Garagenrock now!


Gibt es etwas Schöneres, als bei der Geburt einer Legende dabei zu sein? Zum Beispiel am 28. Juni 2001 im Londoner Nightclub Heaven: Da setzten fünf hübsche, leicht verwahrloste New Yorker Buben zum ersten Mal als Headliner ihre Füße auf englischen Bühnenboden. Die 1.200 Zuschauer waren das größte Publikum, vor dem sie bis dahin gespielt hatten, und auch das hysterischste. Befeuert von Mundpropaganda, ein paar hymnischen Zeitungsartikeln und ganzen zwei Singles, zahlten Neugierige bis zu 180 Pfund für ein Ticket, um gemeinsam mit jeder Menge Prominenz (von Thom Yorke und James Dean Bradfield bis Chrissie Hynde, Kate Moss und Neil Tennant, von denen einige auch am dritten Abend in Oxford wieder dabei waren) das „nächste große Ding“ in seiner Geburtsstunde zu erleben: The Strokes.

Der Rest der Geschichte ist bekannt: Plötzlich sprach die ganze Welt von der neuen Sensation, ebenso plötzlich sprossen aus den Kellern US-amerikanischer Groß- und Kleinstädte (vereinzelt auch in Großbritannien und anderswo) neue, aufregende Bands im Stundentakt hervor, die (fast) alle eines gemeinsam hatten: jugendliche Wut, überschäumende Energie, eine gesunde Abneigung gegen die monströse Technik moderner Studiofabriken, die Liebe zum unverfälschten Lärm von Straßen, Garagen und Hinterhöfen, wenig Interesse an verfeinerter Spielkunst und elaborierten Songstrukturen, den gewissen Charme der (auch äußerlichen) Schlampigkeit und das ominöse „The“ im Namen.

Und schon sammelte sich eine veritable Bewegung: Vom Edel-Klang der (meist hoffnungslos überalterten) Superstars, drögen „Nachwuchs“-Replikaten der Industrie und synthetischer Monotonie übersättigte Fans warfen sich hordenweise in Lumpen-Anzüge und New-York-Dolls-T-Shirts und feierten einen Karneval der Befreiung; Musikjournalisten bejubelten die Wiedergeburt des Rock ’n‘ Roll und die oft angekündigte, aber stets im Sumpf anti-origineller Hardrock-Aufkochereien ertrunkene Punk-Renaissance. Eine neue Welle war geboren, und sie rollte so schnell, dass nicht einmal Zeit blieb, ihr einen griffigen Namen zu verpassen – man einigte sich notgedrungen auf Variationen mit, eben: „The“.

Wie konnte all das passieren? ist die Popgeschichte nicht übervoll mit gescheiterten Revolutionen , geplatzten Hypes, verwehten Hoffnungen und verschütteten Undergrounds? Die Antwort ist einfach: Wer einen Blick auf die Veröffentlichungslisten großer Plattenfirmen aus dem Jahr 2000 wirft, muss sich wundern, dass diese Firmen allem MP3und Copy-Kills-Music-Wehklagen zum Trotz immer noch so groß waren und sind und dass nicht alles schon viel früher losging. Aber auch das ist erklärbar: Es fehlte der Funke.

Das Musikgeschäft folgt seit seiner Erfindung ein paar Grundregeln. Regel Nummer eins: Revolutionen kommen immer aus einer Ecke, mit der niemand gerechnet hat. Dabei handelt es sich meist um die Ecke, die von dem Feld, das die Musikindustrie gerade überdüngt, am weitesten entfernt ist. Regel Nummer zwei: Aus welcher Ecke die nächste Revolution kommt, könnte man sich also immer vorher denken (oder zumindest wünschen). Das tun auch viele Leute – aus Nostalgie, Übersättigung mit Industriemüll, Langeweile usw. -, bis es so viele sind, dass die Revolution losbricht. Regel Nummer drei: Auslöser ist meistens eine einzige Band und eine Platte. Sind es mehr Bands und haben sie möglicherweise zum Zeitpunkt der Revolution noch gar keine Platte veröffentlicht, so spricht man von einem veritablen Epochenwechsel (vgl. Punk). Regel Nummer vier: Ist die Revolution erst einmal da, hängt die Musikindustrie an die Lokomotive sofort zehn Wagen an. So kam es, dass Anfang der 80er Abwärts, Trio, Fräulein Menke, Joachim Witt und die Spider Murphy Gang im gemeinsamen NdW-Express ans gemeinsame Ziel (die Charts) fuhren. So konnte es auch geschehen, dass man 1978 im Plattenladen im Punk-Fach wühlte und dort Blondie, Television, Ramones, Talking Heads, Suicide, Patti Smith und Mink de Ville versammelt fand – die hatten alle zufällig mal im selben New Yorker Club gespielt, und – schwupps! gehörten sie zusammen.

Wenn Sich erst einmal eine kritische Masse aus Langeweile, Überdruss, wehmütigen Erinnerungen, schlechten Platten der letzten Revolutionäre (und ihrer Nachahmer) sowie einer ausreichend hoffnungslosen ökonomischen Gesamtsituation, in der nicht reich geborene Teenager nur noch die Wahl zwischen Armut und Drecksjob (oder beidem) haben, angesammelt hat, braucht es, wie gesagt, nur noch einen Auslöser. The Strokes waren so einer, und wie die meisten ihrer Vorgänger waren sie mit durchschnitt lieh 20 nicht nur – gemessen an dem in lauen Phasen stetig steigenden Einstiegsalter neuer Popstars – phantastisch jung und eine Bande verschworener (Schul-)Freunde, sondern hatten auch hübsche Gesichter und grandiose Namen (Valensi! Fraiture! Casablancas! Hammond Jr.! Moretti!). Auch das Umfeld war ideal: Ihr (zufällig 1977 geborener) Entdecker und Manager Ryan „Wiz Kid“ Gentles, damals Booker im New Yorker Club Mercury, hatte mit seiner eigenen Band SelzerS gelernt, woran Karrieren schon in der Anfangsphase scheitern und wie man das vermeidet; zudem besitzt er eine Ausstrahlung, die ihm inzwischen diverse eigene Fanclubs eingebracht hat. Produzent Gordon Raphael ist kein abgefuckter Hit-Schmied, sondern ein stadtbekannter Szene-Enthusiast, der jede Gelegenheit nützt, junge New Yorker Bands zu fördern und unterstützen – und nebenbei als Musikjournalist auch mit einigen anderen wichtigen Kniffen des Geschäfts vertraut. Und dann ist da noch JP Bowersock, der „Guru“, der den fünf Frischlingen nicht nur beibrachte, wie man mit Gitarren umgeht, sondern ihnen auch unbezahlbare Nachhilfe-Lektionen in obskuren Nebenfächern der Pop-Historie gab (wobei Albert Hammond Jr. seinen Kollegen einiges voraushatte: Sein Vater war in den 7oern selber Popstar; seine Hits „(1t Never Rains In) Southern California“, „Free Electric Band“ und „I’m A Train“) laufen heute noch im Radio. Wundert sich noch jemand, dass im CD-Booklet zu „Is This It?“ alle Drei gleichberechtigt neben den Bandmitgliedern abgebildet sind? Übrigens konnten auch The Libertines von ihrem Produzenten dossier

eine Menge lernen: Der heißt Mick Jones – genau: jener Mick Jones, der einst mit The Clash die Punk-Revolte anführte.

Wie diese profitierten die jungen Rebellen vom „Dinosaurier-Effekt : Die letzte Sensation (Rockabilly, Glam, Prog-Rock, Britpop usw.) war jeweils lange genug her, die Protagonisten millionenschwer und müde geworden, als nackte Pseudo-Kaiser entlarvt oder verstiegen in Elfenbeinturm-Labyrinthen von zweifelhaftem Unterhaltungswert. Wer 1975 Emerson, Lake &. Palmers „Works“ hörte, eine späte T.Rex-Single kaufte oder ein Genesis-Konzert besuchte, konnte Punk förmlich riechen. Auch im Frühjahr 2001 gab es – seien wir ehrlich – nicht allzu viele, die aus purer Lust an der Freude „Kid A“ oder das aktuelle Oasis-Album (welches war das gleich wieder?) auflegten.

Wenn in einer solchen Situation viele „Multiplikatoren“ (vom Plattenfachmann im Freundeskreis über den DJ bis zum Musikjournalisten) gleichzeitig von derselben Sache begeistert sind und diese Begeisterung öffentlich kund tun, entsteht das große böse Ding: der Hype. Das Wort lässt sich zu etwa gleichen Teilen als „billiger Schwindel“ und „übertriebener Rambazamba“ übersetzen; beides ist falsch und hat doch einen wahren Kern: Die meisten Bands, die im Frühjahr 2002 in einem Atemzug mit den Strokes genannt wurden, sind längst als Irrtümer entlarvt und vergessen; aber „Is This It?“ klingt so frisch und aufregend wie am ersten Tag. Und von Black Rebel Motorcycle Club bis The Kills kamen jede Menge neue Namen dazu, ohne dass jemand sie an den Haaren herbeigezogen hätte. Offensichtlich konnten der neuen Welle weder übereifrige „Trend“-Marktschreier noch das übliche Naserümpfen der Traditionalisten schaden.

Apropos: Wahr ist, dass weder die Gitarren, noch die Rhythmen, die Text-Themen, die Anzüge, schon gar der trockene, Speed-infizierte Sound der meisten The-Bands „neu“ sind. Es ist Rock ’n‘ Roll, wie er in ähnlichem Geist und mit ähnlichem jugendlichen Zorn schon 1965 (zur Zeit der psychedelischen Garagenbands) und 1977 von Tausenden hastig (und meist irgendwie selbst) produzierten Singles lärmte, – wie er, genau genommen, seit den 30er Jahren gespielt wird, auf die sich etwa die White Stripes explizit beziehen, während The Strokes dem Vorwurf, sie seien Television-Replikanten, offensiv begegnen, indem sie deren „See No Evil“ live ganz einfach in ihren Hit „Barely Legal“ einbauen, und die Yeah Yeah Yeahs in unüberbietbarer Frechheit erklärten, sie hätten ganz einfach alles geklaut – wenn nicht von ihren Vorbildern The Cramps, dann eben von deren Vorbildern. Auch die Themen – Liebe, Hass, Verzweiflung, Überdruss, Zerstörungslust – haben sich nicht verändert. Seltsam ist nur, dass der Rock ’n‘ Roll jedesmal, wenn man ihn eine Weile aus den Augen verloren hat, wieder wie neu aussieht und klingt und seine Wirkung stets die gleiche ist: allgemeine Aufbruchsstimmung und das Gefühl, aktuelle Musik sei es mit einem Mal (wieder) wert, sie nicht nur nebenbei zu hören, sondern auch zu sehen, darüber zu reden und am besten gleich die ganze Welt mit ihr zu verändern. Im Gegensatz zu manchen Vorlaufer Wellen, die anfangs lokal begrenzt waren – etwa auf Liverpool, New York, London -, hatte die neue Welle von Anfang an kein festes Zentrum. Zwar ist New York mit den Strokes, Yeah Yeah Yeahs und anderen mal wieder zum leuchtenden Punkt auf der Pop-Landkarte avanciert, aber gleich gesinnte Bands schössen weltweit aus dem Boden – oder waren überhaupt schon vorher da gewesen, aber noch nicht in den Armen von Industrie und Presse gelandet und somit noch „frisch“ (wie die White Stripes und die Moldy Peaches).

Mit ihren Punk-Vorgängern von 1977 (und letztlich auch mit der Garagen-Band-Welle der 60er) haben die neuen The-Bands auch etwas Unmusikalisches gemein: die schwierige kommerzielle Durchsetzbarkeit. Zwar sind The Strokes inzwischen zweifellos Superstars, zwar blicken uns The White Stripes von unzähligen Magazin titeln entgegen – aber im Vergleich mit der Begeisterung der Insider und der Knochentour, die beide Bands hinter haben, ist der reale Ertrag doch ernüchternd gering. Zur Erinnerung: Auch die Galionsfiguren des Punk (namentlich Sex Pistols, The Clash, The Jam) feierten Charts-Erfolge; aber so einflussreich sie auch waren – etablierte Dinosaurier wie Genesis, Pink Floyd und Supertramp konnten sich angesichts der Verkaufszahlen auf lange Sicht ein amüsiertes Schulterzucken erlauben. Und ein paar Jahre nach dem großen Schock war alles (scheinbar) wieder wie zuvor. Ganz zu schweigen von einsamen Sixties-Helden wie MC 5, The Stooges oder Velvet Underground, die die Hitlisten zeit ihrer Existenz nur von außen sahen.

Erfolgreiche Solitäre wie The Smiths oder die Manie Street Preachers sind selten; noch seltener gelingt es Bands, die mit einer Welle an die Strände des Endverbrauchs geschwemmt werden, sich langfristig durchzusetzen. Dafür ist es nötig, den eigenen Horizont ebenso schnell wie umfassend zu erweitern und/oder auf erprobte, marktgängige Muster zurückzugreifen und sie mit eigenen Mitteln zu erweitern, wie das von der Punk-Generation etwa The Clash, den Talking Heads und Blondie gelang. Dagegen können allzu sture Vertreter einer neuen Welle höchstens mit einer dauerhaften, aber begrenzten Kult-Gefolgschaft rechnen (wie Sham 69), kehren nach kurzem Erfolgsschub in ihre Kellerquartiere zurück (wie die traditionalistisch orientierten Pub-Rocker von Dr. Feelgoodbis Eddie & The Hot Rods) oder zerbrechen am eigenen Anspruch (wie etwa Television und die meisten charmanten Dilettanten von Adverts bis New York Dolls). Wer durch hält, braucht einen langen Atem und mindestens so viele Leben wie eine Katze (siehe Ramones).

Aber muss uns das schrecken oder frustrieren? Ware es so schlimm, wenn die zweiten Alben der Strokes, der Libertines, des Black Rebel Music Club in die Hose gingen (oder gar nicht erst erschienen)? Ist ein einziger aufregender Moment nicht wertvoller und schöner als ein Leben mit No Angels, „Deutschland sucht“-Superstars und alle fünf Jahre einer Stadion-Revue greiser Stones und Springsteens? War es nicht immer schon so, dass das wirklich Gute für die Wenigen ist? Und ist es nicht sowieso egal, was irgendwann später mal passiert, wenn man das Glück hat, bei der Geburt einer Legende dabei zu sein?