Gossen Hauer – Der Sampler von ME/Sounds
Liegt's an den Medien? Am Desinteresse der Plattenfirmen? Oder daran, daß das potentielle Publikum die Perlen noch nicht entdeckt hat? Bislang kaum beachtet von der Öffentlichkeit, hat sich eine junge Riege deutscher Bands auf den Weg gemacht, Neuland jenseits idyllischer Deutschrock-Klischees zu entdecken. Mit dem Sampler GOSSENHAUER stellt ME/ Sounds die neueste deutsche Welle vor. Ober-Hose Campino (r.) beschreibt dazu aus eigener Erfahrung, wie man sich als deutsche Band durchboxen muß.
Ob es vor zehn Jahren einfacher als heute war, reich und berühmt zu werden, wollt ihr von mir wissen? Kann ich schlecht sagen, weil ich damals weder das eine noch das andere war. Im Ernst — was wollt ihr hören? Besserwisser Campinos gesammelte Weisheiten zum Thema „Vom kleinen Dreckspunker zum erfolgreichen Rockstar in nur einer Dekade“? Einen Reiseführer für den Weg zum Ruhm? Kann ich leider nicht mit dienen. Ehrlich, Freunde, es ist mir ein völliges Rätsel geblieben, wie es überhaupt so weit kommen konnte.
Natürlich war die Ausgangssituation für eine Band in der Bundesrepublik Anfang der 80er ganz anders als heute. 1980 standen in einem Plattenladen unter der Sparte „BRD Punk“ ganze 15 LPs zur Auswahl. Inzwischen warten in den Tonträger-Supermärkten tonnenweise „Hardcore“-, „Wave“-, „Underground“und „Independenf-Neuerscheinungen auf ihre Käufer. Der Kuchen jedoch, um den es geht, sprich die Zahl der Fans für ungewöhnliche Musik (und das ist der Sound von interessanten Newcomer-Bands ja meistens), ist in den letzten zehn Jahren nicht unbedingt größer geworden. Die Gefahr, in der tagtäglichen Veröffentlichungs-Flut einfach unterzugehen, ist heutzutage also ungleich höher. In der Zeit, als sich hierzulande eine eigenständige Punk-Szene formierte, aus der heraus sich später ja auch die vielgeschmähte „Neue Deutsche Welle“ entwickelte, war es einfacher, die Übersicht zu bewahren. Alles war neu, irgendwie interessant und wichtig. Von der damals weit verbreiteten Offenheit und Neugier im Hinblick auf neue musikalische Strömungen ist wenig übrig geblieben. Medien, Plattenfirmen, aber auch die Fans und sogar die Bands gehen immer mehr auf Nummer sicher. Kein Wunder, fehlt es doch überall an der nötigen Lockerheit, ohne die Kreativität nicht möglich ist. In diesem Land neigt man sowieso dazu, alles — egal, wie wichtig oder unwichtig — zu einer Glaubensfrage zu erheben. Singt die Band XY auf deutsch oder englisch? Sind sie independent oder kommerziell? Sind sie hardcore oder Software? Bla, Bla, Bla… Alles ist absolut, Kompromisse oder Mittelwege sind kaum an den Mann zu bringen. Das verunsichert natürlich auch die Bands. Viele Gruppen beschäftigen sich denn — anstatt sich auf die Musik zu konzentrieren — hauptsächlich damit, ihren Musikstil zu definieren, noch bevor sie überhaupt fünf Liedchen zusammengeschustert haben.
Auf der anderen Seite verlieren sie sich aber in sinnlosen Abgrenzungs-Gefechten. Keine Gruppe will sich in eine Schublade stecken lassen, jede nimmt für sich in Anspruch, etwas „anders“ zu sein.
Ziemlich nervend finde ich in diesem Zusammenhang vor allem jene Bands, die keine Gelegenheit versäumen, um mit Nachdruck darauf hinzuweisen, wie verdammt „independent“ sie doch eigentlich seien. Diese „Unabhängigkeit“, die früher mal mit „Innovation“ gleichzusetzen war, bezieht sich jetzt nur noch auf die Größe des Platten-Labels, von dem sich die Combos über den Tisch ziehen lassen. Die künstlerische Abhängigkeit, insbesondere von Vorbildern aus dem englischsprachigen Raum, bleibt weiterhin bestehen, nur daß sie jubelnderweise versuchen, das als etwas völlig Eigenständiges zu verkaufen. Was sie dabei vergessen: Frische Impulse kommen aus diesem Aufwärmen längst vorverdauter Versatzstücke bestimmt nicht.
Eine Musik-Szene, die sich gegenseitig unter die Arme greift und einen gemeinsamen Gedanken vor Augen hat, gibt es in Deutschland zur Zeit
nicht, jeder kocht sein eigenes Süppchen. Und hier liegt der wahrscheinlich wichtigste Unterschied zur Situation Anfang der 80er. Damals gab es tatsächlich so eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl, das Empfinden, in einer Bewegung und Entwicklung zu stecken. In dieser Zeit zählte Perfektion weit weniger als eine gute Idee oder zumindest die Überzeugung, eine gute Idee zu haben. Man konnte sich austoben, alles war erlaubt, die Toleranz bei den Zuschauern, Medien und Bands war groß.
Für junge, aufstrebende Bands war das natürlich ideal, ihnen wurde jeder Dilettantismus verziehen. Sie hatten genügend Gelegenheiten, auf Konzerten Erfahrungen zu sammeln, ohne daß das Publikum davonlief. Nicht ohne Risiko: Mit einer Welle oder Bewegung nach oben gespült zu werden bedeutet auch, mit ihrem Absacken wieder in der Versenkung zu verschwinden. Wer über Nacht kommt, geht meistens auch schnell wieder. Kaum eine Band konnte sich davor retten …
Heute verzeiht man den Newcomern nur noch selten schräge Töne. Von MTV auf die schöne, weichgespülte Mainstream-Rockwelt geeicht, weiß der durchschnittliche Musikkonsument inzwischen, wo es langzugehen hat: Schöne Menschen, langes (natürlich nur gepflegtes) Haar, die Rebellion reduziert sich auf edle Tätowierungen und vollbusige Blondinen, die in jedem Clip über die Mattscheibe hüpfen. Keimfreie Revolution im Reagenzglas — Rock ’n‘ Roll ist prima, nur wehtun darf er nicht und leicht zu verdauen sollte er doch auch bitte sein.
Kein Wunder, daß kaum noch jemand Geld und Geduld aufbringt, neue Gesichter auf Live-Bühnen zu entdecken. 5.— DM Eintritt für die Underground-Hoffnung aus der eigenen Stadt hinlegen? Die können doch noch nicht einmal technisch perfekt spielen. Dann lieber 60.— DM für den Mega-Metal-Act lockermachen. Spielen können die Jungs zwar auch nicht, aber wenigstens besitzen sie das nötige Kleingeld, sich die Sampling-Computer zu besorgen, mit deren Hilfe sie diese kleinen Unzulänglichkeiten kaschieren können.
Doch nicht nur im Mainstream wird es eng für den Nachwuchs. Auch im Undergrund-Bereich überschwemmen mittlerweile Gruppen aus England (gut), den USA (besser) oder Australien (fantastisch) die Clubs. Da bleibt für die einheimische Szene wenig Platz und Kaufkraft übrig. Kaum ein Clubbesitzer oder Veranstalter stellt das Geld hinter eine idealistische Formel wie „support your local hero“ und kalkuliert mal ein Minus ein, um unbekanntere Bands spielen zu lassen. Hinzu kommt die speziell deutsche Mentalitätssache, dem Erfolg einer Band aus der eigenen Stadt eher kritisch und mit Neid gegenüberzustehen, als sich zu freuen: „Hey, die kenn‘ ich, die sind von hier und deshalb finde ich sie ok!“
Für eine Gruppe, die sich nur deshalb zusammenfindet, um irgendwann einmal erfolgreich und berühmt zu werden, sind das natürlich keine rosigen Aussichten. Aber all den Bands, denen es eher um Abenteuer und Erlebnisse denn um Geld und Erfolg geht, kann die allgemeine Situation in Deutschland sowieso egal sein. Denn der wirkliche Rock ’n‘ Roll-Wahnsinn hat Gott sei Dank nicht nur mit 20.000 Zuschauern in der Dortmunder Westfalenhalle zu tun. sondern auch mit einem Gig in Erkenschwick vor 36 zahlenden Zuschauern, bei dem der Kneipenwirt Deine Dir zugesicherte 25O-DM-Gage nicht zahlt, dafür aber 500.— DM für eine beschädigte Lampe im Bühnenbereich verlangt. Doch das Geniale am R’n’R-Business ist, daß jeder dazugehört, der sich im Musikgeschäft um die Ecke für 280- DM „ne Gitarre gekauft hat und zuhause bemerkt, daß der Hals total verzogen ist. Für viele ist dies gleich die letzte Erfahrung mit dem Show-Geschäft, andere sehen zu, daß sie das Ding für 350.— DM wieder loswerden.
Rock ’n‘ Roll ist ein bißchen wie Lotto spielen: Es gibt kein Patentrezept für Ruhm und Reichtum. Theoretisch kann es — das zeigt sich immer wieder — jeden Idioten erwischen. Am wenigsten hat es damit zu tun, ob man technisch gut spielen kann oder häufig übt. Das mag zwar die halbe Miete sein, aber kein Pfennig mehr. Alles andere hat mit Zufall — manche Leute nennen das auch
„Management“ — zu tun.
Ob erfolgreich oder nicht — es gibt diverse deutsche Bands, die aufregend sind und bei denen man mehr als nur einen starken Abend erleben kann. Dazu gehören Fury In The Slaughterhouse, Freaky Fukin‘ Weirdoz, Plan B. Rausch und Jingo de Lunch, die alle auf GOSSENHAU-ER (Vertrieb: SPV) vertreten sind und keinen internationalen Vergleich zu scheuen brauchen. Im deutsch singenden Lager nennenswert: Die Einstürzenden Neubauten sind jenseits von gut und böse, Abwärts gehören nach wie vor zu den bissigsten im ganzen Land und King Rocko Schamoni rettet zusammen mit Helge Schneider den deutschen Humor vor seinem miserablen Image. Egal, in welcher Sprache sie singen — sie alle gehören zu jener exklusiven Minderheit von Musikern, die hierzulande Durchhaltevermögen bewiesen haben.
Denn, mal Hand auf Herz, welche Gruppe hat die Nerven, vielleicht sechs oder sieben Jahre für eine Handvoll Deutschmarks durch drittklassige Clubs zu touren, kaum Platten zu verkaufen und dann doch nur millimeterweise vorwärts zu kommen? Es gehört schon eine satte Portion Wahnsinn und Dickköpfigkeit dazu, um diesen Weg konsequent bis zum bitteren Ende durchzuziehen.
Aber Rock ’n‘ Roll ist eben kern Feierabendvergnügen, sondern ein Full-Time Job, vermutlich der beste, den das Arbeitsamt im Angebot hat, nur halt ohne 40-Stunden-Woche und soziale Absicherungen. Die dadurch bedingte Torschlußpanik, den Absprung ins sogenannte „bürgerliche Leben“ zu verpassen, ist in Deutschland oft der Todeskuß für vielversprechende neue Acts…
Eine Kurzschlußreaktion anderer Art, die aber nicht minder zur Eintönigkeit der hiesigen Szene beigetragen hat, ist der plötzliche musikalische Stilwechsel, den Bands immer dann gerne vornehmen, wenn die gewünschte Hasen-Extase auf ihrem fünften Live-Gig ausbleibt. Ein neues Konzept muß her. Verdammt, was haben Verkaufs- oder Zuschauerzahlen mit der Qualität der Musik zu tun? Ich meine: nichts. Die größten Musiker Englands arbeiten heute als Einkaufswagen-Zusammenschieber in Londoner Supermärkten. Doch schmälert das ihre künstlerischen Leistungen? Wer versucht, den Erfolg zu berechnen, sollte besser System-Tipper auf der Pferderennbahn werden und seine Gitarre dem kleinen Bruder schenken.
Noch ein weitverbreiteter Trugschluß: Singe ich in englisch und nehme meine Platte für tonnenweise Kohle auf, dann werden die Amis mich lieben. Das sind dann die berühmten „internationalen Standards“, an denen man sich angeblich messen lassen muß. So ein Stuß. Kein Amerikaner wartet auf die niederbayrische Bon Jovi-Kopie, wenn er das Original vor der Haustür zehntausendfach haben kann, und deine Kumpels in Ingolstadt verstehen dich auch nicht mehr. Trotzdem hält sich weiter hartnäckig das Gerücht, mit englischen Texten würde man es leichter schaffen. Ich glaube nicht daran, mir macht’s auf deutsch mehr Spaß. Aber zum Glück bin ich nicht das Maß aller Dinge, und sollte eine Metal-Kapelle aus Krefeld plötzlich Gefallen daran finden, ihre Lyrics in Kisuaheli zum besten zu geben … wunderbar, jedem so, wie es ihm gefällt.
Trotzdem: Gerade der für Rockmusik so ungeeigneten deutschen Sprache treu zu bleiben, heißt automatisch, sich auf den deutschsprachigen Raum zu beschränken. Genau das gibt einem aber doch die Chance, ein Lied zu schreiben, das jeder mitsingt, gerade weil man den Text versteht und sich damit total identifizieren kann. „Es Geht Voran“, „Macht Kaputt, Was Euch Kaputt Macht“ oder andere, seltene Perlen können für sich in Anspruch nehmen, ein echtes Lebensgefühl vermittelt zu haben. Solche Lieder bleiben unvergessen.
OK, liebe Freunde, die Sprechstunde ist zu Ende. Schlußwort? Nun, wenn man schon Sepp Herberger-mäßig in aller Öffentlichkeit Rückschau auf die Spiele der vergangenen zehn Jahre hält, dann bleiben wir doch gleich beim Fußball: Solange so viele Bands schon in der Halbzeitpause das Match für beendet erklären und den Platz verlassen, solange das Spielen auf Nationalteam-Sicherheit und das Beckenbauersche „Schau mer mal“ beschränkt bleibt, solange die Plattenfirmen schon nach einem verlorenen Spiel die Lizenz entziehen — solange fällt es mir schwer, einen Silberstreif am Horizont zu erkennen.
Nach all der Klugscheißerei möcht ich euch jetzt aber doch nicht ziehen lassen, ohne wenigstens diesen einen hilfreichen Tip für alle Kollegen loszuwerden: Das nächste Spiel ist auch im Rock ’n‘ Roll immer das schwerste.