FKA Twigs


Es ist immer schön, wenn man erzählen kann, dass während eines Interviews Dinge passiert sind, die man so noch nicht erlebt hat. Allein schon aus diesem Grund lohnt sich eine Verabredung mit FKA Twigs. Bei ihr erlebt man ein wahres Wunder der Anatomie. Diese Dame kann Laute vorführen, die direkt aus den Gelenken kommen. Man muss sich ihren Klang wie den eines alten, über die Jahre strapazierten Bettes vorstellen. Oder den eines brechenden Astes. Wenn sie ihren Kopf kräftig zur Seite drückt, hört man deutlich das Knacksen der Halswirbel. Wegen dieser Besonderheit geht sie nicht etwa zum Orthopäden. Sie will der Welt weiter zeigen, warum sie ihren Spitznamen trägt: Freunde nennen sie seit jungen Jahren Twigs, auf Deutsch Baumzweige. Genau so wollte sich die unter dem Namen Tahliah Barnett geborene Engländerin auch als Musikerin nennen, aber dann kam ein amerikanisches Duo dazwischen, das diesen Namen schon seit Ende der Neunziger benutzt. So kam das FKA dazu – es steht für „Formerly known as“. Immerhin: Ihre Knie könne sie bewegen, ohne dass es gleich übermäßig klicke oder knacke, sagt sie. Das sei schon wichtig, sie müsse sich auf absolute Bewegungsfreiheit verlassen können.

Ihre ersten gut bezahlten Jobs hatte sie als Tänzerin in Videoclips anderer Künstler. Auf ihrem Album rekapituliert die jetzt 26-Jährige diese Phase der Vergangenheit im Song „Video Girl“. „Ich musste Geld verdienen. Das Tanzen bot sich an, weil ich als Teenager Ballettstunden hatte. Ich klopfte also bei Produktionsfirmen an, fragte mich bei MTV durch und bekam am Ende einen Fuß in die Tür.“ Die ganz billige Nummer mit Bikini am Swimmingpool in irgendeinem HipHop-Video kam für sie nicht infrage. „Ich wurde gebucht, wenn Videos von Künstlern mit eigenem Profil gedreht wurden.“ Twigs war in dieser Szene schnell eine gefragte Person, wurde irgendwann sogar auf der Straße erkannt. Angesichts der Tatsache, dass sie in Videos von Jessie J auftauchte, war das kein Wunder. Ein erfüllendes Erlebnis war es indes nicht. „Ich merkte sehr schnell, dass ich nur dazu da war, vor der Kamera die Leidenschaft einer anderen Person auszudrücken. Ich musste über eine Schmerzgrenze gehen, wenn ich es gut erledigen wollte. Das Video zu ,Do It Like A Dude‘ wurde mitten im englischen Winter in einer unterirdischen Gruft einer Kirche gedreht. Nirgends gab es eine Heizung. Wir hatten nicht viel an und sahen wie heiße Handwerkerinnen aus, die in der Autowerkstatt arbeiten. Man besprühte uns mit Wasser, damit es so aussieht, als ob wir schwitzten. Das war echt die harte Schule.“

Twigs merkte schnell, dass sie dieser Welt entfliehen musste. Was hatte sie da auch zu suchen? Sie wollte ohnehin lieber Sängerin werden. Ihre ersten Gesangsstunden hatte sie im Alter von zwölf Jahren in der ländlichen Gegend um Cheltenham im Südwesten Englands. Pop interessierte sie nicht. Sie lernte bei einer Opernsängerin und hörte zu Hause Gospelsongs und Spirituals. Später in London kam sie mit der alternativen Cabaret-Szene in Kontakt und interpretierte mit voller Kraft Stücke von Aretha Franklin, Etta James und Janis Joplin. Das hatte den Nachteil, dass sie keine richtige Stimme mehr hatte, als sie nach Hause kam und an eigenem Material arbeiten wollte. Während der Aufnahme ihrer ersten EP habe sie sehr sanft singen müssen, weil ihr die Bruststimme abhanden gekommen war, sagt sie. Auf ihrem nun erschienenen Debütalbum präsentiere sie zum ersten Mal den Stimmumfang, der ihr vorschwebt. Es war alles ein Teil eines Lernprozesses. „Heute ist es üblich, dass man schon als Teenager mit dem Musikgeschäft in Kontakt kommt. Britney Spears oder Christina Aguilera schafften mit 16 und 17 Jahren ihren Durchbruch. Bei mir geht es erst jetzt richtig los, zehn Jahre später. Aber ich glaube, dass es nicht von Nachteil ist, wenn man auf Lebenserfahrung zurückblicken kann.“

FKA Twigs hat sich für den Schritt in die große Öffentlichkeit den richtigen Zeitpunkt ausgesucht. Niemand sonst dominiert das Pop-Jahr 2014 so wie all jene Künstler, die dem Soul die Urkraft nehmen und auf zerbrechliche, ätherische oder minimale Art interpretieren. FKA Twigs gehört ganz eindeutig dazu, will sich aber keinem Genre zuordnen lassen. „Ich finde es sehr schwer, über meinen Musikstil zu sprechen. Ich kann ihm keinen Namen geben. Bei mir läuft alles spontan ab. Ich sitze mit wechselnden Produzenten zusammen. Wenn sie einen guten Beat finden, zu dem ich ohne Probleme singen kann, ist das für mich ein Grund, bei dieser Idee zu bleiben. Es ist eine Frage des Gefühls. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich auf schmetternden Gesang verzichte. Ich habe mehr davon, wenn ich weniger mache.“ Twigs weiß, was sie tut. Sie brachte schließlich schon genug anderen Leuten etwas bei, unterrichtete in Londoner Jugendzentren. „Dann kürzte die Regierung die sozialen Ausgaben, und das Studio musste geschlossen werden. Der Kurs war beliebt, er gab den Kids eine Perspektive. Als ich ihn beenden musste, bekam ich flehende Anfragen von ehemaligen Teilnehmern. Sie wollten unbedingt weitermachen, aber ich musste sie enttäuschen. Das hat mir das Herz gebrochen.“

Wer weiß, was passiert wäre, wenn das Projekt nicht jäh zum Ende gekommen wäre. So hatte Twigs plötzlich Zeit, Kontakte zu Produzenten zu knüpfen, mit denen sie ihre Musik entwickeln konnte. Einer der ersten war Tic Zogson, der für das Label Young Turks (The xx, SBTRKT) arbeitet, für das sie nun aufnimmt. Später kam der aus Venezuela stammende und in New York in seinem Schlafzimmer bastelnde Arca hinzu. „Mit ihm fühlte es sich so an, als ob unterschiedliche Farben mit voller Wucht aufeinanderprallen. Ich will nicht mit Leuten zusammenarbeiten, die für Geld Dienst nach Vorschrift abspulen. Es muss knistern.“

An der Entstehung des Debütalbums waren schließlich Leute mit größeren Namen beteiligt. Emile Haynie war schon mit Lana Del Rey im Studio. Paul Epworth ist seit den 00ern als Produzent (Babyshambles, Bloc Party) eine etablierte Kraft, Clams Casino ein Protagonist der amerikanischen Cloud-Rap-Szene. Dev Hynes ist seit seinen Produktionen unter den Namen Lightspeed Champion und Blood Orange ein Player. Wer mit solchen Leuten arbeitet, will hoch hinaus, könnte man meinen. FKA Twigs bestreitet das. „Ich habe bisher niemanden getroffen, der von mir einen Hit erwartet. Mir hat niemand gesagt, dass ich mich ins Flugzeug nach L. A. setzen und dort ein paar Hits produzieren soll. So eine Vorgehensweise fände ich albern. Sicher: Ich will zu den Hörern eine Verbindung herstellen, aber nicht mit einem Hit, den man heute hört und morgen schon wieder vergessen hat. Wenn dieses Album kein verbindendes Element enthält, ist es vielleicht beim nächsten Mal dabei. Ich habe Zeit.“ Albumkritik ME 8/14