Festival-Nachbericht: Pop-Kultur, wie geht es dir?
Ein Festival namens "Pop-Kultur" ist geboren. Zum ersten Mal findet es als Nachfolger der Berlin Music Week statt und will einen radikalen Neuanfang. Die Location: das legendäre Berghain. Die Message: Hier wurde Geschichte geschrieben. Das Gefühl: zwiegespalten.
Das Pop-Kultur-Festival ist der Nachfolger der Berlin Music Week, einem eingestaubten Branchentreffen, das eine Grunderneuerung tatsächlich bitternötig hatte. Und so erinnern die Veranstalter 2015 an die goldenen 90er, die Hochzeiten der Musikindustrie, nur eben viel emotionaler. Sie setzen auf Feelings statt Fachidiotie. „Damals war alles besser, weißt du noch, als Bowie 1977 genau da stand, wo wir jetzt stehen? Als DJ Buket 1998 in Berlin-Neukölln saß und sich den Dubstep erdachte? Als der Moonwalk im Winter 1978 am Zoologischen Garten erfunden wurde?“ Die Einspieler, die in den Umbaupausen auf große Leinwände projiziert werden, wollen dem Publikum genau das vorgaukeln. Ob wirklich jeder einzelne weiß, dass diese Behauptungen nicht stimmen, bleibt ein heimlicher Gedanke, der sich mit vielen Fragezeichen im Kopf festbeißt und Schmerzen verursacht.
„Das Pop-Kultur-Festival ist der Nachfolger der Berlin Music Week, einem eingestaubten Branchentreffen, das eine Grunderneuerung tatsächlich bitternötig hatte.“
In der Kantine machen sich Only Real aus England warm. Niall Galvin, so heißt Only Real abseits der Bühne, ist ein echter Schluffi und spielt sich mit viel Witz, Ironie und Sprechgesang durch seine selbst gebauten Dream-Pop-Welten. Und das für nur sechs Euro, wenn man einzig diese Veranstaltung sehen möchte. Popkultur für Jedermann. Ist das die erste spürbare Konsequenz aus der Tatsache, dass das Festival eine staatliche Finanzspritze bekommen hat?
Bianca Casady nutzt kurze Zeit später die Abwesenheit ihrer Schwester Sierra und von der gemeinsamen Gruppe CocoRosie, um ihrer Kunst eine klare Performance-Kante hinzuzufügen. Vor mehr oder weniger gespenstischen Schwarz-Weiß-Bildern und kurzen, aber hinreichend verstörenden Videos auf großer Leinwand, die noch aus dem Fundus des Blair Witch Projects stammen könnten, schreitet sie in sich gewandt die linke Bühnenseite ab und bringt ihre unverkennbar quäkenden Gesang zum Klingen. Dazu gibt es Tanztheater und eine Band, die fast wie die ganz frühen Bad Seeds dem Goth Rock huldigt.
Gegen Mitternacht führt Sebastian Schipper seinen immer weiter gefeierten One-Take-Spielfilm „Victoria“ vor. Menschen sitzen auf dem Betonboden und bestaunen den Sog des Werks, der auch noch funktioniert, obwohl Schipper die meiste Zeit den Ton weglässt und stattdessen Schallplatten zu den Bildern auflegt. In wenigen, treffenden Sätzen erklärt er, wo sie herkommt, die Magie, in seinem Film.
So war’s am Donnerstag beim Popkultur Festival 2015 in Berlin
Über die „gefühlte Temperatur“ in der vollgestopften Berghain-Kantine will man gar nicht nachdenken, als dort am frühen Donnerstag-Morgen das Trio Die Nerven aus Stuttgart spielt. Nun, was heißt „spielt“. Die drei rücken ihrem Publikum auf den Pelz, setzen der eigenen Musik zu, erreichen eine Intensität, die sich wohl – ihr Dilemma – niemals auf Platte bannen lässt.
Popkultur, das ist allgemein bekannt, ist viel mehr als subkulturelle Musik und hippe Clubs. Die Macher des Festivals wissen das natürlich und lassen, ein Glück, auch Personen fernab der Branche auf die Bühne. Und so beginnt der zweite Festivaltag am späten Nachmittag mit Eric Jarosinski.
Der amerikanische Philosoph und studierte Germanist twittert als @NeinQuarterly zeitgeistliche Alltagsweisheiten und liest aus seiner Schriftsammlung vor. Dass er dabei von einem Akkordeon begleitet wird, ist ziemlich egal, weil Jarosinski das Publikum mit seinem Kulturpessimismus zum Lachen bringt und offen zugibt, dass er durch sein Studium angefangen hat, Bücher, die er lange Zeit liebte, zu hassen. Die Geisteswissenschaftsstudenten in der Berghain’schen Schlackehalle atmen sichtlich auf. Und sogar die herumtollenden Kinder eines Hobbyintellektuellen turnen erstaunlich ruhig durch die hinteren Stuhlreihen. „Es gibt immer Hoffnung, nur nicht für uns“, zitiert Jarosinski Kafka und lacht unbekümmert. Ein Lachen, das auch der verkrampften Musikbranche und ihren hier Anwesenden gut stehen würde.