Grateful Dead


Wenn es eine Band gibt, die den Mythos der sechziger Jahre, die Legende vom Hippie-Sommer, den Ruf nach Freiheit und die Ablehnung von Gewalt, in unsere immer mehr von offenem Terror und subtiler Unterdrückung verdüsterten Tage herübergerettet hat, dann heißt sie Grateful Dead. Längst verflogen ist allerdings die Aufbruchstimmung, die vor einem Jahrzehnt die Konzerte der kalifornischen Band eingehüllt hatte. Damals nämlich, als die Dead 1965 ihre ersten Free-Concerts in den Parks von San Francisco organisierten, sah es ganz so aus, als dämmere ein neues Zeitalter herauf: Für viele Leute verkörperte die Gruppe die zukünftige Lebensform für freie und deshalb kreative Menschen.

Hinter dem Namen Grateful Dead – „Dankbare Tote“ – verbirgt sich noch immer eine große Familie, die sich freiwillig dem sanften Patriarchchen Jerry Garcia in die Hand gegeben hat, ohne daß dadurch der Freiraum der anderen Familienmitglieder geschmälert wurde. „Grateful Dead ist eine esoterische, geheime Bruderschaft, zufällig zustandegekommen; eine exotische Rock’n‘ Roll-Band, die laute Musik spielt und sich bei jedem Auftritt anders anhört. Ihre große Anhängerschar besteht aus wilden, kreischenden, total bekifften Typen so um die 25 “ —- so lautet die erste Definition, die Hank Harrison in seinem „Dead Book“, einer Art Biographie der Gruppe, zum Besten gibt. Sie ist natürlich nicht ernst gemeint. Die zweite Definition kommt der Sache schon näher: „Grateful Dead ist das Mula Dhara Chakra, ist der Platindraht, der Energie ins kosmische Bewußtsein sendet; die sich aufrichtende Kobra im Schatten und der aztekische Kalender, der sich selbst in den Schwanz beißt in einem sich ewig ausdehnenden Universum.“

Wenn man mit der ersten aufgeführten Definition eine merkwürdige verfremdete Version des Stones-Titels „Around and Around“ assoziiert, bei der zweiten aber an den schier unaussprechlichen Plattentitel „Aoxomoxoa“ denkt, kommt man der Realität recht nahe. Wie aber kann eine mit solch komplexen Gedankenbildern auftretende Gruppe zwölf Jahre lang ein Insidertip bleiben und trotzdem einige der meistverkauften Meilensteine der Rockgeschichte produzieren? Stargagen kassieren, ohne „Stars“ in ihren Reihen zu haben? Grateful Dead geben in dieser Hinsicht einige Rätsel auf. Ihre Geschichte ist verschlungen wie ein Bergpfad, und beginnt lange bevor überhaupt eine einzige Platte veröffentlicht war.

Ende der fünziger Jahre gab es in Amerika die Beatniks. Ihr Lebensstil, ihre Philosophie bildeten die Grundvoraussetzung für das Entstehen der Hippie-Szene in San Francisco. Der Inbegriff eines Beatniks war James Dean. Und zwar seine wirkliche Person und nicht das Idol, das Hollywood aus ihm machte. Ein „Rebell ohne Grund“ (Filmtitel), ein sensibler Rowdy, dessen Leben kurz, aber intensiv war. Eine andere Wurzel und gleichzeitig ein Bindeglied zwischen Beatniks und Hippies war Jack Keruac. Seine Romane, zum Beispiel „On the Road“ oder „Desolation Angels“, schildern das Leben einer Generation, deren Angehörige als Veteranen des Koreakriegs kein normales Leben mehr führen konnten. Zwischen Mexico, Arizona und San Francisco trampten junge Männer und Frauen umher, ohne zu wissen, was sie suchten und ohne je wirklich seßhaft zu werden. Ein Dasein zwischen Saufen und Jazz-Sessions (jedermann spielte irgendein Instrument), aber auch wirklicher Existenzbedrohung und einer unfreiwillig erfolgenden Anpassung ans amerikanische middle-class-Leben.

Musiker aus der Beatnik-Szene

Die Musiker von Grateful Dead besitzen alle diesen Beatnik-Hintergrund. Jerry (Jerome) Garcia und der spätere Stückeschreiber der Gruppe, Bob Hunter, besuchten Ende der 50er/ Anfang der 60er Jahre das San Mateo College in Coyote Point. Jerry hatte sich gerade erfolgreich um die letzten Monate seines Wehrdienstes gedrückt; einen Job, bei dem er Schulkindern das Funktionieren von Nike/Herkules-Geschützen hätte erklären müssen. Zusammen mit Bob belegte er einige Soziologie-Kurse. Niemand dachte im Ernst an eine Karriere. Auch Phil Lesh nicht, der ebenfalls in San Mateo studierte. Er lebte, wie die meisten seiner Kommilitonen, in einem heruntergekommenen Apartmenthaus und komponierte Jazzsymphonien.Offiziell studierte er Elektrotechnik. Phil hatte mit acht Jahren Geige, später Trompete gespielt. Zu seiner Clique in San Mateo gehörte ein gewisser Gladstone Odduck, der später auch bei Grateful Dead mitspielte, aber die Band schon 1965 wieder verließ. Aber soweit sind wir noch nicht…

Jerry Garcia, 1942 in San Francisco geboren, stammt aus einer Musiker-Familie. Sein Vater war Spanier, seine Mutter Irin. Daraus hat sein Biograph Harrison soetwas wie eine „atlantische Abkunft“ hergeleitet, da die Ibero-Kelten die eigentlichen „Atlantiden“ gewesen seien. Hier beginnen schon die ersten Mystifikationen um die Person Garcias, die das Image der „Dead“ mitbestimmen. Eine gewichtige Rolle im Werdegang Garcias spielten auch die psychedelischen Drogen: Schon in den San Mateo-Tagen war der Marihuana-Joint sein ständiger Begleiter.

Seit seinem 5. Lebensjahr spielte Jerry Gitarre und Banjo im Country- und Bluegrass-Stil. In Bars und Bistros aufgewachsen, lag ihm die Musik im Blut. Ansonsten aber passierte in San Mateo nicht mehr viel: Phil Lesh, Bob Hunter und Garcia trafen nämlich nicht hier zusam-Vnen, hatten jedoch — als Bindeglied – einen gemeinsamen Bekannten, den (inzwischen berühmt gewordenen) Ken Kesey Autor von „Einer flog über’s Kuckkucksnest“.

Palo Alto ist ein hübscher Flecken an der San Franzisko Bay. Mehrere Universitäten, schöne Wohngegenden und das typische milde Bay-Area-Klima. Die „Coffeehouse-Scene“ gibt hier jungen Musikern Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen. In den Kaffeehäusern wird zudem viel über Kunst, Bücher und Politik diskutiert. Vor allem die mittelamerikanischen Kulturen der Maya und Azteken, wie sie H.D. Lawrence („Die Gefiederte Schlange) und Aldous Huxley interessiert haben, sind Gesprächsstoff. Es geht um die Wunderdrogen aus Pilzen und Kakteen, mit denen die Indianerpriester sich antörnten.

Im Dead-Wohnort Palo Alto gab es eine Menge Verrückte

In Palo Alto gab es viele Verrückte. Bekannte und unbekannte. Zur ersten Gruppe gehörten der Schriftsteller W.S. Burroughs („Naked Lunch“) und Allen Gingsberg. 1963 entstand hier zunächst ein Vorläufer der Dead, der sich „The Zodiacs“ nannte. Jerry war bei diesem Unternehmen beteiligt, nachdem er zuvor auf Phil Lesh gestoßen war. Phil, der inzwischen Arbeit als Ingenieur bei KPFA, einer Rundfunkstation in Berkeley gefunden hatte, machte Aufnahmen von Jerrey’s ‚Bluegrass Banjo-Pickin‘, und schaffte es sogar, das Tonband bei einem privaten Rundfunksender über den Äther zu verbreiten.

Bei den „Zodiacs“, die ihre Besetzung eher dem Zufall überließen, spielten verschiedene Drummer. Einer von ihnen nannte sich Bill Sommers (und hatte sogar einen gefälschten Paß auf diesen Namen), hieß in Wirklichkeit aber Bill Kreutzmann. Ein weiteres Mitglied wurde der Sohn eines Rhythm & Blues-Musikers und DJ’s: Ron Mc Kernan, der später den Spitznamen „Pig Pen“ (nach einer Figur der Peanuts-Comics) erhielt. Damit war der Nucleus für Grateful Dead beisammen. Hinzu kam ein großer Haufen Freunde, die ein recht enges Verhältnis zu anderen kalifornischen Gruppen, Künstlern, Aktionisten, Musikern oder ganz einfach netten Leuten hatten. Wie die Grateful Dead waren auch die Zodiacs mehr eine soziale Institution als eine Band, wie die Rock-Enzoklopädistin Lillian Roxon betont.

Der Dead-Vorläufer „Zodiacs“: Rüde Rocker, die nur an Mädchen und ans Saufen dachten

Pig Pen spielte damals Mundharmonika und Orgel, Troy Weidenheimer Lead-Gitarre, und Jerry Garcia mußte, da Phil Lesh auf seinem Posten beim „Midnight Special“ von KPFA unabkömmlich war, zunächst mal den Bass bedienen. „The Zodiacs“ spielten rüden Rock’n‘ Roll in Kneipen wie „The Tangent“ oder „St. Mike’s“, in denen die Typen sowieso mehr auf Mädchen und das Saufen aus waren, als auf anspruchsvolle Musik. Als die Band 1963 auseinander ging, war Jerry, der eigentlich Maler hatte werden wollen, nicht allzu sehr enttäuscht. In einer Guppe von Neo-Expressionisten, Dadaisten und Pantomimen lernte er dann Bill Graham, den späteren Rock-Promoter und Fillmore-Initiator, kennen. Ende ’64 entstand die Gruppe „Mother Macree’s Uptown Jug Champions“, in der Jerry Garcia zusammen mit seiner Frau Sarah (die beiden hatten ein halbes Jahr zuvor geheiratet) originale Countryund Bluegrass-Musik spielen wollte. Bill Sommers, alias Kreutzmann, war auch dabei. Um die Jahreswende stießen auch „Pig Pen“ Mc Kernan und schließlich Phil Lesh dazu.

1965 schloß Bob Dylan seine Gitarre an einen elektrischen Verstärker an: das Zeitalter des Folk-Rock hatte begonnen. Die Beatles eroberten gleichzeitig die Welt, und die Stones gaben ihr erstes Konzert in Kalifornien. Palo Alto und North Beach, wo David Crosby noch kurz zuvor im „Vesuvios“ Folksongs gespielt hatte, verödeten allmählich. Wie Zugvögel, die der Sonne in den Süden nachfolgten, zog es die „happy people“ in eine andere Ecke von San Franzisko. Haight Ashbury (benannt nach einem Bürgermeister) wurde das Zentrum einer neuen Bewegung, deren Jünger nach einer Vokabel aus dem Bereich sig oder wortgenau: aus der Hüfte) den Namen Hippies nach sich zogen. Jerry’s Gruppe, inzwischen in „Warlocks“ (die Hexer“) umbenannt, begab sich sogleich an den Ort des neuen Geschehens. Auf Haight Ashbury braute sich etwas zusammen, überall fanden sogenannte „Acid-Tests“ statt; Parties, bei denen unter Aufsicht der Gesundheitsbehörden LSD an Freiwillige verteilt wurde. Die Reaktionen der Versuchskaninchen waren unterschiedlich, jedoch zeigte sich bald, daß unter dem Einfluß des Halluzigens, durch gemeinsam erlebtes „High-Sein“, ein Gemeinschaftsgefühl unter den Testteilnehmern entstand, das den Behörden unheimlich wurde. Die Gefahr des Ausflippens war weniger gegeben, aber die Leute neigten dazu, ihre Energien, die durch das Rauschmittel freigesetzt wurden, zur Organisation von „Loveins“ und „Be-ins“ zu verwenden. Die Droge wurde zum Ausdruck eines Mechanismus, der von dem Hippie-Philosophen Timothy Leary angeregt wurde: „Tune in, turn on, drop out“.

Hier liegt ein Angelpunkt für das Verständnis von Grateful Dead. Von Anfang an trat die Gruppe mit dem Anspruch auf, so etwas wie ein Kristallisationspunkt zu sein für Leute, die Anschluß an eine neue, alternative „countersociety“, eine Gegengesellschaft, suchte. Weil sie es aber nicht bei bloßen Phrasen beließ, sondern in ihrer Kommune —- zeitweilig ein kleines Dorf mit über hundert Personen, zu dem nochmals hunderte von Freunden Zugang hatten -— Ideen auch in die Tat umsetzte, war sie nicht nur eine Rockband, sondern zugleich eine politische Institution. Das Konzept einer Gegengesellschaft stand sogar derart im Vordergrund, daß zunächst kaum Plattenaufnahmen gemacht wurden, die ja mit Verträgen und damit mit Zugeständnissen an die etablierte Gesellschaft verbunden gewesen wären.

In Haight Ashbury braut sich etwas zusammen

Die Adresse 710 Ashbury Street wurde eine Art Auffanglager für die Musiker von „Warlocks“, die im Laufe des Sommers 1965 eintrudelten. Gleichzeitig wurde es zum Zentrum für alle möglichen wilden Typen, die kein Dach über dem Kopf hatten. So tauchte beispielsweise Bob Weir, ein gerade 17-jähriger „runaway“ bei den Warlocks auf. Er bekam eine vegetarische Mahlzeit vorgesetzt und entschloß sich zu bleiben. Auch Neal Cassady kam und blieb, er brachte einen Verrückten mit, der sich „Merlin der Zauberer“ nannte. Es waren viele Mäuler zu stopfen in diesen Tagen, und irgendwie lief das nur, wenn zum Beispiel frisch zugereiste Mädchen aus New York oder Washington, die sich zum Bleiben entschlossen, ihre Reiseschecks einlösten und ihre neuen Freunde mitdurchfütterten. Manchmal gab es auch Spenden von reichen Bürgern der Stadt, die an dem fremdartigen Treiben auf den Straßen und in den Parks ihre Freude hatten.

San Francisco war immer eine Stadt der Toleranz, schon deshalb, weil die Bevölkerung ein buntes Rassengemisch ist. 1965 schössen hier neue Gruppen wie Pilze aus dem Boden: Janis Joplin mit The Holding Company, Jefferson Airplane, The Charlatans, Quicksilver Messenger Service, Lovin‘ Spoonful, Mother Earth und andere.

Eine ganze Szene entstand innerhalb weniger Monate. Die neuen Clubs wie das „Matrix“ (Inhaber Billy Graham, Hausband Jefferson Airplane) oder das „Avalon“ boten gar nicht genug Raum für alle Bands die auftreten wollten. Das war einer der Gründe für die plötzlich aktuellen „open-air-concerts“.

Die „Warlocks“ kamen auf die Idee, „Freeconcerts“ zu geben: jedermann sollte willkommen sein, jeder sollte sich auf irgendeine Weise beteiligen. Ende ’65 bekam die Gruppe ihr erstes festes Engagement im „In-Room“, einem Club in Belmont. Die Band spielte nun in folgender Besetzung: Jerry Garcia (Lead-Gitarre), Phil Lesh (Bass), Bill Kreutzmann (Drums). Hinzu kamen als zweiter Drummer ein Freund von Bill, Mickey Hart, ein versierter Jazz-Schlagzeuger.

Dann ein Typ namens Tom Constaten, der das Piano bediente, und schließlich der schon erwähnte Bob Weir als zweiter Gitarrist. Bobs Mutter erschien häufig im „In-Room“, um ihren Sohn aufs College zurückzuholen. Vergeblich: In diesem Sommer war die Hippie-Kultur das Stärkste, was überhaupt in Kalifornien passierte. In bunte, orientalische Gewänder gehüllt, beherrschten ihre Anhänger das Stadtbild von San Franzisco. LSD war noch legal, und die Polizei hatte noch nicht mit der Verfolgung der Drogen-Jünger begonnen.

Den Namen „Grateful Dead“ fand Jerry Garcia durch Zufall im Wörterbuch

Für die „Warlocks“, die bei den stundenwährenden „Free Concerts“ einen neuen Sound entwickelt hatten, wurde es Zeit, einen neuen Namen zu finden. Jerry blätterte in einem Wörterbuch von 1912, und zufällig schlug er eine Seite auf, auf der sich der Begriff „Grateful Dead“ fand. Die Zufälligkeit, mit der sich der neue Namen fand, hatte etwas mit dem willkürlichen Stabwerfen beim cinesischen „I-Ging-Orakel“ gemeinsam, nach dessen Weisungen sich Jerry Garcia richtete. Zudem bot der Name Assoziationsmöglichkeiten zum uralten Ägypten, zum gotischen Mittelalter, zum „danse macabre“ und allem Mystischen überhaupt.

In der Folgezeit ging es für „Grateful Dead“ vor allem darum, ein musikalisches Konzept zu finden, das dem demokratischen Grundsatz der Gruppe entsprach. Jeder Musiker sollte im gleichen Umfang an der Musik beteiligt sein. Es entstand jener wabernde, ausufernde Musikstil, in dem Elemente des Country und Bluegrass (Garcia), Rhythm & Blues (Mc Kernan), der Elektronik (Phil Lesh) und schließlich des Free-Jazz (Mickey Hart) eine merkwürdige Verbindung eingingen. Die ersten Studioaufnahmen entwickelten sich zu Mammutsessions, bei denen eben diese vielfältigen Elemente zu schwerverständlichen Soundcollagen zusammengemischt wurden. Die ersten beiden LPs wurden jedoch zunächst nicht veröffentlicht. Einer der Gründe: Die Musiker waren mit dem Ergebnis unzufrieden. Den Studiofassungen der Songs wie etwa „Golden Road“ fehlte das Feedback aus dem Publikum, das die Musik auf der Bühne mitformte: jene Kommunikation, die Jerry einmal mit der „Unio mystica“ mittelalterlicher Mysterienspiele verglichen hat.

Ende 66 war der Traum der Hippies eigentlich schon zu Ende. Im August wurden die psychedelischen Drogen wie LSD, DMT, Mescalin und Psylocibin gesetzlich verboten. Noch bevor die Hippiebewegung Europa erreichte und der San Franzisco-Sound die Beatles zu ihrem „Sergeant Pepper“-Album inspirierte, wurde sie am Ort ihres Entstehens bereits verkommerzialisiert, Haight Ashbury zum Touristen-Mekka. Die Grateful Dead zogen um. In der ländlichen Umgebung des Marin-Country, in unmittelbarer Nähe von Sausalito, einem romantischen Fischerdorf, ließ die Band sich nieder. Es entstand eine erste „Freeland“-Kommune, die mit Ackerbau und Viehzucht selber für ihren Lebensunterhalt sorgen wollte. Das alles klappte nicht. Ihr Stützpunkt, Olompali, wurde stattdessen zum Zentrum einer Gegenbewegung zu den von der Polizei drangsalierten Hippie-Headquarters wie „1090“, „Page Street“ und anderen Häusern. Unter freiem Himmel fanden in Olompali orgienähnliche Feste statt. Dennoch war es nur eine Atempause.

Die Dead überleben den Niedergang der Hippie-Kultur

Zurück in 710 Ashbury, machte sich Phil später daran, einen Plattenvertrag auszuhandeln. „Warner Brothers“ bekamen schließlich den Zuschlag, da sich die Firma verpflichtete, keinen Druck auf die Studioarbeit auszuüben. Die erste offizielle Plattenveröffentlichung war 1967 fällig. Die LP „Grateful Dead“ erschien in jenem monolithischen Sound der frühen Jahre und war ein hypnotisches Gesamtkunstwerk.

Die folgenden zwei Jahre waren sehr erfolgreich für die Grateful Dead. Sie schafften es, den Niedergang der Hippiekultur zu überleben. Aus den Free-concerts wurden reguläre Auftritte, zunächst in Kalifornien, dann in anderen US-Staaten. Garcia entwickelte allmählich seine typische Gitarrentechnik. Die elektronischen Soundmerkmale verschwanden. Grateful Dead wurde zum Inbegriff einer Westcoast-Gruppe. Verbunden damit waren für die Dead politisches Engagement, zum Beispiel für Umweltschutz, der Aufbau einer dauerhaften Lebensgemeinschaft, in die auch Kinder hineingeboren werden konnten und die Organisation einer eigenen Firma.

1968 erschien „Anthem Of The Sun“. Auch hier ist wieder die Dead-Mystik mit im Spiel: gemeint ist der Sonnengesang des altägyptischen Pharaos Echnaton und der Sonnenhymnus des Franz von Assisi (ein bekannter Wanderprediger des Mittelalters), die den Dead-Musikern in ihren andauernden Drogenexperimenten begegneten. 1969 war das Jahr des Altamont-Disasters. Grateful Dead spielten bei diesem Festival. Sie waren es, die den Rolling Stones die „Hell’s Angels“ als Ordnungskräfte vermittelt hatten. Die Rocker erstochen einen jungen Schwarzen, und es gab noch zwei weitere Tote. Jerry Garcia zeigte sich betroffen. 1969 war immerhin auch das Jahr von Woodstock… „Hier haben sich zwei Extreme gezeigt, die der Rockmusik innewohnen“, gab er zu bedenken.

1969 brachten die Dead das Album „Aoxomoxoa“ heraus. Die Stücke „St. Stephen“ und „Rosemary“ waren Hits in einem besonderen Sinne: Sie entwickelten sich bei den Live-Auftritten zu Dauerbrennern. Single-Hits gab es bei dieser Gruppe nicht. Chartsstürmereien und Starkult sind bei Grateful Dead Fremdwörter. Stattdessen ließ sich in diesem Jahr die Dead-Kommune wieder in Marin-Country nieder. Das Rückcover von „Aoxomoxoa“ zeigt die „Familie“ mit Kind und Kegel auf einer Waldlichtung.

1970: Ein böses Jahr für die Dead

1970 dann wurde ein böses Jahr für die Grateful Dead. Nahe Angehörige kommen ums Leben. Das Baby „Buddha“, Kind eines Kommunenmitglieds, stirbt bei einem Hausbrand. Mit metaphysischer Gelassenheit kommentiert Garcia das Ereignis: „Neue Babies werden geboren. Wechsel ist das Gesetz der Dinge, es gibt nur einen sehr, sehr langsamen Aufstieg. Aber wohin er führt, weiß ich nicht.“ In Interviews äußern die Mitglieder der Gruppe häufig Ansichten wie diese, und lassen sich selten auf eine Antwort festlegen. Jerry: „Ich sage immer das, was ich gerade denke. Die Leute sollen mit den Antworten spielen, so geben sie selber etwas dazu.“

1970 flog die Gruppe mit einem Anhang von über 40 Leuten zum ersten Mal nach Europa. Die England-Tournee wurde ein Riesenerfolg. Schon ein halbes Jahr später kam sie wieder nach Europa. Inzwischen war das Live-Album „Live/Dead“ veröffentlicht worden. Nach einem ausgedehnten Konzert in Amsterdam kehrten die Dead in die Staaten zurück und produzierten ihr erstes wirkliches Meisterwerk: „Workingman’s Dead“. Einfache akustische Gitarren, Satzgesang, Country-Blues. Eine erstaunliche Wende war eingetreten: die Grateful Dead waren kein Psycho-Schocker mehr. Ihre Musik klang „laidback“, entspannt.

Ende 1970 lag dann schon wieder ein neues Album vor: „American Beauty“. Konsequent wurde auf dieser Platte an dem neuen Konzept festgehalten: keine Improvisationen, kurze überschaubare Songs. In Gegensatz dazu standen die Live-Auftritte im Zuge der dritten Europatournee im Jahre 1972. Bei fünfstündigen Mammutsessions, unter anderem auch in Deutschland, brachten die Dead „offene“ Versionen bekannter Songs; so konnten Stücke wie „Truckin'“ oder „Turn On Your Love Lights“ fünf Minuten oder auch eine halbe Stunde dauern.

In England wurde Jerrys virtuoses Gitarrenspiel gespriesen: „Garcia hat den von Clapton verlassenen Thron eingenommen.“ Beim Zusammenspiel der Drummer Mickey Hart und Bill Kreutzmann entdeckten Journalisten Einflüsse der Jazzgiganten John Coltrane und Charlie Mingus. Tatsächlich hörte man bei den Live-Auftritten immer häufiger Jazz-Rock-Anklänge. Die ekstatisch phrasierende Sängerin Donna Godchaux (die bei dieser Tournee zusammen mit ihrem Ehemann Keith dabei ist) unterstreicht dies noch. Insgesamt ist diese Konzertreise ein wahrer Höhepunkt in der Karriere der Grateful Dead. Ein riesiger Anhang von Frauen, Kindern, Hunden, Katzen, Managern, Roadies und nicht zuletzt Technikern begleitete die Gruppe: ihre Anlage gehörte damals zu den sieben Weltwundern der Rock’n‘-Roll-Welt. Sie kostete über 45.000 Dollar. Die Dead-Musiker sind nun wandelnde Paradoxa: Hippies mit Geld.

Der Tod von Pig Pen lähmt die Band

Die Euphorie dauerte nicht lange. Im August ’73 wurde Pig Pen McKernan, der wegen Krankheit an der letzten Tournee nicht mehr teilgenommen hatte, tot in seinem Haus in Corte Madere aufgefunden. Man munkelt, daß er einer Rauschgiftüberdosis erlag. Offiziell starb er an einer Leberzirrhose. Der Tod „Pig Pens“ war ein Schock, der die Kreativität der Band für einige Zeit lähmte. Das Album „Wake Of The Flood“ an dem „Pig Pen“ noch mitgearbeitet hatte, erschien. Im Herbst ging eine schon lange geplante Europa-Tour, die man wegen Mc-Kernans Tod nicht absagen konnte, über die Bühne. Bislang war dies der letzte Auftritt von Grateful Dead in unseren Breiten.

Zwei Jahre lang versucht die Band dann, eine eigene Plattenfirma endlich auf die Beine zu stellen und ein eigenes Vertriebsnetz aufzubauen. Der Versuch schlägt fehl. Die Dead geraten in finanzielle Schwierigkeiten und müssen schließlich auch ihre Superanlage verkaufen. Die gruppeneigene Firma „Dead Records“ unterschreibt, da ihr „Warner Bros.“-Kontrakt im Dezember ’74 ausläuft, bei „United Artists“. Für dieses Label spielt die Gruppe die Platte „Blues For Allah“ ein. Der Titelsone ist sehr lang; komplexe elektronische Passagen und anspruchsvolle Percussionscluster begleiten einen Text, der in arabischer, hebräischer und persischer Übersetzung beiliegt. Es ist ein Aufruf an die Völker des Nahen Ostens („The Flower of Islam, The Fruit of Abraham“), sich friedlich zu einigen. Ihr politisches Engagement mobilisiert die Dead bald darauf, sich bei den Präsidentschaftswahlen für Jimmy Carter einzusetzen. Weitere Aktionen gelten Anti-Atomkraft-Initiativen in Kalifornien. Ansonsten wird es ruhig um die Gruppe. Tourneen stehen nicht auf dem Programm. 1976 erscheint das Album „Mars Hotel“, außerdem eine Doppel-LP, der Live-Mitschnitt „Steal Your Face“.

Die Grateful Dead waren im vergangenen Jahr nach zehn Jahren anstrengender Arbeit an einem neuen Wendepunkt angelangt. „Wir wollen erst mal fischen gehen“, hieß es lapidar in San Franzisco. Der Fang, den die Gruppe nun dieses Jahr einholte, hat manche Dead-Fans enttäuscht: Die Platte „Terrapin Station“ enthält lockere Stücke wie „Dancin‘ In The Streets“, „Passenger“ oder „Samson And Delilah“, die teilweise mit einem kräftigen funky-beat vorgetragen werden. Das böse Wort „Disco-Dead“ ist bereits gefallen. In der Tat enthält „Terrapin Station“ sehr tanzbare Passagen. Dead’s neuer Producer, Keith Olson (der auch Fleetwood Mac wieder auf die Beine half) hat die Band dazu angehalten, keine Haken und Ösen einzuflechten, auf Improvisation zu verzichten. „Zum ersten Mal haben wir eine ganz normale Platte produziert, zu der die Leute tanzen können“, äußert sich Jerry Garcia. Und um jedem Vorwurf gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, fügt er hinzu: „Wir wollten eigentlich immer nur ein Haufen von Goodtime-Piraten sein…!!“