H. R. Kunze liefert das radikalste Album seiner Karriere ab
Heinz Rudolf Kunze hat schon immer eher wie ein Sparkassendirektor ausgesehen, niemals wie ein wüster Rocker. Kunze war eher der nachdenkliche Grübler und niemals das vulgäre Großmaul — woraus der 39jährige aus Osnabrück auch nie ein Hehl gemacht hat. Und trotzdem schlug in dem studierten Germanisten stets ein großes, wildes Herz. In ihm tobt die verwegene Unrast des leidenschaftlichen Fans, dem seine umfangreiche Schallplattensammlung über alles geht. Und irgendwann beschließt der Fan, zu dieser Kollektion seine eigenen Scheiben zu stellen. Bis er eines Tages an den Punkt kommt, an dem die eigene Arbeit der seiner Idole ebenbürtig ist. Kunze ist jetzt an diesem Punkt angelangt. Soeben ist sein 13. Studio-Album ‚Richter-Skala‘ auf den Markt gekommen. Und in der Tat besitzt es die musikalische Schärfe seiner Vorbilder — die da heißen: Who, Led Zeppelin, Neil Young, Wire und viele andere mehr. Nur die Creme aus 30 Jahren Musikhistorie. „Natürlich“, bekennt Kunze ohne zu zögern, „klingt mein Sound nicht neu. Aber ich liebe nun mal klassischen anglo-amerikanischen Rock, ich bin damit großgeworden, er ist meine Passion. Und immerhin versuche ich stets, diese eigentlich anachronistische Mucke in einen aktuellen Kontext zu stellen.“ Das gelingt Kunze vor allem mit seinen Texten, die an Intellekt und auch an Einfühlungsvermögen in Deutschland ihresgleichen suchen. Kunze verzerrt die Realität bis zur unkenntlichen Fratze, damit wir sie umso brutaler und deutlicher erkennen können. „So wie der Clown“, fügt er an, „der sich grell schminkt und viel zu laut lacht, damit wir uns umso intensiver mit der Melancholie des Daseins auseinandersetzen.“ Kunzes Texte haben stets Haken und Ösen und doppelte Böden, das macht sie so radikal kompliziert — „und sie haben stets was mit der Gegenwart zu tun, denn das ist für mich auch Rock’n’Roll“, sagt er. „Diese Musik ist da, um das Jetzt zu reflektieren und es den Leuten um die Ohren zu hauen.“ Geholfen haben dem rockenden Germanisten bei den Aufnahmen seiner bislang besten Platte, außer einem Mitstreiter von der alten Band, völlig neue Musiker, und „diese Frischzellenkur trug dazu bei, daß ich so eine radikale Platte eingespielt habe. Ich war wild nach frischem Blut. Heute stehe ich wieder am Anfang.“