Green Day: Was kann nach American Idiot noch kommen?
Im April hat Billie Joe Armstrong endlich zugegeben, dass er, Tré Cool und Mike Dirnt hinter dem Internet-Rock-Phänomen Foxboro Hot Tubs stecken. Offenbar bereiten sich Green Day schön langsam auf ihr großes Comeback vor - höchste Zeit, die Frage zu stellen, die alle Fans beschäftigt: Was kann nach American Idiot noch kommen?
Foxboro Hot Tubs war lange nur ein Name ohne Bedeutung. Die zugehörige MySpace-Seite, die am 6. Oktober 2007 eingerichtet worden war, verstaubte in einer wenig frequentierten Ecke des Internets. Nicht mehr als eine Handvoll Leute hatte sich adden lassen, zufällig gestrandete „Freunde“, angespült wie Social-Networking-Müll. Das änderte sich am 8. Dezember – ab diesem Tag wurde die Seite plötzlich überrannt. Die völlig unbekannten Hot Tubs hatten eine EP mit sechs Songs zum kostenlosen Download bereitgestellt: STOP DROP AND ROLL!!! war ein Retro-Mix aus frühem Iggy, frühen Kinks, frühen Smiths und langen Nächten. Und dann marschierten die Blogger ein. Bis hierher: business as usual. Nur irgendwie schien dieses ach so beiläufig zusammengewürfelte Paket aus Achtspur-Rock, das über die offizielle Website foxborohottubs.com verschenkt wurde, ein klein wenig zu perfekt geschnürt. STOP DROP AND ROLL!!! war zu fertig, zu stimmig, zu durchdacht, um einfach so aus dem Cyberspace gefallen zu sein. Es war, wie es ein Schreiber formulierte, „ziemlich gehaltvolles Zeug. Manchmal klingt der Sänger wie Billie Joe Armstrong, aber dann bewegt er sich in ein anderes Register, was mich doch überzeugt, dass er das nicht sein kann.“ Es gab auch aufmerksamere Beobachter: „Hörst du diese Snaredrum-Fills? Das klingt total nach Tré Cool.“
Bald häuften Sich die Hinweise: Die angebliche Plattenfirma der Band nannte sich „Jingletown“ – so heißt die Heimatstadt von St. Jimmy, dem Antihelden aus AMERICAN IDIOT („We’re back in Barrio/But to you and me/That’s Jingletown“, wie es in „Homecoming“ heißt). Und dann ist „Jingle Town“ auch die Bezeichnung, die die Locals für Oakland benutzen – was wiederum die Ecke von Kalifornien ist, in der Green Day zu Hause sind. Damit nicht genug: Das Riff aus „Ruby Room“ war fast identisch mit dem aus Green Days „Hitchin‘ A Ride“. Der Anfang von „She’s A Celebrity“ erinnerte an „Right Hand-A-Rama“ von dem inoffiziellen Green-Day-Nebenprojekt The Network. Und auf der Rückseite des stop drop and roll!!!-Covers war ein Logo mit einem Ziegenkopf und einem Martini-Glas abgebildet, das mit dem CHURCH OF LUSHOTOLOGY-Symbol auf der Website von The Network identisch war.
Je länger man sich mit diesem Puzzle befasste, desto mehr passende Teile tauchten auf: Foxboro zum Beispiel war der Name einer Wohnanlage, in deren Nähe Billie Joe und Bassist Mike Dirnt als Teenager lebten. Die beiden schlichen sich oft ein, um die dortigen Hot Tubs, die Whirlpools, zu benutzen. In der Zwischenzeit prügelte das US-Radio die zu dieser Zeit noch gesichtslosen, unkontaktierbaren Hot Tubs in den Mainstream. „Mother Mary“ wurde schnell zum meistgewünschten Song bei dem einflussreichen Sender KROQ – allein durch Radioeinsätze kletterte der Song bis auf Platz 16 der Billboard Modern Rock Charts. Die Songs verschwanden später von der offiziellen Homepage. Ein Link führte nun zur MySpace-Seite, obwohl auf der in bester Großkonzern-Manier nur noch 30-Sekunden-Ausschnitte zu hören waren. Am 25. März 2008 tauchten als „Side B“ sechs neue Songs auf der offiziellen Seite auf, die für je 99 Cent verkauft wurden. Aus einer EP war ein Album geworden, bei dessen Veröffentlichung man sich bei allem Retro-Gehabe doch recht listig einer Variante der Radiohead-Taktik bediente: Sechs Songs gibt’s umsonst, sechs aber müssen bezahlt werden – vielen herzlichen Dank. Bald wurde bekannt, dass am 10. Mai noch eine Vinyl-Version erscheinen würde: Vermutlich wollte man noch tiefer in die Taschen der Hardcore-Fans greifen. Was kommt als nächstes? Die „Special Edition“-CD-Box?
Am 10. Mai schließlich wurde das schlechtest gehütete Geheimnis der Welt in einer E-Mail an MTV verraten. „Wir glauben, dass die einzige Gemeinsamkeit [zwischen den Hot Tubs und Green Day] darin besteht, dass wir die gleiche Band sind“, schrieb Billie Joe Armstrong. „Wir sind Jason White, Jason Freese, Michael Pritchard, Frank Edwin Wright the Third und Reverend Strychnine Twitch. Wir sind vier Typen, die gerne Musik machen und spontan sind. Nach ein paar nächtlichen Jam-Sessions und einigen Flaschen Wein zu viel fühlten wir uns inspiriert und machten ein paar rockende Achtspur-Aufnahmen.“ Hisst die Flaggen, Green Day sind wieder da! Nun, also, mehr oder weniger … Nochmal zu den oben in der E-Mail genannten Namen: Der bürgerliche Name von Green-Day-Bassist Mike Dirnt ist Michael Pritchard, Drummer Tre Cool heißt Frank Edwin Wright III. „Reverend Strychnine Twitch“ ist, vermuten wir, das neue Alter-Ego von Billie Joe Armstrong (es kommt zudem im Text des Titelsongs von STOP DROP AND ROLL!!! vor). Freese und Wright haben auf Green Days letzten Alben gespielt. Aber auch wenn man nicht gut mit Zahlen umgehen kann vier Typen?
Der Identitätswechsel hat jedenfalls zwei Vorteile: Die Erwartungen der Öffentlichkeit sind wieder bei Null, während gleichzeitig das Interesse an Green Day steigt. Dabei ist das Album der Hot Tubs nicht weltbewegend. Es macht Spaß, es prickelt und kribbelt ein bisschen, bleibt aber nicht lange im Gedächtnis. Da man aber nichts erwartet hat, kann man sich durchaus damit anfreunden. Und was noch wichtiger ist: Mit einem Album auf einem Nebenschauplatz hat Billie Joe das Risiko der Rückkehr verteilt. Er musste sich was einfallen lassen, denn irgendwann werden Green Day das größte Comeback zu bewerkstelligen haben, seit, nun, seit Noel Gallagher neben einem absaufenden Rolls Royce fotografiert wurde.
Eine halbe Ewigkeit scheint vergangen zu sein, seit Green Day schwer angeschlagen bereits angezählt wurden. Der Tiefpunkt war WARNING im Jahr 2000: Die Band experimentierte mit „erdigeren“ Klängen, die Verkaufszahlen sanken drastisch – selbst die traurige Horde von Blink -182-Bands, die sie hervorgebracht hatten, nur um von ihnen verdrängt zu werden, wandte sich ab. Und dann kam AMERICAN IDIOT und entwickelte sich zu einem Phänomen: 15 Millionen verkaufte Alben, vier Hit-Singles (alle Top 10 in den USA), ein Grammy und eine ganze Armee von neuen Fans. Pop-Punk war plötzlich wieder da – zehn Jahre nachdem sie ihn selbst im Schatten von Cobains abgesägter Schrotflinte losgetreten hatten. An einer Stelle auf der Live-DVD „Bullet In A Bible“ erinnert sich Mike Dirnt an eine Performance von „Longview“, bei der ihm zum ersten Mal Fans aufgefallen waren, die den Klassiker von 1994 nicht kannten. „Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir aus dem Schatten von dookie getreten waren“, sagte er. „Wir waren völlig woanders angekommen.“
Kein Rockalbum hat sich seitdem besser verkauft. In diesem Jahrhundert waren bisher nur Avril Lavignes LET GO und Linkin Parks HYBRID THEORY erfolgreicher. Dass Green Day all das mit einem Album geschafft haben, das mehr oder weniger highconcept und old-schoolwax (Eine Rock-Oper? Eine Persiflage auf amerikanische Shopping-Mali-Kultur? Featuring eine rührende Nutte? Mit mehrteiligen Songs, die Riffs von Johnny Cashs „Ring Of Fire“ und Mott The Hooples „All The Young Dudes“ enthielten? Wie bitte?) ist einigermaßen unfassbar. Nur damit das nicht in Vergessenheit gerät: Wir sprechen von einer Band, die am Anfang ihrer Karriere zwei Alben nach ihrer eigenen Scheiße benannt hat („Dookie = menschliche Darmausscheidung, „Kerplunk“ = der Klang, wenn diese ins Wasser fällt). Irgendwie war es Billie Joe gelungen, öffentlich politische Aussagen in unserer aufgeklärten Zeit zu treffen, ohne dabei wie ein stehengebliebener Revoluzzer von 1977 oder einfach wie ein Nörgler zu wirken. Als einzige Band, die so vehement die „Proleten-Politik“ verarschte, sicherten sich Green Day einen Platz an der Spitze der Protestbewegung.
Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn Green Day wie Boxprofis auf dem Höhepunkt ihrer Karriere aufgehört härten, anstatt einen langen, stetigen Abstieg zu riskieren. Aber Ende 2006 verkündete die Band auf ihrer Website: „Wir haben angefangen, gemeinsam ein paar coole Projekte in Angriff zu nehmen. Wir sind in einer sehr kreativen Phase und freuen uns darauf, vielleicht das ganze nächste Jahr oder so an den Sachen zu arbeiten.“ „Ein paar“ Projekte? So weit, so kryptisch. Aber es wird noch verzwickter: Im April bereits berichtete „Total Guitar“, dass Green Day die Veröffentlichung von drei einzelnen Alben planten. Anfang Juni bestätigte die Band, dass bereits Demos in Arbeit seien und die nächste Veröffentlichung „ein Ereignis“ ‚und nicht nur eine normale LP werden würde. „Für uns wäre es jetzt langweilig, einfach ein Album mit zwölf Songs abzugeben“, sagte Billie Joe bei MTV. „Wir wollen auf jeden Fall etwas sehr Durchdachtes machen, in das all unser Herzblut fließt.“
Ein Sprecher der Plattenfirma bestätigte schon bald, dass die Band in einem Studio in Kaliforniens East Bay konzentriert am Schreiben sei. In der Zwischenzeit meldete sich plötzlich auch Courtney Love zu Wort: Linda Perry produziere ihre Platte, sagte sie, und die Folge davon sei, dass sie selbst gerade den Vertrag erhalten habe, eine andere Band zu produzieren: Green Day. „Das ist eine Sensation, oder?“, tönte sie, ,jetzt hab ich’s verraten – ich und meine große Klappe.“ Im Oktober lieferte „Rolling Stone“ neue Updates: „Wir haben viel Musik – 45 Songs oder so. Totales Chaos.“ Abgesehen von diesem Statement aber wirkte Billie Joe rastlos, möglicherweise auch uninspiriert. „Ich will ergründen, wer ich bin ich fühle mich zur Zeit middle-aged. Wir machen das jetzt seit 20 Jahren. Da will man sicherstellen, dass man sich nicht selbst belügt. Ich muss mir auch die Frage stellen: ,Was ist wahr und wichtig in der Welt da draußen?‘ Zur Zeit scheint im Leben nichts weiter zu gehen.“ In der Zwischenzeit war er mit seinem anderen Nebenprojekt Pinhead Gunpowder auf Tour gegangen. Wann es ein neues Album geben solle, fügte er damals hinzu, sei unklar.
All das macht die Foxboro-Sessions doppelt interessant: Findet hier eine Band wieder zu sich selbst? Allein schon der legere Rahmen: Die Songs wurden live eingespielt und mit primitiven Achtspur-Bändern aufgenommen. Man kann hören, wieviel Spaß das gemacht haben muss. „Wir schreiben Songs in Echtzeit“, sagen FHT. „Schnell und spontan.“ Dann die unbeschwerte Art, mit der sie mit musikalischen Stilrichtungen spielen – wie Kinder, die man auf die Faschingskiste losgelassen hat. Einige Songs wurden mit Samples aus Filmen versehen („Who’s Afraid Of Virginia Woolf ?“, „Beyond The Valley Of The Dolls“), das hat es seit den Prä-Majorlabel-Zeiten von KERPLUNK nicht mehr gegeben.
Es ist nicht das erste Mal, dass Green Day einen Schritt zurück machen, um vorwärts zu kommen. Vor AMERICAN IDIOT gab es eine ähnliche Phase: Am Anfang stand der Zusammenbruch inklusive Gruppentherapie (ST.ANGER lässt grüßen), in der man die internen Beziehungen zu kitten versuchte. Auch da kam mit The Network ein Nebenprojekt: eine anonyme, maskierte Gang mit zwei Devo-Mitgliedern, die „Green Days Untergang“ forderte und die akzeptable New-Wave-Platte money money 2020 veröffentlichte.
Wie sich Green Day im Augenblick ihre Zukunft vorstellen, verraten sie nicht. Wahrscheinlich ist, dass ein Veröffentlichungstermin für Ende 2008 oder Anfang 2009 anvisiert wird. Die Welt allerdings, in die sie dann zurückkehren werden, wird sich drastisch verändert haben.
Die Bush-Ära, die ihr Lieblingsthema war, wird zu Ende gehen, wenn der wahre American Idiot Anfang nächsten Jahres das Weiße Haus verlässt. Sollte es einen Machtwechsel geben, wird Billie Joe damit klarkommen müssen, genau das zu bekommen, was er gefordert hat. Als Künstler, der seine Stimme mit der Beschimpfung der Neokonservativen gefunden hat, wird er sich neu orientieren müssen. Wird er eine neue Botschaft haben? Oder ist die lange Pause doch die Folge von endlosen Seiten mit durchgestrichenen Textzeilen in seinem Block? „Ich vermute, dass sie sich auf weniger kommerzielles Terrain zurückziehen werden“, sagt Ben Myers, Autor von Englands maßgeblichem Green-Day-Wälzer „Green Day: American Idiots & The New Punk Explosion“. „Sie wirken wie eine Band, der es manchmal durchaus auch unangenehm sein kann, ein großer Stadion-Act zu sein. Für mich stehen sie in der Tradition von Springsteen – du machst ein großes, hymnisches Album und ziehst dich danach zurück, um eine Zeit lang in aller Ruhe dein Ding zu machen. Der Kern deiner Fans wird dir immer treu bleiben. Und ihre Plattenfirma wird ihne alle Freiheiten geben. Gute Melodien verkaufen sich immer – in dieser Hinsieht waren sie immer eine Popband. Wenn eine Platte ein Flop ist, wird sie immer noch von zwei Millionen Leuten gekauft.“
„Ich glaube nicht, dass sie sich vorgenommen haben, jetzt den ,Nachfolger von AMERICAN IDIOT‘ zu schreiben. Ihre Haltung wird sein: ,Lass uns etwas ganz anderes und neues machen'“, meint Kurtni von der Fan-Website Geek Stink Breath. „Sie lassen sich einfach Zeit. Sie engagieren sich in letzter Zeit auch ziemlich im Umweltschutz. […] Billie Joe ist offensichtlich ein sehr politisch denkender Mensch – mich würde nicht wundern, wenn das auch auf der nächsten Platte zu spüren ist. So politisch wie bei AMERICAN IDIOT aber werden sie wohl nicht mehr sein. Sie würden sich nicht so viel Zeit lassen, wenn sie einfach nochmal das gleiche Album aufnehmen würden.“ Politik wird bei Billie Joe in jedem Fall eine Rolle spielen. „Bevor dieser Krieg nicht zu Ende ist, wird nichts Neues entstehen können , sagte er Ende letzten Jahres. „Schwer zu sagen, was als nächstes kommt. […] Alles ist im Übergang, inklusive unserer Regierung. Nächstes Jahr wird jemand anderes im Weißen Haus sein. Man kann keine Vorhersagen treffen – es wird eine Generation Zero geben. Aber man muss bei Null anfangen, um etwas Neues zu erschaffen.“ Billie Joe meinte es ernst, als er bei Live8 in Berlin dem Publikum sagte: „You’re the fucking leaders -ihr habt die Macht. Lasst diese Schweine nicht über die Welt und euer Leben bestimmen!“ Er ist vermutlich auch der einzige Popstar, der nach dem Sturm in New Orleans mit den eigenen Händen beim Aufbau half.
Vier Jahre hat der Gigant geschlafen, nun beginnt er zu zucken. Auch die Serie von Pinhead-Gunpowder-Konzerten in Kalifornien ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es Billie Joe zurück in den Ring zieht. Für den Augenblick begnügen sich Green Day mit dem Beweis, dass man als eine der größten Bands der Welt nicht seinen Sinn für Humor verlieren muss. Sie entziehen sich den hohen Erwartungen, lassen erst mal – salopp gesagt die Luft raus. Sie suchen nach neuen Wegen, mit dem Hype fertig zu werden. Was auch immer dabei herauskommen mag – eine strikte No-Bullshit-Haltung, eine Konzentration auf das Wesentliche, gehörte schon immer zu Green Days größten Vorzügen. „Manche Leute haben ein Problem mit meiner Arbeit“, meint Billie Joe. „Aber ich bin Musiker und ich will mich positiv ausdrücken. Egal ob das Thema maßlose Depression oder ein Regierungsumsturz ist – es kommt immer von Herzen.“ www.greenday.com