Geil+ Praktiker


Als sie vor fünf Jahren entnervt ihre Praxis schlössen, schien die ärztliche Zunft um eine Attraktion ärmer. Pflichtbewußtsein und Nächstenliebe aber waren stärker: Die Ärzte operieren wieder! Wie immer ohne Narkose, dafür aber mit Unterleib und Seele.

So als hätten sie nur ein wenig Urlaub gemacht, sind sie plötzlich wieder da – all die „Scheißtypen“ und „Bademeister“, die „Claudias“ und „Annelieses“, „Teddybären“ und „Tittenmäuse“. Jene Süßen und Verdrehten, die den Kosmos der Ärzte bevölkerten, erstehen wieder auf. Und mit ihnen die Band selbst: In diesem Monat erscheint „Die Bestie in Menschengestalt“, das neue Album der Ärzte. Ende Oktober startet die Comeback-Tournee in Bielefeld.

Die Rückkehr der Teenie-Ritter kommt gerade noch rechtzeitig. Jahrelang hielt man im deutschen Mainstream verzweifelt Ausschau nach ein wenig Witz und Ironie. Nach Bands, die ihren Proberaum nicht für einen Bunker in Mogadischu halten. Nach Gitarristen, die nur bis drei zählen können und trotzdem stolz darauf sind.

Am meisten wird sich die Bundespriifstelle für jugendgefährdende Schriften gegrämt haben, als ihre liebsten Opfer sich 1989 auflösten. Sie hatte den Inzest-Song „Geschwisteruebe“ mit den höheren Weihen der Zensur ausgestattet. Prompt wurde er Kult. Und die Ärzte richtige Popstars. Und lösten sich auf.

Berlin-Kreuzberg, ein Hinterhof, tausend Treppen, niedrige Decken … Das Übliche. Hier befindet sich das Preußen Tonstudio, wo gerade mal wieder Punkzeit ist: Unter der Leitung ihres alten Produzenten Uwe Hoffmann konservieren die Spinn-Doktors ihre neuen Lieder. Als die Stadt noch durch die Mauer getrennt war, peilten die drei Musiker vom Westteil aus die Teenager-Zimmer der Republik an. Farin Urlaub sagt immer noch „icke“, obwohl er mitlerweüe auf dem Lande wohnt, „irgendwo bei Hamburg“. Bis heute steht das Hauptquartier der Band an der Spree, obwohl die Stadt, wie Beta B. mault, „keinen Spaß mehr macht“. Die Ärzte sind halt waschechte Wessies — seit die Zone dazugekommen ist, haben sie irgendwie die Lust verloren am Abenteuerspielplatz Kreuzberg. Zum Plattenaufnehmen reicht er gerade noch.

Einige Stücke sind Anfang August schon fertig, wenigstens im Rough Mix. Schon im Vorfeld wurde mir die Dimension dessen angedeutet, was jetzt passiert: Ich darf sie hören! Das ist nicht bloß eine Ehre, sondern eine Gnade. Über dem Mischpult drehen sich Porno-Dias, gute alte Pubertät. Der Kritiker wird auf dem Sofa plaziert, per Kraftdrink und Kaffee gefügig gemacht, dann geht es los.

Aus den Boxen dröhnt die neue Single einer Heavy-Rock-Band.

„Stimmt, der Sound ist etwas härter geworden“, bestätigt Urlaub. Das hat sicher auch mit King Kong (Farin) und Depp Jones (Bela) zu tun, den beiden Hardrock-Projekten der Arzt-Pause. Wie dem auch sei: Der Song „Schrei nach Liebe“ beschäftigt sich mit ¿

Wer bietet noch mehr? Die Ärzte-Auktion Dia karg* schwarz-welBe Anzeige Im Branchenblatt JWusikmarkf fiel aus dem Rahmen. Dort, wo sonst die Industrie Ihre Produkte In allen vier Farben anpreist, suchte .Die beste Band der Welt“ eine Plattenfirma.

.Wie machen wir es am dümmsten?‘, habe «Ich die Band, so Manager Axel Schulz, damals gefragt. .Natürlich gab es ein paar firmen, mit denen wir können – andere, um die wir lieber einen großen Bogen schlagen. Aber noch fünf Jahren Pause wußten wir einfach nicht, wo wir standen. Deshalb wollten wir auf diese Welse einen Stein ins Wasser werfen.“

Der Wellenschlag war gewärtig. Jtund ISO Angebote‘, so Schulz, seien Ihnen ins Faxgerät geflattert – nicht nur von den etablierten Plattenfirmen, sondern auch von Indies, Musikveriagen, Veranstaltern. Der Poker konnte beginnen.

In der (rohen Erwartung, daß die Plattenumsatze an frühere Platin-Tage anknüpfen würden, Oberboten sich die Wartenflrma gegenseitig. .Der helle Wahnsinn“, war der Kommentar eines Insiders Ober die Prals-Splrale. .Inzwischen müssen von dem ersten Album 430.000 Ixemplare verkauft werden, bevor Oberhaupt die Gewinnzone erreicht wlrdl‘ Unerschrocken boten einige Firmen bli zum bitteren Ende mit. Ende Juli sah es ganz danach aus, als solle die Hamburger MCA den Zuschlag bekommen. Der Vertrag lag unterschriftsreif bereit. Doch In buchstäblich letzter Minute kam ein Angebot, das die Arzte nicht ablehnen konnten. Metronome-Geschäftsführer Albert Slendebroek: .Wir haben uns eine vertragliche Konstruktion ausgedacht, die vermutlich nur mit einer so verrückten Band wie den Ärzten funktioniert. Das Klslko wird von beiden Sehen getragen.‘ Details Ober seine .ungewöhnliche Konstruktion* möchte er nicht preisgeben, räumt aber ein, doB .der Break-even für die erste Platte bei rund 400.000 Ixemplaren liegt“.

Der Vertrag läuft Ober fünf Platten (drei fest, mit Option auf dl* viert« und ein mögliches .Greatest HHs*-Album).

Um den Rubel möglichst schnall Ins Rollen zu bringen, verkündete die Metronoma schon Ende August Im .Musikmarkf, daß .Sie die Platten letzt bei uns dem Neonazi-Problem und überzeugt durch die Abwesenheit der stilisierten Betroffenheit, die andere deutsche Ergüsse dazu so unerträglich macht. Bisher war das nur den Toten Hosen mit „Sascha“ gelungen, in dem junge Nazis fröhlich verspottet und beleidigt wurden. Jeder verstand, die Reps klagten, Klassenziel erreicht.

Die Ärzte gehen mit ähnlichem Ansatz heran: „Das sind Arschlöcher, also muß man sie so nennen“, meint Farin. „Warum sollte man sie mit Samthandschuhen anfassen?“

Jemanden mit Samthandschuhen anfassen — können das die Ärzte überhaupt? Einer Band, die sich nach dem Kannibalenfutter „Soüent Grün“ nannte, konnte man schon Anfang der 80er Jahre einiges zutrauen. 1982 taufte sich Dirk Felsenheimer Bela B., Jan Vetter nannte sich Farin Urlaub, ihre Band sollte fortan „Die Ärzte“ heißen. Erster Bassist war der blaßblonde Punk Sahnie, zusammen spielten sie Ende des Jahres in einem besetzten Haus, um im Jahr darauf ganz legal ihre erste EP herauszubringen: „Zu schön, um wahr zu sein.“

Ein kleines Wunder, daß die Neue Deutsche Welle die junge Band nicht wegspülte. „Gottseidank“, ist Bela B. noch heute erleichtert. „Wir haben zum Glück nie so eine hysterische Erfolgsgeschichte erlebt wie Nena und andere. Durch die Livekonzerte bekamen wir immer mehr Fans — am Fernsehen und den großen Zeitungen lief unsere Karriere vorbei. Das kam erst am Ende.“

Nach einem kleineren Durchhänger, der der Welt unter anderem den Low-Budget-Teeniestreifen „Richy Guitar“ bescherte, stellte der Berliner Fotograf und Manager Jim Rakete 1983 den Kontakt zur Industrie her. Kurz drauf erschien das LP-Debüt „Debil“ — das erste mächtige Bekenntnis zu Flachsinn, Spaß und geilen Mädchen. Diese Band, soviel war klar, hielt nicht viel von der großen Sinnmaschine Kulturbetrieb — was kümmert mich der Atomkrieg, wenn ich Pickel habe!?

In den nächsten Jahren folgten weitere fünf Alben voller Geschichten aus Bravo-Land, aber ihren jugendgefährdenden Ruf hat sich die Band vor allem auf der Bühne erspielt. Wer sonst war schon so dreist, ein Lied über „die Weltprobleme, Südafrika, Libanon unsoweiter“ anzukündigen — um dann grinsend zu ergänzen: „Es heißt Tittenmaus“? Claudia trieb es im gleichnamigen Song mit einem süßen HassoTierchen, im indizierten „Geschwisterliebe“ machten sich Brüderlein und Schwesterchen aneinander zu schaffen. Weitere geschmacksichere Geschmacklosigkeiten:

ein Lied mit der Schauspielerin Ilse Werner („Ohne Dich“) sowie ein Video mit der Zurschaustellerin Teresa Orlowski („Bitte Bitte“). Eine alte Pop-Regel besagt: je Skandal, desto Erfolg.

Wenn ihr schon soviel Geld für den Eintritt geblecht habt, könnt ihr gleich noch ein paar T-Shirts kaufen“, pflegte Farin sein Publikum zu animieren. Und es kaufte. Nicht nur T-Shirts, auch Tonträger — insgesamt zwei Millionen. Die Ärzte wurden Stars.

Am Baß ersetzte bald der „incredible“ Hagen Liebing das Gründungsmitglied Sahnie. Bei der neuen Besetzung ist auch er nicht mehr dabei.

„Sein Job als Journalist ßllt ihn aus“, meint Farin. „Wir suchten einen Bassisten, der sich mehr um die Musik kümmern kann, als es Hagen möglich war.“

So fragte man Rodrigo Gonzalez, vormals Gitarrist der Rainbirds und zusammen mit Bela bei Depp Jones, ob er sich vorstellen könne…

„Nur, wenn ich eine grüne Metallica-Mütze bekomme“, soll dieser der Legende nach geantwortet haben. Die Mütze trägt er bei unserem Gespräch, ansonsten läßt er andere reden. Das entspricht seiner neuen Rolle — Bassisten müssen ruhig sein, massiv, ausgleichend.

Die Schlüsselfrage einer jeden Band-Wiedervereinigung lautet: Welche Gründe haben zur Auflösung geführt und warum sind diese jetzt verschwunden?

„Wir waren einfach zu groß geworden“, erklärt Bela die Situation 1988, kurz vor dem Ende.

„Auf der letzen Tournee haben wir die großen Hallen abgegrast und bekamen das Gefühl, das Geschehen nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Es hatte sich ein gigantischer Automalismus eingeschlichen, dem wir entkommen wollten,“

Immerhin: Die Toten Hosen haben es geschafft, mit ihrer eigenen Berühmtheit klarzukommen. Die Ärzte wollen das jetzt auch. „Falls wir wirklich wieder groß einschlagen“, so Urlaub, „nehmen wir uns immer wieder Urlaub, um auf den Boden zu kommen. Lieber spielen wir eine kleine Halle mehrmals als eine große einmal.“ Das sagen sie alle. „Wir tun es.“

Ein weiterer Grund, die Ärzte wiederzubeleben, war das Scheitern der Solo-Projekte. „King Kong hatte nicht den erwünschten Erfolg“, gibt Farin zu. Und auch Bela hatte sich von seiner Band Depp Jones mehr versprochen:

„Es kam vor, daß ich Radio-Interviews für die Band gegeben habe, und der Moderator spielte erstmal ein paar Ärzte-Stücke. Das läßt einem ganz schön die Luft raus.“

Anfang des Jahres begann Farm, neue Stücke auf deutsch zu schreiben. Lieder, die nur eine Band richtig spielen kann. Er rief Bela zwecks Reunion an, doch dieser lehnte ab. Erst als er einige Nummern gehört hatte, kam der Arzt in ihm wieder zum Vorschein. Die Stammbesetzung war da, jetzt fehlte nur noch ein Plattenvertrag.

Den besorgten sich die beiden auf unüblichem Weg: Im Branchenblatt „Musikmarkt“ inserierten sie mit folgendem Text: „Beste Band der Welt (Ärzte) sucht Plattenfirma“. .Bis auf eine haben sich alle großen gemeldet“, berichtet Farin. Hinter den Kulissen begann ein Poker um Millionen (siehe Kasten). Daß die Hamburger Metronome schließlich den Zuschlag bekam, hat viel mit der Freiheit zu tun, die sie der Band zu garantieren bereit war. Ärzte-Kommentar: „Alle sind glücklich.“

So liegt Deutschland also wieder im Schatten der Ärzte. Was ihr Image betrifft, haben sie nur zwei Konkurrenten: die Toten Hosen und die Fantastischen Vier. Sie mögen und respektieren beide, während über den Schweiß-Rock ä la Grönemeyer und Niedecken nur böse Worte fallen. Kein Wunder: In den beiden Fronten spiegeln sich auf Deutschrock-Niveau die Kämpfe der Punks gegen die langweiligen alten Hippies wider. Und da hatte Punk, weil unmoralisch, schon oft die besseren Karten.

Die Ärzte haben sich immer geweigert, die Welt und ihre Bewohner ernst zu nehmen. Daran hat sich nichts geändert. Obwohl auch sie älter geworden sind — was übrigens der einzige heikle Punkt unseres Interviews ist. Ich schätze sie nämlich versehentlich „Anfang bis Mitte 30“, woraufhin sie ernsthaft sauer werden.

Aber ist denn der Song über Sex mit ’ner Oma wirklich nur deshalb auf der neuen Platte, um prompt wieder auf den Index zu kommen?