Gebetbuch für die Ziegenzucht


ME: Tonio, dein Rock’n’Roll liegt auf der Ostküstenlinie; Leute wie Springsteen oder Southside Johnny müßten dir musikalisch nahe stehen. Du machst keinen Westcoast-Sound, obwohl du hier in Südkalifornien geboren und aufgewachsen bist. Du scheinst vielmehr mit deinen Liedern immer am Rande des Wahnsinns zu stehen, oder am Rande dessen, was die Gesellschaft so Wahnsinn nennt.

Tonio: Eins nach dem anderen! Vor allem, ich wuchs eigentlich nicht im typisch kalifornischen Lebensstil auf. Ich hatte zwar Probleme mit meinen Eltern und der Schule und dem ganzen Käse, aber es war nichts Weltbewegendes. Wäre ich aber mit dem gleichen psychologischen Make-Up unter identischen Bedingungen an der Ostküste aufgewachsen, wäre ich ziemlich sicher übergeschnappt. Hier hat mir die Sonne die Spitzen genommen, so daß ich über meine Probleme und Gedanken schreiben kann und sie nicht immer ausleben muß. Du mußt nämlich wissen, daß ich Gewalt hasse. Dieses Gefühle der körperlichen und seelischen ‚Gewalt – auf der zweiten der ,Love Among The Ruins‘-Seite meiner LP habe ich selbst nie erfahren. Ich war in meinem ganzen Leben nur zweimal in eine Schlägerei verwickelt. Das war, als ich noch in die High School ging, und es passierte nur deshalb, weil ich mich beim besten Willen nicht herausreden konnte. Ich hasse diese Art der Aggressivität. Ich sehe darin auch ein menschliches Grundproblem. Immer sind es die kleinen Kämpfe, die sich summieren und irgendwann einmal im ganz großen Kampf, im Krieg enden. Ich finde es besser, sich zurückzuziehen und zu sagen. Mann, laß uns doch einmal darüber reden. Wenn nur eine einzige Generation das mal durchziehen würde – es könnte klappen. Was die Westküstenszene anbetrifft – ich habe wirklich nicht sehr viel mit diesen Leuten zu tun. Gut, neulich haben mich Fagen und Becker besucht; ihr Produzent, Gerry Kaz, ist ein guter Freund von mir. Aber mit dem Rest geht’s über ein gelegentliches ‚Hello‘ nicht hinaus. Zum typischen L.A.-Freundeskreis einer Linda Ronstadt und eines Jackson Browne gehöre ich bestimmt nicht.

ME: Predigst du den Untergang?

Tonio: Sieht so aus, nicht wahr? Überleg doch mal, was heute so auf uns zukommt -Umweltzerstörung, Überbewaffnung, Inflation, Energieverknappung, Überbevölkerung, und so fort. Wirklich kein Grund, besonders optimistisch zu sein. All diese Dinge scheinen doch in naher Zukunft in etwas sehr Unangenehmes zu gipfeln. In ,The Ballad Of The Night Clocks All Quit‘ zum Beispiel rechne ich mit Politikern ab – unter anderem (lacht Tonio). Das ist einer der ältesten Songs auf der Platte, ich habe ihn 1970 geschrieben, und was passiert? Na, das Ding ist ein Pre-Nixon-Song.

ME: Sympathisierst du mit einer politischen Partei oder Richtung?

Tonio: Ich habe bis heute kein politisches System gesehen, das funktioniert. In New York wurde ich mal von der maoistischen Revolutionär}‘ Party of America gebeten, einen Benefizgig ßr irgendjemand in Texas zu machen.

Ich sagte Ihnen, he Leute, ich würde mich wirklich gerne mal mit euch unterhalten, um zu erfahren, was ihr so denkt, aber wie gesagt, sie konnten mir auch nichts zeigen, was wirklich funktioniert. Ich habe mir auch viele politische Gebetbücher angesehen, unter anderem natürlich auch die Maobibel, aber nichts gefunden außer Hilfsmittel zur Ziegenzucht. Alles klappt vorzüglich auf einem sehr individuellen Level, aber wenn erst einmal eine starke politische Überstruktur entsteht, wird’s zum Totalitarismus, weil irgendeiner oder irgendwas nach der Macht greift – auf Kosten von dir und mir. Nimm als Beispiel Faschismus, Kommunismus, Demokratie, nimm was immer du willst.

ME: Ist irgendetwas geblieben, an das du glaubst?

Tonio: Um ehrlich zu sein, ich such auch nach etwas. An das ich glauben kann. So etwas wie eine Spur scheine ich auch schon zu haben, aber ich weiß selbst noch viel zu wenig darüber, um es jemanden zu erzählen. Vielleicht mache ich demnächst einen Song draus. Aber ich bin wie alle anderen auch ich suche verzweifelt nach etwas, an das zu glauben ist. Das 20. Jahrhundert hat mit Gott und der christlich-jüdischen Ethik gründlich aufgeräumt, es ist nichts mehr geblieben, auf das wir irgendeine Moralstruktur aufbauen könnten. Wir, die Menschheit, haben auch sehr deutlich bewiesen, daß wir an unsere Technologie nicht glauben dürfen; ihre Kontrolle gleitet uns immer mehr aus den Händen. Auch an die menschliche Natur können wir nicht glauben, da es gezeigt hat. daß wir alle, aus welchem Grund auch immer, nur kleine, gierige Bastarde sind.

ME: Bei H-A-T-R-E-D‘ wird auf deiner LP ein Keyboard von einer Maschinenpistole zerstört…

Tonio: Es war eine Nato HK 91, 20er Satz Munition, 10er Stöße, panzerknackend. Das Ganze kam so – auf der ganzen LP gibt’s außer Gart Hudsons Akkordeon keine Keyboards, sowas kann man heute einfach nicht machen. Und so entschieden wir uns ziemlich schnell, ein kleines, altes Orgelstück zu erschießen, das im Studio herumstand und bei dem die meisten Tasten sowieso immer hängenblieben. Ich rief also bei Roger Nichols an, einer von Steely Dans Ingenieuren, ein unglaublicher Techno-Zauberer. Der Junge ist unwahrscheinlich gut: er baut und programmiert seine eigenen Computer, hat einen Tick für alles Technische und ist mindestens genauso verrückt wie wir. Das Wichtigste – er hat eine Unmenge von Gewehren und Pistolen. Ich erzähle ihm also meinen Plan, das kleine Ding von seiner Maschinenpistole erschießen zu lassen, und er sagt, okay, bring’s rüber, wir machen das Ding im Shangri-La-Studio. Ich fragte ihn noch nach der Legalität des Ganzen, und er meinte ,erstens sei’s eine Halbautomatik, also legal, und zweitens gäbe es zwar ein Gesetz der Californischen Coastal Commision, das besagt, innerhalb von fünf Meilen von der Küste dürfe keine Waffe abgefeuert werden, aber sein Zimmernachbar sei der örtliche Sheriff, und also ginge alles klar.

Als wir dann dran waren, die Orgel zu erschießen, alles auf Band, Film und was-weiß-ich-noch-was aufnehmen, Roger stand noch mit der HK 91 im Anschlag, da auf einmal starren uns lauter 38er Colts und Schrotflinten mit dranhängenden Polizisten entgegen. ‚Drop it ‚, sagt der eine zu mir, und da er so komisch lächelt dabei, nehme ich ihm ab, daß er durchziehen würde. Auch Roger hat nach dem ersten ‚Laß-sie-fallen-oder-ich-leg-dich-um‘ den Glauben an einen Scherz seines Freundes verloren und legt ganz vorsichtig die Waffe nieder. Und plötzlich wimmelt das ganze Haus von Cops, alle bewaffnet. Sie durchsuchen das ganze Haus und spielen verrückt.

Was war geschehen? Nun, Roger vergaß ganz einfach, seinen Freund von unserem Plan zu informieren; einige Vietnamveteranen, die in der Nähe des Studios wohnen, erkannten den sehr markanten Sound der Waffe wieder, riefen bei den Sheriffs an und erzählten ihnen, irgendein Verrückter laufe Amok mit einer MP. Alles in allem waren ungefähr 20 Cops in 11 Fahrzeugen anwesend. Es wäre beinahe nicht mehr lustig gewesen!