Furchtlose ME-Autoren verteidigen ihre peinlichsten Lieblingsplatten gegen das Urteil der Restwelt.
Dennis Plauk über SONGS FROM THE WOOD von Jethro Tull
Ich hab mir das genau überlegt: Wenn ich erzähle, dass meine Schwäche für SONGS FROM THE WOOD eine Art Kindheitstrauma ist, bin ich – schwupps!aus dem Schneider. Das kennt ja jeder: Platten, die einem die Eltern immer zum Einschlafen aufgelegt haben oder die zufällig liefen, als man mit der ersten Liebe allein war, die schließt man auf ewig ins Herz – auch wenn sie dort eigentlich nichts zu suchen haben. Die Sache ist nur die: Ich müsste Sie anlügen. In Wahrheit kenne ich SONGS FROM THE WOOD seit gerade mal fünf Jahren. Damals war ich 18 und abends zum ersten Mal mit dem eigenen Auto unterwegs. Gott weiß, warum es ausgerechnet Jethro Tüll sein mussten, an denen sich mein neues Freiheitsgefühl festmachte; jedenfalls kam,The Whistler“ im Radio und blies mich um. Ein paar Tage später erstöberte ich das Album dazu für einen marktgerechten Spottpreis in der Ramschkiste eines Plattenhändlers, der froh schien, das äußerlich zugegebenermaßen scheußliche Ding endlich loszuwerden: Auf dem Cover hockt ein verwilderter, nicht sehr gescheit dreinschauender lan Anderson am Lagerfeuer im Wald, neben sich die Flinte und allerlei frisch erlegtes Geflügel. Bildsprache, Baby! Mitte der 70er Jahre hatte derTull-Häuptling die Zivilisation satt und zog von London weg aufs Land hinaus, wo er über Monate an songs from the WOOD schrieb, besessen von altenglischer Mythologie und der Idee, die Vereinbarkeit von Folk, Rock und mittelalterlicher Volksmusik zu beweisen. Ich schwöre: Gewöhnlich gruselt es mich vorderlei Mischungen aus Minnesang, Gezupf und Pfeifenspiel, doch hier – mit Glocken, Tamburin und honigweichen Mandolinen, mit Drums, Gitarren und Andersons alles überragenden Zauberflöten – funktioniert’s schlicht hinreißend. Und taugt mir ein halbes Jahrzehnt danach noch wie am ersten Tag: Letzthin gab’s die Platte im Sonderangebot eines Elektrofachmarkts, digital glanzpoliert auf CD. zusätzlich bestückt mit einer formidablen Liveversion von „Velvet Green“. Für sechs Euro! Dabei hätte ich’s auch zum doppelten Preis mitgenommen!