Harry Belafonte: Die unendliche Geschichte


Vor fast 50 Jahren beschloss Harry Belafonte, die Geschichte der schwarzen Musik zu dokumentieren. Was er nicht ahnte: Jetzt erst würde er das Projekt vollenden können. Das Protokoll einer Mission.

Es war bizarr!“ Der Mann am anderen Ende der Telefonleitung lacht lauthals. „Die beiden haben all die Jahre zusammen Musik gemacht, aber sie hassten sich, redeten keinen Ton miteinander!“ Harry Belafonte, inzwischen würdige 75 Jahre alt, amüsiert sich wie ein kleiner Junge, als er von der Begegnung mit dem legendären Blues-Duo Sonny Terry & Brownie McGhee erzählt. „‚Sie waren eifersüchtig aufeinander, stritten um dieselbe Frau oder das beste Hotelzimmer. Im Restaurant kriegtest du zum Beispiel von Sonny zu hören: ‚Sag diesem Brownie, er soll mir die Butter reichen‘, und Brownie antwortete dir dann: ‚Sag diesem Sonny, wenn er Butter will, soll er sie selber holen.'“ Ah Harry Belafonte die beiden 1961 trifft, gehen sie schon auf die 50 zu und gelten als authentische Vertreter des originären schwarzen Folkblues. Belafonte braucht die zwei Streithähne für das ambitionierteste Projekt seiner Laufbahn, eine Anthologie schwarzer Musik von den An fangen in Westafrika lange vor der Sklaverei bis zum Vorabend des Jazz und Blues im Süden der USA Ende des 19. Jahrhunderts. Belafonte hat sich in den Kopf gesetzt, diese kaum dokumentierte, nur vage überlieferte und längst vergessene Kulturgeschichte nachzuzeichnen. So will er seinen unterprivilegierten schwarzen Mitbürgern einen bedeutenden Teil ihrer Geschichte und damit ihrer Identität vermitteln.

Die Idee zu diesem Unterfangen kam dem damals noch unbekannten Sänger 1954: „Ein interessantes Jahr. Bis dahin war die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten völlig legal. 1954 aber gab es erstmals ein Urteil des höchsten Bundesgerichts, das die Rassentrennung für ungesetzlich erklärte – eines der folgenschwersten Urteile der US-Geschichte und im Grunde die Initialzündung für das Civil Rights Movement.“

Belafonte, Sohn einer Jamaikanerin und eines Schiffskochs aus Martinique, verbrachte als Junge fünf Jahre auf Jamaika, bevor er nach New York zurückkehrte, wo er in Harlem aufwuchs. Nach seinem Armeedienst besuchte er die School Of Social Research, im dortigen Dramatic Workshop begegnete er späteren Weltstars wie Marion Brando, Walter Matthau, Rod Steiger und Tony Curtis. Eine Sängerkarriere hatte der schon früh an soziokulturellen Fragen interessierte Belafonte dabei zunächst gar nicht im Visier. Erst als er in die intellektuellen Bebop-Zirkel um Dizzy Gillespie, Miled Davis und Thelonius Monk geraten war, entdeckte er sein Talent. 1954 dann schloss der 27-Jährige, inzwischen ein profilierter Sänger, einen Vertrag mit RCA Victor ab, wo Labelchef George Marek zu seinem großen Förderer wurde. Er ermutigte Belafonte zum großen Coup: Gegen den Rat vermeintlicher Marktkenner nahm der Youngster 1956 eine Platte mit ausschließlich karibischer Folklore auf: „Calypso“ wurde zum ersten Album der Popgeschichte, das mehr als eine Million Exemplare verkaufte. Und Belafonte wurde als „Mr. Calypso“ zum Weltstar, startete überdies auch eine veritable Kinokarriere.

Dabei trieb jenen „Mr. Calypso“ da längst schon die Idee der Anthology um. Labelchef Marek, selbst jüdischer Flüchtling aus Hitlers Europa, begeisterte sich auf Anhieb für das kulturhistorische Projekt und stellte die finanziellen Mittel für zeitaufwendige Recherchen zur Verfügung. Belafonte hegt noch heute große Bewunderung für seinen ehemaligen Chef: „George Marek war ein sehr ungewöhnlicher Mann, der sofort erkannte, wie wichtig dieses Projekt war, und wusste, dass eine Plattenfirma auch eine kulturelle Verantwortung trägt.“

Die erste Aufnahme sollte indes nicht vor 1961 stattfinden, die Jahre davor verbrachte Belafonte mit Forschungen: „Ethnologen halfen uns herauszufinden, welche Lieder im 17. Jahrhundert, noch bevor die ersten Sklavenfänger auftauchten,in Afrika gesungen wurden. Wir sind dann auch selbst in Afrika gewesen und haben Nachforschungen angestellt.“ Eine weitere wichtige Quelle war die Library Of Congress in Washington D.C., wo Zeugnisse aus der Vergangenheit der USA aufbewahrt sind. Belafonte selbst bereiste die Südstaaten und sprach mit Alten, deren Erinnerungen noch tief ins 19. Jahrhundert zurück reichten.

Und dann waren da noch die Georgia Sea Islands, etwa 100 Seemeilen vor der Küste Georgias gelegen. Belafonte: „Dorthin flüchteten die Sklaven vom Festland. Sie hatten keine Ahnung vom Navigieren, und viele glaubten, sie seien wiederZuhause in Afrika. Die dortigen Gemeinden haben sich relativ ungestört von der westlichen Zivilisation entwickeln können. Dort ist noch sehr viel von der ursprünglichen Musik erhalten geblieben.“ Außerdem erwiesen sich die Aufnahmen, die auf Veranlassung von US-Präsident Roosevelt schon in den 30er Jahren von ursprünglichen Formen amerikanischer Folkmusik gemacht wurden, als sehr hilfreich bei den Recherchen. Mit dem schwarzen Arrangeur und Musikwissenschaftler Leonard de Paur entwickelte Belafonte eine Art Masterplan für „The Long Road To Freedom“. Nicht ohne hitzige Diskussionen, etwa um die Frage, wie authentisch man das überlieferte Material produzieren sollte. Belafonte: „Wie definiert man Authentizität? Wie definiert man Kunst? Der erste Song der Menschheit ging wohl so: ‚Ug-uga, ug-uga, ug-uga’vielleicht mit einem primitiven Rhythmus unterlegt. Von da aus hat sich alles Weitere entwickelt jede Generation hat etwas Neues hinzugefügt. So gesehen ist jede Authentizität illusorisch. Wir wollten zwar das Material, vor allem die Lyrik, so ursprünglich wie möglich belassen, gleichzeitig erlaubten wir uns aber die künstlerische Freiheit, es für den zeitgenössischen Hörer attraktiv zu gestalten.“

Die ursprüngliche Idee war es, die Aufnahmen vor Ort zu machen, etwa auf den Georgia Sea Islands und auch in Westafrika. Was sich jedoch schnell als undurchführbar erwies: „Die Technik steckte damals in den Kinderschuhen. Man hatte noch keine Generatoren, die gleichmäßigen Strom liefern konnten. Tonband und Stereo waren gerade erst erfunden.“ Also entschied man, die Künstler nach New York zu holen, wo die Sessions in der Webster Hall und in den RC A-Studios („mit Elvis direkt nebenan!“) stattfanden. Das wiederum brachte neue Probleme mit sich: „Viele der Musiker von den Georgia Sea Islands weigerten sich, in ein Flugzeug zu steigen.“ So kam Bessie Jones, deren Vokalbeiträge zu den prägnantesten gehören, per Schiff und Zug nach New York. De Paur und Belafonte scheuten keinen Aufwand, für einige Aufnahmen flogen sie gar Chöre aus Nigeria und Ghana ein. Weiter waren bei den Session so profilierte Künstler wie Joe Williams, Valentine Pringle und Leon Bibb zugegen. Auch Belafonte selbst stand gelegentlich hinterm Mikrophon.

Die Arbeit an „The Long Road To Freedom“ zog sich hin, dauerte letztlich volle zehn Jahre. Als das auf fünf Vinyl-LPs konzipierte Projekt 1971 endlich im Kasten war, wollte RCA es nicht mehr veröffentlichen. Die Hintergründe waren, wie so oft in dieser Branche, rein betriebswirtschaftlicher Natur: Um das Projekt finanziell abzusichern, wollte sich George Marek einer Kooperation mit der Zeitschrift „Reader’s Digest“ bedienen, die darauf abzielte, bei speziellen Veröffentlichungen über das bildungsbürgerliche Kulturmagazin und dessen Mailorder-Service ein entsprechendes Publikum zu erreichen. Eigentlich ein für Belafontes Anthologie perfektes Arrangement. Der Schönheitsfehler: 1971 war die Kooperation längst beendet. RCA schlug vor, etwa die Gospel- oder Blues-Songs, in gesonderten Zusammenstellungen zu veröffentlichen. Was Belafonte und Marek, inzwischen nicht mehr RCA-Chef, jedoch ablehnten. Sie wollten ihr Werk nicht zerstückelt sehen. So verschwanden die Aufnahmen lautlos in den RCA-Archiven.

Und dort tauchten sie erst im September 1998 wieder auf, als BMG-Mitarbeiter die alten RCA-Bestände durchforsteten. Zunächst wusste niemand, was es mit den obskuren Bändern auf sich hatte. Erst über einen ehemaligen RCA-Mitarbeiter kam eine Verbindung zu Belafonte zustande, der sich sofort persönlich um die fast schon aufgegebene Vollendung seines Projektes kümmerte. Ursprünglich sollte die aufwändig editierte Anthology am 11. September 2001 erscheinen, man verschob die Veröffentlichung jedoch um einige Monate. Und Belafonte, immer noch von heiligem Zorn gegen das allgegenwärtige Diktat des Kommerzes erfüllt, ist heute stolz, die Fackel weitergereicht zu haben: „Ich war neulich zu Gast bei einer internationalen HipHop Convention, deren Anliegen es ist, HipHop aus seinem Kommerz-Ghetto zu befreien und zu einer sozialrelevanten Kultur zu entwickeln. Diese Leute waren total fasziniert von der Anthology. Sie spürten, dass dies auch ihre Geschichte ist.“ Und noch etwas: „Kunst muss eine Botschaft haben, andernfalls brauchen wir sie nicht.“

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