Da kommen tatsächlich Briefe mit dem Vorwurf, das Ganze sei jetzt viel zu genießbar. Diese Leute —- wohl sehr depressive Naturen -— haben mich immer schon genommen als Formulierer für ihr Mißbehagen. Die saßen wohl am liebsten allein im abgedunkelten Zimmer vor dem Plattenspieler — mit gerunzelter Stirn in Dekodierhaltung: , Was will er uns jetzt wieder sagen ? Ist die neue Platte noch finsterer, noch gemeiner als die letzte ?‘ Und das ist ein Mißverständnis. Ich wollte immer schon freundlichere Musik machen. Für mich ist die neue Platte kein Knick in meiner Arbeit, sondern etwas, worauf ich lange hingearbeitet habe. Nur stimmt jetzt erst die Chemie der Gruppe; erst jetzt bin ich imstande, diese Art von Musik auch wirklich umzusetzen.“
ME/SOUNDS: Gibt es alte Songs, die du live nicht mehr spielen magst ?
KUNZE: „Auf der 84er-Tour haben wir noch bis zum Anfang zurückgegriffen. Jetzt lassen wir bewußt ein paar wichtige Stücke von früher weg -— unter anderem die ‚Fütterung‘. Wir wollen diese Sachen nicht fleddern.“
ME/SOUNDS: Was ist das Neue? Die heftigere Gangart?
KUNZE: „Wir haben schon seit Jahren dazu geneigt, Stücke, die im Studio oft spröde aufgenommen waren, live immer heftiger umzusetzen. Aus dieser Tatsache wollte ich endlich die Konsequenzen ziehen.“
ME/SOUNDS: Hatte die differenzierte, die „verbissene“ Arbeit im Studio nicht auch ihre Vorteile?
KUNZE: „Ich will das bisher Gelaufene ja nicht abschreiben, wundere mich allerdings über die extreme Schüchternheit und Düsternis, mit der ich zum Teil gearbeitet habe. Ich bin jetzt im Stande, mehr zu wagen, mehr aus mir herauszugehen, einfach mehr zu singen.
Vor allem habe ich jetzt, da meine Stücke immer im Dialog mit dem Gitarristen entstehen, in Heiner Lürig jemanden gefunden, der anders an die Sache rangeht als sein Vorgänger. Der viel musikalischer denkt, vielleicht auch weniger Respekt vor meinem Ansatz hat und mir schon mal sagt: ‚Das ist zwar ein schöner Text, aber den schreib bitte in dein nächstes Buch ‚.“
ME/SOUNDS: Und er hat wirklich schon Vorschläge von dir rausgeschmissen ?
KUNZE: „Ja. Also ich möchte unbedingt wegkommen von dem Gefühl, das ich bei meinen alten Platten manchmal habe: daß es verhinderte Bücher waren, daß ich einfach das Medium verwechselt habe. Das extremste Beispiel ist sicher von der dritten LP DER SCHWERE MUT das Stück ,7. Juli, vormittags‘ mit zwei deliriumsmäßigen Klavierakkorden, ein bißchen Saxofon und dazu ein Sprechtext. Live immer ein Hammer — aber eigentlich ein Text zum Lesen.“
ME/SOUNDS: Und jetzt also Saft- und Kraftmusik ?
KUNZE: „Ich hab ja eigentlich auch schrille Dinge versucht, aber wenn ich so zurückschaue, habe ich den Eindruck, daß meine Ausflüge in die Avantgarde, meine zögernden Flirts mit ihr, immer nur eine Notlösung waren, weil die Band damals sowieso nicht in der Lage war, geraden Rock zu spielen. Jetzt ist sie’s.“
ME/SOUNDS: Was bedeutet dein vorletztes Album AUSNAHMEZUSTAND mittlerweile für dich?
KUNZE: „Ein Fazit meiner ersten Arbeitsphase. Nach der Platte wußte ich, daß ich mit meinem langjährigen Partner, dem Gitarristen Mick Franke, an einem Endpunkt angekommen war. Ich hatte alles formuliert, was ich zusammen mit ihm rauskriegen konnte. Heiner ist besser als sein Vorgänger im Stande, die anderen zu stimulieren. Ich hab mich nicht so grundsätzlich geändert. Meine Musikalität ist beschränkt, nur bedingt entwicklungsfähig. Ich brauche da einen Partner. Und den hab ich jetzt.“
ME/SOUNDS: Jemand, der bei dir musikalisch die Sau rausläßt ?
KUNZE: Ja. Auch jemand natürlich -— da waltet wieder meine Eitelkeit -— der’s alleine nicht kann, sondern der’s eben nur bei mir kann.
Mit Heiner hab ich gleich bei unserer ersten Begegnung am Küchentisch zwei Lieder gezeugt. Da bin ich dann auch sehr spontan und hab gleich gesagt: ,Du bist der Mann!'“
ME/SOUNDS: Und die Band erfährt vom neuen Mann nachträglich durch den Boß?
KUNZE: „Von mir, ja. Das ist ein Soio-Projekt. Die Band besteht zwar seit längerer Zeit aus den gleichen Leuten — was ich sehr begrüße — aber es ist nicht in dem Sinne Band-Musik, daß da jeder miterzeugt. Bis auf den Gitarristen reagieren die Musiker auf das, was wir vorgeben.“
ME/SOUNDS: Auf „Ich glaub es geht los“ machst du die „siebentausend Geißlein“ an, die auf den „Blauen Bock“ in der Gruga-Halle einsteigen. Du hast wiederholt Ekel bekundet über die „besoffenen Horden“, vor denen bei der „Rocknacht“ in Essen ein Elvis Costello baden geht, während „besinnungslose Abräumer“ Triumphe feiern. Für mich stehen aber die meisten Losgeh-Songs auf DEIN IST MEIN GANZES HERZ musikalisch einem Bryan Adams näher als Elvis Costello. Der ständige Rückgriff auf die heiligen Rockphrasen macht die Sache austauschbar…
KUNZE: „Ich will die Leute, die ich da angreife, ja nicht ein für allemal in die Hölle schicken. Ich will sie erreichen mit etwas, das sie verstehen, ihnen dann allerdings Inhalte unterjubeln, die sie doch Staunen machen müßten, wenn sie die mal auf dem Cover nachlesen.“
ME/SOUNDS: Der Pädagoge Kunze benutzt Mainstream-Rock ab Transportmittel für sein höheres Anliegen ?
KUNZE: „Also einerseits ist da eine List, eine Absicht mit dabei. Andererseits hab ich mir auch selbst einen Gefallen getan. Ich habe bestimmte einfache Phrasen immer schon sehr geliebt, habe die Who und die Kinks sehr gemocht und sehe mich ziemlich ratlos in den 80er Jahren um, um ähnlich beeindruckende Gestalten zu entdecken. Und da hab ich mich einfach mal hemmungslos bedient.“
ME/SOUNDS: Nicht nur bei The Who. „Du wirst kleiner, wenn Du weinst“ hat was von Procol Harum…
KUNZE: „O.k. Gern. Laß ich mir gefallen.“
ME/SOUNDS: „Dies ist Klaus“ klingt bläserhalber nach Phil Collins…
KUNZE: „Soll ich jetzt mal ganz ehrlich sein? Da hab ich doch eigentlich ganz woanders gekJaut. Also da hab ich beim Komponieren viel mehr an Tm Still Standing‘ von Elton John gedacht. Das war jetzt ganz ehrlich. Hosen runter!“
ME/SOUNDS: Heinz Rudolf, der Meisterdieb?
KUNZE: „Man muß angesichts dieses Vorwurfes nicht gekränkt sein. Das liegt einfach daran, daß das Repertoire der möglichen Verbindungen von Harmonien und Melodien durch die Überflutung mit Liedern eigentlich längst erschöpft ist. Wir können alle nur noch zitieren. Und manchmal
gibt man sich dann hemmungslos Phrasen hin, die einen irgendwann einmal ganz tief erreicht haben.“
ME/SOUNDS: Ist dein textliches Anliegen in Gefahr, wenn man ganz genau hinhören muß, weil deine Stimme neuerdings ziemlich nach hinten gemischt ist?
KUNZE: „Conny Plank mischt, auch wenn er deutsche Sachen macht, die Stimme sehr englisch ab, eingebettet in die Musik. Vielleicht mit dem Hintergedanken, daß die Musik auch dann Spaß machen soll, wenn man sie nur nebenbei hört. Es kommt ihm auf ein glaubwürdiges Verhältnis von Sänger und Musik an.
Mir war das recht. Ich weiß, daß alle wortlastigen Kollegen davon träumen — da kannste Maurenbrecher fragen, da kannst du fragen, wen du willst — daß alle davon träumen, eine Musik zu erzeugen, die auch beim oberflächlicheren Hören einen Sinn macht.“
ME/SOUNDS: Sind deutsche Texte für dich nach wie vor eine Selbstverständlichkeit ?
KUNZE: Ja.“
ME/SOUNDS: Welche Kollegen sagen dir da gegenwärtig zu?
KUNZE: „Es gibt die Einstürzenden Neubauten, es gibt den nach wie vor skandalös unterschätzten Heiner Pudelko, es gibt natürlich den Manfred Maurenbrecher — von dem ich mir allerdings eine etwas schlichtere musikalische Umsetzung wünschen würde, etwas weniger Spliffertum. Wobei ich dann gleich hinterherschiebe: Es gibt den Herwig Mitteregger — denn da finde ich es völlig angemessen.“
ME/SOUNDS: Hast du auch ein deutsches Feindbild?
KUNZE: „Nein, aber es gibt Kollegen, die mich dadurch zu Allergien treiben, daß sie das Deutsche immer so amerikanisch aussprechen beim Singen. Ich ziehe Leute vor, die sich zur Kantigkeit der deutschen Sprache bekennen.
Was anderes ist es natürlich, wenn man seine Songs auch auf Englisch singt, um Leute im Ausland zu erreichen. Das könnte ich mir vorstellen — falls die Leute mich dort brauchen.“
ME/SOUNDS: Was hörst du dir privat an?
KUNZE: „Viele Independent-Sachen, vor allem aus England -— Gruppen wie This Heat, Henry Cow.“
ME/SOUNDS: Und wann hörst du weg, wirst wütend?
KUNZE: „Diese gesamte Modern Talking- und Cretu – Richtung, das ist eine schlimme Fortsetzung der Boney M.-Dinger. Das ist verwerfliche Musik, die man mit einem Sticker vom Gesundheitsministerium versehen sollte, weil sie Menschen schlecht und dumm macht. Diese Sandra, diese Torte da. die hat es ja neulich fertiggebracht, in der TV-,Musikszene‘ in einem Drei-Satz-Interview vier Dummheiten zu sagen. Das muß nicht sein.“
ME/SOUNDS: Du hast einen harten Stamm treuer Fans. Kommt es vor, daß du trotzdem bei Konzerten dein Publikum erst in einer längeren Anlaufphase erobern mußt?
KUNZE: Ja — und zwar ganz eindeutig regional bedingt: Je weiter nach Süden, desto mehr, vielleicht mit Ausnahme der Universitätshochburgen. Aber in manchen Nestern im Süden schaut man mich schon an. als ob ich vom Mars gefallen wäre. Die Hamburger Markthalle dagegen war bis jetzt bei jeder Tournee konkurrenzlos am schönsten.“
ME/SOUNDS: Und die Heimspiele in Osnabrück ?
KUNZE: „Die Leute waren dort anfangs verzweifelt kritisch, sagten sich:, Wer von hier kommt, der kann ja nichts sein. ‚ Inzwischen sind sie allerdings geradezu erpresserisch stolz auf mich geworden.“
ME/SOUNDS: Deine Fans wollen dich auf der Bühne „bluten“, wollen dich leiden sehen. Bei wochenlangen Touren ist das doch wohl gar nicht drin…
KUNZE: „Natürlich muß ich Routine entwickeln. Und es ist meine verdammte Pflicht, das so gut zu machen, daß die Leute zufrieden sein können. Oft gibt es dann, wenn das Konzert gut läuft, einen Punkt, wo ich die Maske ablegen kann.“
ME/SOUNDS: Hat das dann was mit Trance zu tun ?
KUNZE: „Absolut. Man ist dann nicht mehr ganz bei sich, vergißt völlig die Uhrzeit — und obwohl der Ablauf der Konzerte ziemlich konstant ist, bin ich dann völlig verblüfft, wenn’s vorbei ist.“
ME/SOUNDS: Wenn der Georg Danzer alle, die für den Frieden sind, zum Aufstehen auffordert, ist der Gipfel der Peinlichkeit erreicht. Ich finde das Publikum deiner Konzerte auch unangenehm begeisterungsfreudig -— immer bereit, sich selbst als Helden der rechten Gesinnung zu feiern.
KUNZE: „Die einzige Möglichkeit, die ich da sehe, ist die, daß ich manchmal die Lacherwartung etwas auflaufen lasse, indem es zum Beispiel einfach keinen Lacher gibt. Beim Schreiben ist diese Lachzwang-Mechanik eine große Belastung.“
ME/SOUNDS: Die klatschen bei jedem kritischen Wort, weil sie nicht zuletzt sich selbst bejubeln wollen.
KUNZE: „Da liegst du absolut richtig. Das ist ja auch durchaus legitim. Viele finden bei mir eben prägnant formuliert, was sie gedacht haben, ohne über die Worte zu verfügen. So können sie ein Gefühl mitbekommen, mit dem man den Alltag grimmig grinsend etwas leichter ertragen kann.
Ich glaube nicht, daß es mir gelingt, Menschen langfristig zu politisieren. Aber ich genieße diese Rückmeldung sehr. Ich bin ein Mensch, der viel Kontakt nachzuholen hat. Ich bin nie in irgendeiner Clique gewesen. Da macht es mich schon froh, daß manche Leute glauben, mit mir zusammen einen Abend lang Spaß haben zu können. Das will ich ihnen auch nicht kaputtmachen.“
ME/SOUNDS: Und dir ist dieser Zirkus nicht peinlich ?
KUNZE: „Er ist mir genauso peinlich, wie er Dieter Hildebrand peinlich sein muß — jedem Kabarettisten.“
ME/SOUNDS: Müssen denn Plattheiten sein wie die Anbiederung, mit der du in Bremen deine S4er-Tour eröffnet hast: „Vor kurzem haben die Amerikaner Ronald Reagan wiedergewählt. Heute habt ihr mich gewählt. Es ist schön, in Bremen zu sein“?
KUNZE: „Das Zitat stimmt. Aber ich hab ja eine entsprechende Geste dazu gemacht“ (steht auf und demonstriert ironische Publikums-Umarmung).
ME/SOUNDS: Und wenn ein durchaus aufgeräumtes Publikum Außenseiler-Phrasen beklatscht wie „Ich bin der letzte Dreck in einer aufgeräumten Well“ — wo bleibt denn da noch der prinzipielle Unterschied zu Herrn Danzer?
KUNZE: „Es ist zumindest besser formuliert. Außerdem kommt für Menschen, die zuhören können, die nötige Aufrauhung hinterher: ,ein INTERVIEW
tanzverdrossener deutscher Teilzeit-Held‘. Das soll mir erst mal einer nachschreiben.“
ME/SOUNDS: In der „Bestandsaufnahme“, mit der du beim Festival der Phonoakademie bekanntgeworden bist, mokierst du dich darüber, daß man heutzutage „isoliert auf der Dauerdame schwitzt“. Das klingt reichlich menschenverächtlich.
KUNZE: „Aber das ist doch sehr wahrhaftig, oder nicht? Das Lied stimmt doch einfach. Die Art und Weise, wie sich viele Leute die Polygamie abschminken und die Argumente, die sie sich dafür zurechtlegen — das hat doch etwas von dieser Zeile. Ich denke doch, daß die Formulierung an einen ganz miserablen elenden Grundkonsens vieler Beziehungen rührt.“
ME/SOUNDS: Und wie steht’s dann mit dem „Heimwollen“, für das es laut „Dein ist mein ganzes Herz“ nie zu spät ist?
KUNZE: „Das ist die sentimentale Kehrseite von dem, der das andere gesagt hat, die jeder doch hoffentlich auch in sich hat. Das ist ein ewiges Hin und Her. Insofern komme ich übrigens schon vor in meinen Texten. Peinlich finde ich nur, wenn ein Lied ganz unverhohlen zum Austragungsort der privaten Probleme wird.“
ME/SOUNDS: Paßt deine Frau auf, daß du trotz Erfolg und Karriere nicht abhebst ?
KUNZE: „Sehr stark sogar. Wir kommen beide aus klein- oder mittelbürgerlichen Verhältnissen, wurden eher dazu erzogen, nicht auf die Kacke zu hauen. Sie sieht es schon mit Befremden, wenn ich zum Beispiel von einer Tournee komme, wo man nun mal eben von Kopf bis Fuß umsorgt wird, und wenn folglich ein gewisses selbstherrliches Verhalten einreißt und man sich wundert, daß das Frühstück nicht gebracht wird.“
ME/SOUNDS: Vater bist du letztes Jahr auch noch geworden. Wie sieht deine Freizeit aus ?
KUNZE: „Meine Familie steht vornan. Und sonst versuch ich, die privaten Kontakte aufrechtzuerhalten zu meinem Vorleben.“
ME/SOUNDS: Gibt es da hohe Barrieren ?
KUNZE: „Es hört sich fürchterlich arrogant an. aber es ist zum Beispiel schon ärgerlich, wenn du von einer Tour kommst und du hast genug Geld und sagst zu einem Freund: ‚Laß uns mal Essen gehen‘ — wenn der sich dann zurückzieht, weil er nicht bezahlen kann und nicht schon wieder eingeladen werden möchte. Das ist ein ganz bitterer Punkt, da mußt du einen ganzen Abend daran arbeiten, bis du das wieder vergessen machen kannst.“
ME/SOUNDS: Viel sieht dein Sohn wohl nicht von dir.
KUNZE: „Ich bin nur ein Viertel des Jahres zu Hause. Noch spielt meine Familie auch mit. Sie weiß, daß ich so, wie ich jetzt lebe, für sie wohl noch am erträglichsten bin. Aber die räumliche Situation ist schon dumm. Vieles wäre einfacher, wenn ich nicht in Osnabrück, sondern in Hamburg wohnen würde.“
ME/SOUNDS: Was bedeutet dir denn Osnabrück?
KUNZE: „Wenig, mittlerweile. Ich hab da ziemlich zufällig lange Zeit meines Lebens verbracht, weil ich irgendwie den Absprung nicht geschafft habe.“
ME/SOUNDS: Was wäre denn aus dir geworden, wenn du nicht 1980 erfolgreich auf dem „Deutschen Pop-Nachwuchs-Festival“ in Würzburg gelandet wärst?
KUNZE: „Studienrat in Hannover — an der Käthe-Kollwitz-Schule (lacht).“
ME/SOUNDS: Zum Auf-die-Kacke-hauen bist du nicht erzogen worden. Was hat denn dein Leben mit „Sex & Drugs &Rock ’n’Roll“ zu tun ?
KUNZE: „Ich bin kein sonderlich exzessiver Mensch.“
ME/SOUNDS: Aber wollen die Leute nicht auf der Bühne ihr Bild vom wilden Rock ’n Roller bestätigt finden?
KUNZE: „Wie sollte ich das bringen — mit meinem Äußeren? Ich denke, daß die gewisse Verknautschtheit, die ich nun mal habe, vielen Leuten auch einleuchtet im Sinne von ,Na, da könnte ich ja fast stehen‘.“
ME/SOUNDS: Auf den Covern deiner LPs siehst du zumindest von Mal zu Mal lustvoller aus.
KUNZE: „Für die neue LP bin ich einen Tag lang von mehreren Hilfskräften gestylt worden. Aber es war ein großer Spaß. Und ich denke, daß dieses Signal — Rock „n“ Roll-Outfit und dann dieser Pete-Townshend-Sprung — daß es hinweisen soll auf meine Hoffnung: ,Es gibt noch sowas wie Rockmusik‘.“
ME/SOUNDS: Wer hatte die Idee mit dem Sprung?
KUNZE: „Der Fotograf. Wir haben verschiedene Sachen durchprobiert — auch ehrgeizige mit Schäferhunden und treuen Blicken. Das wurde alles gekippt. Der Fotograf wurde schließlich unruhig und sagte: .Irgend etwas fehlt mir noch‘.“
ME/SOUNDS: Das „Ilse, war denn alles umsonst?“-Foto auf dem Innencover mit dem klaren Verweis auf die 50er Jahre war schon im Kasten ?
KUNZE: „Ja, die Statisten waren längst gegangen. Es war —- kitschig gesagt -— das letzte Motiv spät am Abend. Und das schien dann endlich anzudeuten, wohin die Reise geht.“
ME/SOUNDS: Wie sehen deine Pläne für die nächste Zeit aus?
KUNZE: „Im Frühjahr erscheint ein zweites Buch von mir, das im Grunde das erste weiterführt und das wieder ein Sammelsurium sein wird aus Liedtexten, Sprechtexten für die Konzerte und Sachen, die nie geäußert wurden. Also wieder ein ‚Sudelbuch‘. Außerdem ist jetzt schon klar, daß die nächste Platte die mit DEIN IST MEIN GANZES HERZ eingeschlagene Richtung noch verschärfen und vertiefen wird. Ein abrupter Wechsel zu irischer Dudelsackmusik ist nicht zu erwarten; es wird so heftig weitergehen.“
ME/SOUNDS: Kunze in der ZDF-Hitparade?
KUNZE: „Ich konnte mir die ZDF-Hitparade nicht vorstellen, solange eine Negativfigur wie Heck sie besetzt hielt. Aber der Worms ist ein netter Mann.“
ME/SOUNDS: Mit wem würdest du gern mal ins Studio gehen?
KUNZE: „Mit Holger Czukay – aber der möchte nichts mit mir machen.“
ME/SOUNDS: Und international?
KUNZE: „Also für einen Gitarrenakkord von Pete Townshend würde ich lange Zeit auf Gage verzichten. Und stilistisch wäre das durchaus denkbar.“
ME/SOUNDS: Hast du als Musiker ein Traumziel?
KUNZE: „Ja — und ich sage das jetzt sehr bewußt. Das führt weit weg von allen inhaltlichen und textlichen Ansprüchen: Traumziel wäre für mich, im deutschen Raum für das Gemüt und das Bewußtsein der Menschen das werden zu können, was Elton John für die Welt ist. Diese Hoffnung zumindest nicht ganz aufgeben zu müssen — und nicht befürchten zu müssen, daß Udo Jürgens das längst ist.“
ME/SOUNDS: Das Pathos deiner Stimme klingt bei manchen Balladen — zum Beispiel „Brennende Hände“ — durchaus nach Udo Jürgens…
KUNZE: „Also wenn du gesagt hättest, daß dir .Du wirst kleiner, wenn Du weinst‘ maffayesk vorkommt, hätte ich mich wahrscheinlich nicht gewehrt. Aber Udo — das ist wirklich kurios…“