Festival-Nachbericht: Pop-Kultur, wie geht es dir?


Ein Festival namens "Pop-Kultur" ist geboren. Zum ersten Mal findet es als Nachfolger der Berlin Music Week statt und will einen radikalen Neuanfang. Die Location: das legendäre Berghain. Die Message: Hier wurde Geschichte geschrieben. Das Gefühl: zwiegespalten.

Wer einmal so richtig die Stirn runzeln möchte, liest sich Seite 20 des Festival-Büchleins durch. Es geht um Balbina, deren Texte „Oberflächen so gekonnt übereinander [falten], dass sich plötzlich die ganz tiefen, schmerzhaften Wahrheiten aus ihnen heraus stülpen.“ Wow. Das Pop-Kultur-Festival fährt die ganz großen Worte auf. Und ja, es gehört auch etwas Mut dazu, die Musik von Balbina so theatralisch aufzuplustern, ihr so viel Tiefgründigkeit und Kunstcharakter zu unterstellen. Wer sich mit ihrem Debütalbum ÜBER DAS GRÜBELN noch nicht beschäftigt hat, steht spätestens an diesem Donnerstag um 18:30 Uhr die traurige Enttäuschung noch bevor. Balbina liest Gedichte vor. Mit der Ausstrahlung, Betonung und Optik einer strebsamen Klassensprecherin der 4b. Sie war stets bemüht, könnte man am Ende sagen. Und hat es sicherlich nur gut gemeint.

Schnipo Schranke machen sich nichts aus der Hitze in der überfüllten Kantine am Berghain.
Schnipo Schranke machen sich nichts aus der Hitze in der überfüllten Kantine am Berghain. (Foto: Roland Owsnitzki)

Ein besonders wertvolles Stück Popkultur liefern im Anschluss Schnipo Schranke. Die beiden Mädels rumpeln sich durch ein Set aus herrlich ehrlichen Texten über Freundschaft, Beziehungen, das Leben. Sie weisen auf ihre erste LP hin, die nächste Woche erscheint. Kaufen soll man sie. Aus dem Publikum ruft jemand, er bekäme sie gern geschenkt. „Wir brauchen aber die Kohle“, antwortet das Duo schamlos. „Wir auch“, schmettert jemand zurück. Die Antwort: „Ja Pech!“ Schnipo Schranke spielen den nächsten Song an. Sie liefern immer wieder Zwischenkommentare, die ihre Musik noch authentischer werden lassen: „Wir wollen nicht eure Hände sehen und uns interessiert auch nicht, ob ihr gut drauf seid. Berlin!“ Das Publikum schmunzelt um die Wette.

Neneh Cherry erteilt am Donnerstag, bei dem einen an allen Orten des Festivals viel mehr Menschen als noch am Vortag begegnen, in der vollen Halle am Berghain eine Lektion in Sachen Bühnenpräsenz. Ein Schlagzeuger, einer am restlichen elektrischen Instrumentarium, das genügt als Band: genannt „RocketNumberNine“, und der Rest des Raums ausgefüllt mit dieser Frau, die zwar anfangs meint, dass dieser Ort besondere „Power“ hätte, aber aufladen tut sie ihn selbst. Wie ihr dann nur dieses um den Kopf gewickelte Handtuch, zu „Woman“, ausreicht, um ein Statement dieser Stärke zu setzen. Kein Wunder, dass hier nach jedem Song, bei fast jeder Geste, nur dank eines kurzen Lächelns lautstarker Applaus einsetzt.
The Juan MacLean bespielen danach das Berghain. Freudig: Sängerin Nancy Whang ist dabei und plustert sich mit auftoupiertem Haupthaar und großer Stimme divenhaft auf. Weniger freudig: das Schlagzeug, das den Live-Charakter der Performance zwar enorm unterstreicht, letztendlich aber die elektronische Leichtfüßigkeit in der Musik zersägt. Cluberprobte tanzen noch bis in die späte Nacht hinein. Pflichtbewusste, die am nächsten Werktag um 9:00 Uhr im Büro sitzen müssen und von Cluberprobten als Spaßbremsen betitelt werden, treten den Heimweg an.

So war’s am Freitag beim Popkultur Festival 2015 in Berlin

Der letzte Festivaltag beginnt, wie schon seine Vorgänger, gemächlich mit Lesungen und Talks. Heiko Maas ist auf Fragen zum Thema Urheberrecht vorbereitet. Bernard Sumner liest aus seiner Autobiografie vor und wird im Laufe des Abends über das Gelände geführt. Eine besonders gute Entscheidung scheint er, oder sein Begleiter, getroffen zu haben: Sie sehen sich den Auftritt von Chuckamuck an. Wenn Oska Wald davon wüsste, wer ihn am Treppengeländer im hinteren Teil des Berghains lehnend und zur Bühne blickend sehen würde, ließen sich Chuckamuck aus der Ruhe bringen? Das Berliner Quartett schrammelt mit viel Leidenschaft, Tanzwut, Geschrei und erstaunlich präzisen Gitarrenriffs.

In den vorderen Reihen rempeln sich zuckende Alternative gegen den Rhythmus der Musik an. Das Stammklientel des Berghains ist nicht anwesend. Es lacht sich bestimmt ins Fäustchen und freut sich, dass das Festival unter der Woche stattgefunden hat. So ist die traditionelle Clubnacht auch an diesem Samstag gesichert. Und die damit verbundenen, gängigen Einnahmen des Berghains auch.

Roland Owsnitzki