HEAVEN 17
Erstes Bild auf der Fahrt zum Himmel (Tor Nr. 17): Das Gesangs-Trio Glenn Gregory, Ian Craig Marsh und Martyn Ware, eine Art Pointer Brothers, singen live zu vorproduzierten Bändern auf der Bühne des Studio 54, jener Discothek in New York City, Amerika: „Democrats are out of power, Across that great wide ocean, Reagan’s president elect, Fascist god in motion, Generals tell him what to do, Stop your good time dancing …“ („We Don’t Need This Fascist Groove Thang“, Heaven 17).
Ian Craig Marsh: junger, etwas schüchterner Mann, trägt weite Anzüge, Inhaber/Anführer der Produktionsfirma British Electric Foundation (B.E.F.), und ebenfalls Synthesizer-Programmierer der Gruppe Heaven 17. Er sagt zu dem Song „Fascist Groove Thang“:“ Wir saßen vor dem TV-Gerät und verfolgten die Präsidentschaftswahlen in Amerika. Nachdem Reagan als Sieger feststand, waren wir ziemlich aufgebracht. Und in dieser Atmosphäre schrieben wir dann das Stück. Letzte Woche spielten wir es im Studio 54, und die Leute fanden es sehr gut. In Amerika haben wir wirklich gute Kritiken bekommen.“
„In den amerikanischen Billboard-Disco-Charts kam der Song bis auf Platz 27. In Amerika ist „Groove Thang“ ein sehr großer Disco-Hit, „sagt der zweite Geschäftsmann und Inhaber der B.E.F. Gesellschaft Martyn Ware; ebenfalls Synthesizer-Computer-Programmierer bei Heaven 17, trägt weiße Hemden und dazu, was ihm gefallt, raucht vereinzelt lange dünne Zigarillos, ist sehr selbstbewußt.
Fazit der „Fascist Groove Thang“ -Erfahrungen in Amerika: Versammelt sich die Protest-Bewegung heute in den Discotheken? Äußert/artikuliert sie sich durch Beinbewegung auf dem Tanzboden (der Imagination)? Also Lust?
„Die allgemeine Mitteilsamkeit einer Lust führt es schon in ihrem Begriffe mit sich, daß diese nicht eine Lust des Genusses, aus bloßer Empfindung, sondern der Reflexion sein müsse; und so ist ästhetische Kunst, als schöne Kunst, eine solche, die die reflektierende Urteilskraft und nicht die Sinnenempfindung zum Richtmaße hat.“ Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft.
Ich treffe auf die Lust und Geschäftswelt B.E.F./Heaven 17 in dem Studio The Garden, hinter einer schwarzen Tür, im Basement. Das Studio gehört John Foxx. Es liegt im Ost-Teil Londons. Und hier entsteht gerade das nächste Projekt/Album der British Electric Foundation: MUSIC OF QUALITY AND DISTINCTION.
Martyn Ware sitzt an einem Computer mit Bildschirm, auf dem die jeweils einprogrammierten Vorgänge visualisiert werden. Dieses Gerät ist das Herz des elektronischen/synthetischen Rhythmus-plus-Melodie-Sounds, der auf den Platten der B.E.F./ Heaven 17 zu hören ist. Der Name: Linn-Drum-Computer. Eine Maschine, die ohne Schweißausbrüche eine Funk-Soul-Beat-Synthetik hinlegt, die beim Hörer/ Empfänger nasse Beine hervorrufen kann.
Martyn demonstriert mir dies, indem er den phantastischen Motown-Klassiker der Temptations „Ball Of Confusion“ (1970) als elektronische Version der B.E.F. vorspielt. „Ball Of Confusion“: ein Leckerbissen für die Linn-Drums! Für die Ohren! Noch ist das Stück ohne Gesang, existiert als reine Instrumental-Version. Martyn: “ Wir wissen noch nicht, wer das Stück singen wird. Entweder Geno Washington, oder der britische Soul-Sänger Billy Ocean. Ich werde Billy sagen: Wir zahlen dir doppelt so viel, wie andere, wenn du deinen Namen veränderst in Billy Europe!“
Die Idee hinter MUSIC OF QUALITY AND DISTTNCTION:
„Wir haben viele unserer Lieblingsstücke aus den 60ern und 70ern elektronisch aufgenommen, gespielt und lassen sie von berühmten Sängern singen. Wirklich gute Sänger, die heute nicht gerade auf dem Höhepunkt ihrer Karriere stehen, vielleicht weil sie nicht mehr beliebt sind.“
Bereits aufgenommen wurde „Be My Baby“ von den Ronettes mit Sandie Shaw als Sängerin. Und: „Are Everything“ von Pete Shelly (ex-Buzzcock), gesungen von Glenn Gregory, dem Sänger der Heaven 17.
Und: John Foxx soll den Schmalz-Hit „It’s Over“ von Roy Orbison singen. Martyn Ware spielt ihm das Original vom Band vor, und Foxx versucht, mit akustischer Gitarre, die Orbison-Töne dieser Ballade zu treffen, mit seiner Stimme.
Zurück zum Geschäft. Zu B.E.F., der Produktionsfirma: Ian Craig Marsh: „Nach der Trennung von Human League haben Martyn und ich entschieden, daß wir in Zukunft nicht mehr Teil einer konventionellen Gruppenaufstellung sein wollten. Also unterzeichneten wir einen Vertrag mit Virgin Records als eine Produktionsfirma. Wir, das sind: Martyn, ich, und Bob Last, der unser Rechtsberater ist, eine Art Unterhändler in Sachen Betrug.“ (Anmerkung: Bob Last war der Manager der Human League, als Ware und Marsh noch bei der Gruppe waren. Last ist auch Manager der heutigen Human League.) „Wir liefern der Plattenfirma fertige Produkte ab, und wir, die B.E.F., machen Verträge mit verschiedenen Künstlern. Wir existieren unabhängig von der Plattenfirma, niemand kann uns Vorschriften machen. Heaven 17 ist unser erstes großes Projekt.“
Das erste B.E.F.-Projekt war eine Cassette mit Instrumentalmusik, die exklusiv für die Walkmänner produziert wurde und in einer Auflage von 10000 Stück Anfang ’81 bei Virgin erschien. Titel: MUSIC FOR STOW-AWAYS. Marsh und Ware an ihren Synthesizern. Mit einer Instrumental-Version von „Groove Thang“. Noch erscheinen soll das Projekt THE FUTURE TAPES mit frühen Aufnahmen von Marsh + Ware, ehe sie die Human League gründeten.
Bereits erschienen ist das B.E.F.-Projekt der Gruppe Hot Gossip, einer Tanzgruppe, die Cover-Versionen von Human League – und Heaven 17-Stücken singen. Ware und Marsh liefern dazu den Synthetik-Instrumental-Sound. Titel dieses mäßigen/langweiligen Disco-Albums: GEISHA BOYS AND TEMPLE GIRLS. Martyn: „Trotz der schrecklichen Kritiken, die Hot Gossip bekommen haben, glaube ich, daß die meisten Stücke ganz gut sind.“ Ian: „Wir können der Plattenfirma all das geben, was wir wollen.“ Die Hot Gossip LP erschien auf dem Label Din-Disc.
Wem bisher unklar ist, was diese beiden eifrigen jungen Männer eigentlich wollen, dem erklärt Martyn Ware nun: „Es ist sehr schwer, den Leuten zu erklären, was Heaven 17 ist. Sie können sich nicht von dem Gedanken trennen, daß eine Gruppe eine Gruppe ist. Und daß B.E.F. nur ein Teil von Heaven 17 ist. Das stimmt überhaupt nicht. Wenn wir mehr Produkte herausbringen, dann wird es viel klarer werden, was wir eigentlich machen. Dann wird die Identität der B.E.F. deutlich werden, und die Leute werden erkennen, daß Heaven 17 nicht eine ganz normale Gruppe ist. Denn Heaven 17 ist nichts als die B.E.F. mit dem Sänger Glenn Gregory!“
Das mobile Einsatz-Duo B.E.F. hat auch eine eigene Strategie entworfen, um ihre Produkte/ Platten/Cassetten zu promoten: Martyn: “ Wir treten in Discotheken auf. Wenn wir in normalen Konzerthallen zu den ablaufenden Bändern singen würden, wären die Leute enttäuscht, die ein normales Konzert erwarten. Außerdem verlangen wir bei unseren Auftritten von den Veranstaltern keine großen Geldsummen. Wir versuchen nur unsere Ausgaben für die Unkosten reinzukriegen, ansonsten sehen wir das Ganze als reine Werbeübung für unser Produkt. Und außerdem macht das viel mehr Spaß, wenn du keine Schwierigkeiten hast mit riesigen Anlagen, die man rumtransportieren muß. Wir sind sehr mobil. Wenn wir ein Angebot für einen Auftritt in Australien bekommen würden, können wir sofort losfliegen. Wir brauchen nur das Band mit der Musik in die Tasche zu packen. Nur für Amerika müssen wir uns was anderes überlegen, da müssen wir uns eine konventionelle Tournee überlegen, um das Heaven 17-Album PENTHOUSE AND PAVEMENT zu promoten. Wir werden Glenn mit einigen angeworbenen Session-Musikern rausschicken, um diese Gruppen-Identität zu unterstellen, während Ian und ich hier in England weiterarbeiten.“
Martyn und Ian, die B.E.F., wollten ihre letzte Werbetour durch Englands Discos von der Getränkefirma Ricard finanzieren lassen. Martyn: „Es gab vier Firmen, die Interesse daran zeigten. Doch weil die Planung für die Firmen zu kurzfristig war, sie mußten erst durch diesen ganzen Verwaltungsapparat gehen, um eine Genehmigung zu kriegen, hat es diesmal nicht geklappt. Auf alle Fälle aber beim nächsten Mal. Wir werden Ricard-T-Shirts tragen und Schirmmützen mit dem Ricard-Aufdruck. Außerdem können wir dann freie Getränke an alle verteilen. Eine großartige Party! Und wenn die Tournee-Ausgaben von der Firma gedeckt werden, können wir mehr Geld für mehr Unterhaltung ausgeben.“
Marsh und Ware bekommen heute auch einen Anteil von den Verkaufseinnahmen des letzten Human League Albums DARE, obwohl sie nicht mehr bei der Gruppe sind. Martyn:“ Bei der Trennung haben wir ihnen den Gruppennamen gelassen und einen Vertrag gemacht, daß wir von diesem dritten Human League Album jeder noch Anteile kriegen. „DÄRE verkauft sich gut in England.
An einer Wand des Studios hängt ein Poster der Gruppe Spandau Ballett, aus der Zeitung „New Sounds New Styles“. Die Musiker sehen pathetisch nackt in die Kamera, nur ein Stoffwickel bedeckt die Lenden. Martyn: „Unnützes Image! Die britische Musik-Szene ist mehr und mehr modeorientiert. Gerade deshalb attackieren wir sie, indem wir die Idee der Produktionsfirma benutzen. Wir können beliebig neue Gruppen formen, erfinden, wenn wir glauben, daß für ein entsprechendes Image Aussicht auf Erfolg besteht. Es hat doch keinen Sinn, wenn man an einem Image festhält, das schon längst überholt ist, nur weil das Image eine Gruppe ist!“
Die Perspektive: Ian Marsh und Martyn Ware sind zwei clevere Innovatoren, die wissen, wie man die Mechanismen des Musik-Marktes für sich benutzt. Sie produzieren populäre Musik ein intelligenter Funk-Soul-Tanz-Beat – mit wichtigen Aussagen (z.B. „We Don’t Need This Fascist Groove thang“) und viel Zynismus (z.B. die letzte Heaven 17 Single „I’m Your Money“) Wenn sie so dastehn und zu ihrer Firmenhymne I’m Your Money“ tanzen/singen, dann läßt man sich schon mal das Geld aus der Tasche holen. Für intelligente Unterhaltung. Noch eins: Ich habe nie getanzt. Und ich werde es auch nie.
H. in Hülsen