Eurythmics – Who’s That Girl?
Anders ist sie. Kühl und doch zerbrechlich, herb und doch feminin. Auf Anbiederung und typisch weibliche Accesoires kann sie völlig verzichten.
Ein Kauz und ein Karottenkopf machen Karriere. Nach einer triumphalen Deutschland-Tournee im Februar ist der Knoten für das unorthodoxe Duo endgültig geplatzt. Mit Sängerin Annie Lennox, auf der Bühne mysteriös wie eine Sphinx, wurde gar ein Star geboren, der nicht über Nacht verglühen wird. Annie und Partner Dave Stewart beleuchten im folgenden Artikel die bislang verborgenen Pfade ihrer Vergangenheit.
Anders ist sie. Kühl und doch zerbrechlich, herb und doch feminin. Auf Anbiederung und typisch weibliche Accesoires kann sie völlig verzichten.
Die Show ist aus, das Saallicht eingeschaltet, die Zuschauer toben noch immer. Die Publikumsreaktion ist eindeutig: eine solide Band, exzellente Songs, die Sängerin ein Star.
Annie Lennox, noch erhitzt vom Auftritt, legt ihre langen Beine über das Geländer der Hotelbar. Sie muß lachen. Ein Star? Die Eurythmics sind der Star, das heißt Annie und Dave Stewart. Der kommt, wie üblich in völlig schwarzen Kleidern, gerade herein und holt sich einen Stuhl an ihren Tisch. Dave und Annie – und nur die beiden – sind die Eurythmics; die Band, mit der sie kürzlich in Deutschland waren, ist – so gut sie auch sein mag – lediglich ein Medium, um live auftreten zu können.
„Für mich sind unsere Beziehungen zu anderen Musikern immer im Fluß“, sagt Annie und nimmt einen Schluck Port. „Ob sie für immer bei uns bleiben oder nur für zwei Wochen, spielt keine Rolle. Wenn jemand daran interessiert ist. mit uns zu arbeiten, und wir sind es auch, dann tun wir es. Das läuft anders als mit Sessionmusikern, wo ein anonymer, teurer Typ reinkommt, seine Arbeit macht und dann wieder verschwindet. Wir wollen ein bißchen mehr miteinander zu tun haben.“
Auf Platte spielen Dave und Annie praktisch alles selbst als Eurythmics waren sie nie zweimal mit derselben Band auf Tour. Früher spielten sie mit Blondie-Drummer Clem Burke, Keyboarder Mickey Gallagher von lan Durys Blockheads und Eddie Reader von der Gang Of Four; in der englischen TV-Show „Old Grey Whistle Test“ traten sie mit einem Flügel und Gospelchor auf. Und auch ihre jetzige Besetzung ist wieder das für sie typische Sammelsurium: Da sind die Croquettes (Gill O’Donovan, Suzie O’List und Maggie Ryder), Vic Martin an den Synthesizern, Dean Garcia am Baß, die beiden Studio-Bläser Dick Cuthell und Martin Dobson sowie Drummer Pete Phipps, der früher beim Rumsbums-King der 70er, Gary Glitter, spielte.
Das sind sicher nicht die angesagtesten Namen im Szenebewußten London, aber Mode gehört nicht zu den Dingen, über die sich Dave und Annie lange den Kopf zerbrechen.
„Wir gehören nicht zu dieser Londoner Szene“, sagt Annie und schnippt die Schiffermütze zurück. „Ich will nicht sagen, daß ich die Londoner Szene nicht leiden kann, aber ich bin da generell ein bißchen zurückhaltend. Jede Art von Szene löst bei mir Stirnrunzeln aus.“
Dave und Annies einzige Bindungen sind die aneinander und an eine gemeinsame Vision von populärer Musik, die einzigartig ist in ihrer Besessenheit von kujturellem Wandel und emotionaler Doppelbödigkeit. Hier ist nichts eindeutig: Selbst den Namen Eurythmics haben sie gewählt, weil er keine Assoziationen auslöst. (Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet „sich schön im Rhythmus bewegen“.) Auch wenn ihre Musik zunächst einer oberflächlichen Definition des Begriffs „Synthi-Pop“ zu genügen scheint, ist sie doch mehr: Ihre Riffs sind frisch und knackig, die Melodien gleiten auf seltsamen Tangenten, und – Krönung der Ironie – Stewart spielt darüber eine Blues Slide Gitarre im typischen Stil der 60er.
Überhaupt gibt’s Doppelbödigkeiten in Hülle und Fülle: Annie ist eine hundertprozentige Frau, die sich aus strategischen Gründen aber wie ein Mann anzieht; Dave und Anne waren früher ein Paar – aber erst als ihre Romanze zu Ende ging, vertiefte sich ihre kreative Beziehung; sie schreiben Songs über die Liebe, aber die Texte (..Its jealous by nature. false and unkind“) beschreiben die Liebe nicht als freudiges Hochgefühl. Trotzdem behaupten beide, daß sie niemals glücklicher waren als jetzt.
Ihre Geschichte ist so verworren wie die romantischen Untertöne ihrer Musik. Annie Lennox, vor kurzem 29 geworden, wurde in Schottland geboren und ist in der Hafenstadt Aberdeen groß geworden – einer provinziellen Fischerstadt, die für ihren hochwertigen Granit bekannt wurde. Viel davon landete, wie Ann Lennox Jahre später, auf Londoner Bürgersteigen.
Die väterliche Seite ihrer Familie war musikalisch – ihr Vater spielte als echter Schotte natürlich den Dudelsack. Als Kind begann Annie mit Klavier, lernte später Flöte und träumte davon, klassische Musikerin zu werden. Mit 17, nachdem sie die Aberdeen Highschool für Mädchen besucht hatte, ging sie nach London, wo sie sich an der Royal Academy of Music in Kurse für Querflöte und Cembalo einschrieb.
Doch eine Karriere, die nur darin bestand, immer wieder das klassische Repertoire herunterzuspulen, erschien ihr schon bald als reichlich öde Beschäftigung; sie ging immer seltener zur Akademie. „Genaugenommen“, sagt sie, „habe ich es gehaßt. Ich habe drei scheußliche Jahre lang versucht, irgendwie klarzukommen. „
Schließlich blieb sie einfach weg. Nachdem sie zwei Jahre lang durch London gezogen war, Songs geschrieben und bei verschiedenen unbekannten Gruppen gesungen hatte, traf sie Dave Stewart. Zuerst war sie entsetzt: „Ersah aus, als hätten sie ihn rückwärts durch eine Hecke gezogen. Aber er ist ein besonderer Mensch; das habe ich gleich gemerkt.“
Stewart ist zwei Jahre älter als Annie. Auch wenn er behauptet, vom Herzog von Northumberland abzustammen, ist seine musikalische Vergangenheit durch und durch populär. Seine Mutter praktizierte als Kinder-Psychologin und interessierte sich besonders für die Beziehung zwischen Farbe und Geschmack („Als ich sieben Jahre alt war, hatte ich mich an blauen Brei und grüne Kartoffeln längst gewöhnt“); sein Vater war Wirtschaftsprüfer. Insofern ging es der Familie blendend, aber: „Ich wollte immer mit den Arbeiterkindern spielen, doch die schimpften mich .Richie‘ und hauten mir Kricketschläger über den Kopf.“
Als er 12 war, endete seine Begeisterung für Sport mit einem gebrochenen Knie im Fußballspiel. Ein glücklicher Zufall, wie sich später herausstellte:
„Jemand brachte mir eine Gitarre ins Krankenhaus. Und weil ich nicht herumlaufen konnte, fing ich an zu üben. Dann brachte mir jemand eine Lederjacke; die hab‘ ich ans Fußende des Bettes gehängt. Ich habe immer die Lederjacke angeschaut, Gijtarre gespielt und davon geträumt, aus dem Krankenhaus rauszukommen.“
Zwei Jahre später, 1966, sah er sein erstes Rockkonzert.
„Das waren Amazmg Blondel. Ich war derart begeistert ich hatte schließlich noch nie etwas live gesehen – daß ich nach dem Konzert einfach hinten in ihren Laster kletterte und mich da versteckte. Als wir morgens um vier in ihrem Wohnort ankamen, sprang ich heraus und fragte sie. ob sie mir beibringen könnten, in einer Gruppe zu spielen.“
Amazing Blondel riefen die Polizei und benachrichtigten Stewarts Eltern. Aber sie erlaubten ihm auch, in den Ferien wiederzukommen und die Gruppe bei Konzerten zu begleiten. Schon bald hatte er ihnen das Vorprogramm abgeschwatzt, saß auf einem Hocker und spielte seine eigenen Songs zur Gitarre. Es dauerte nicht lange – und er trat in nordenglischen Radio- und Femseh-Shows auf und machte das Vorprogramm für Folkies wie Ralph McTell. Einmal wollte ihn ein Talentscout einer Plattenfirma zum englischen Pendant von David Cassidy machen („Ich sah aus wie zehn“), aber ein Freund gab ihm den Rat, das lieber gleich zu vergessen.
Stewarts weitere musikalische Laufbahn war, gelinde ausgedrückt, kunterbunt. Er spielte alles, von Folk über den Blues bis zum Rock ’n‘ Roll und darüber hinaus. 1969 schloß er sich einer Gruppe namens Longdancer an, der ersten Band, die Anfang der 70er Jahre bei Elton Johns Rocket-Label unterschrieb.
Aber Longdancer ging an der plötzlichen Aufbesserung ihrer Finanzen kaputt: Rund 250000 Mark waren es, die die Bandmitglieder in sechs Monaten durchbrachten. Stewart nutzte einen ansehnlichen Betrag zur Finanzierung seiner frisch entflammten Leidenschaft für Kokain und Speed und spielte nach Longdancers Dahinscheiden bei Theatergruppen weiter, dann „für sechs Monate mit einer Hälfte von Osibisa“ und mit der Mädchengruppe Sadista Sisters. In seiner Freizeit beschäftigte er sich eingehend mit Drogen.
“ Ich hab‘ mal ein ganzes Jahr lang Acid geschluckt“, sagt er mit einem abwesenden Lachen.
„Jeden Tag. Wurde so eine Art Ferien.“
Besonders lebhaft erinnert er sich daran, wie er einmal von Grateful-Dead-Roadies acht Hits California Sunshine ergatterte. „Nimm die hier und komm in einer Woche wieder“, erzählten sie ihm. Er hatte keine Ahnung, daß eine Kapsel für ungefähr acht Leute reichte, nahm den Bus zurück in seine Heimat Sunderland und mampfte mit seiner Frau (von der er inzwischen geschieden ist) und sechs Freunden den ganzen Vorrat.
„Sechs von den Leuten hatten vorher noch nicht mal Marihuana geraucht“, erzählt er. „Nach zehn Minuten fing ein Typ an, Zeitung zu lesen – bloß nahm er statt einer Zeitung den Teppich! Ein anderer machte so mit seinem Kopf“ -Stewart schüttelt überdreht seine Birne „und sortierte die Aktenschränke seines Hirns, um’s mal so zu sagen.“
Stewart und seine Frau landeten vor einer fremden Tür, um Hilfe zu holen. „Ich sagte, .Entschuldigen Sie bitte, wir haben eine sehr starke halluzinogene Droge genommen und würden gern ein Krankenhaus anrufen.‘ Ich redete mit diesem Typ, einem Bergarbeiter aus dem Nordosten, und alles, was der sagt, ist: .Kommen Sie rein und trinken Sie eine Tasse Tee.‘ Wir also rein. In der Ecke stand seine Frau und bügelte. Die meinte: ,LSD? Davon hab‘ ich schon mal was gehört – mpcht das Hirn kaputt, nicht wahr?‘ Meine Frau wurde weiß. Dann kommt dieser Typ mit dem Tee – und ich versuche ihm zu erklären: .Nein, hören Sie zu, das ist diese starke Droge, wir haben sie aus Versehen genommen.‘ Ich drehe mich um – und meine Frau gießt gerade den Tee auf den Teppich und verreibt ihn zu Mustern. Ich habe mich nie im Leben gräßlicher gefühlt.“
Stewart und seine Frau kamen schließlich irgendwie raus, aber die Erinnerung lebt noch fort. „Ich habe immer noch Flashbacks durch das Acid dabei ist die Sache inzwischen acht Jahre her. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie das Leben war, bevor ich halluziniert habe. Inzwischen nehme ich nichts mehr ich brauch ’s nicht. Ich habe soviel genommen, daß es für den Rest meines Lebens reicht. „
Ein Jahr später arbeitete Stewart mit dem nicht minder abgebrannten Songwriter Peet Coombes im Norden Londons. Nirgendwo war Land in Sicht. Dann erzählte ihnen ein Freund, daß er ein Mädchen mit einer unglaublichen Stimme getroffen habe – eine „jener Sängerinnen, die du heute und morgen und immer wieder hören kannst und jedesmal Gänsehaut bekommst „
Sie wurschtelte sich als Bedienung in einem Restaurant durch; Stewart und der gemeinsame Freund besuchten sie dort. Nach Feierabend kamen sie mit in ihr Ein-Zimmer-Apartment und hörten fasziniert zu, als Annie Lennox auf einem ungeheuren Harmonium, das sie irgendwie in ihre Wohnung gequetscht hatte, „tolle, echt komplizierte Songs“ spielte.
„Sie saß da wie das Phantom in der Oper“, erzählt Stewart. „Sie kam geradewegs von der Klassik und hatte keine Ahnung von Popgruppen. Aber wir hörten sie singen und fingen an zu feiern: wir gingen in einen Club – und von dem Moment an lebten Annie und ich vier Jahre lang zusammen und machten gemeinsam Musik. „
Das nächste Jahr verbrachten Dave, Annie und Peet Coombes erst einmal damit, ausgiebig zu hungern. Pläne zu schmieden, vom Leben als Star zu träumen – und davon, ihre Songs irgendwie zu verkaufen. Dann meldete sich aus Deutschland ein anderer Freund, der australische Sänger Creepy John Thomas, mit der frohen Botschaft, daß er bei Produzent Conny Plank Studiozeit herausgeschlagen habe.
Stewart. Lennox und Coombes wurden eingeladen, rüberzukommen und die Demos der Sängerin zu überarbeiten. Eine Entscheidung, die ihr Leben völlig umkrempelte. „Da haben wir gemerkt, was wir wollten“, erzählt Annie. „In Connys Studio gab’s einen Schlagzeuger, ein paar elektrische Gitarren – und wir wußten ,Ah! Eine Gruppe das ist es, was wir wollen: Eine Gruppe!“
Zurück in London stellten sie 1978 die Byrds-beeinflußte Truppe „The Tourists“ zusammen. Im Laufe der nächsten Jahre nahmen sie drei Alben auf (Coombes schrieb die meisten Songs) und tourten rund um die Welt, aber Geld hatten sie nach wie vor keines. Der Grund, so Dave und Annie, war ein unvorteilhafter Plattenvertrag und üble Geschäfts-Machenschaften („Some ofthem want to use you“, singt sie auf SWEET DREAMS, „some of them want to abuse you.“).
1979 hatten die Tourists mit der Dusty-Springfield-Perle „I Only Want To Be With You“ immerhin einen Hit, doch die britischen Kritiker sahen das anders als die Gruppe – nicht als ironischen Tribut, sondern mißverstanden die Nummer als abrupte Wende zu nostalgischen Oldies. 1980 zerbrach die Band.
“ Wir waren sowieso total frustriert“, erinnert sich Stewart. „Als der Punk richtig losging, kauften Annie und ich einen Synthesizer und machten genau das Gegenteil von dem, was die Punks machten: wir kümmerten uns mehr um Sequencer und die Vermischung von Soul und Elektronik. Wir saßen in Hotelzimmern, Annie sang und ich spielte Synthesizer so entstand das gesamte Konzept für SWEET DREAMS.“
Als die Tourists den Geis! aufgaben, setzten Dave und Annie ein „Manifest“ auf. das ihre Zukunftspläne umriß und laut Stewart hauptsächlich folgendes besagte: .. Wir werden nie wieder etwas machen, das wir nicht wirklich machen wollen. Wir haben gesagt: Wir sind zu zweit und wollen nicht wieder an dem Punkt landen, wo wir immer und immer wieder mit denselben Leuten durch die Gegend touren und jeden Abend so tun müssen, als würden wir wirklich dazu stehen.“
Die Begegnung mit Conny Plank brachte neue Anstöße; Annie arbeitete auch später noch als Arrangeurin und Sängerin mit ihm zusammen (ganz hervorragend auf Gianna Nanninis Album LATIN LOVER).
„Conny meinte, wir sollten versuchen, alles selbst im Griff zu halten und weniger Aufwand zu treiben. Das ist zur Arbeits-Maxime der Eurythmics geworden. „
Das erste Album nahmen sie in Planks Studio außerhalb von Köln auf. begleitet von einer nicht gerade alltäglichen Musiker-Auswahl: Clem Burke (den Annie in einem Londoner Club aufgerissen hatte), Multi-Instrumentalist Holger Czukay und Drummer Jaki Liebezeit von Can. DAFs Robert Görl am Schlagzeug und Marcus Stockhausen (der Sohn von Komponist Karlheinz Stockhausen) an der Trompete.
Die LP IN THE GARDEN ist ein kleines Meisterwerk in Sachen Pop – brillant produziert, gespielt und arrangiert. Eigentlich sina hier nur Hits zu finden: das folk-rockige „English Summer“, das hingerotzte „Belinda“ (fast schon Punk) und Ohrwürmer wie „Never Gonna Cry Again“ und „Revenge“, die bereits in dieselbe Richtung gehen wie das eher elektronisch ausgerichtete Material auf SWEET DREAMS zwei Jahre später.
IN THE GARDEN ging mehr oder weniger spurlos unter, weil Stewart, der ein paar Jahre zuvor in einen schweren Autounfall verwickelt gewesen war, Probleme mit seiner Lunge hatte und dummerweise ausgerechnet in dem Moment operiert werden mußte, als die LP veröffentlicht wurde. Acht Monate ans Bett gefesselt, war er außerstande, bei der Promotion der Platte mitzuhelfen. Zur gleichen Zeit übrigens gaben Dave und Annie ihr gemeinsames Leben auf.
Stewart: „Da waren so viele Veränderungen auf einmal: Die Tourists lösten sich auf. ich hatte die Operation – und wir hatten die neue Eurythmics-Idee. Das wurde fast zur folie ä deux zwei Leute drehen durch, weil sie ständig zusammenhocken. Der einzige Weg. da rauszukommen, bestand darin, getrennt zu leben also sind wir auseinandergegangen.“
Heute, in der knappen Zeit, die ihnen dafür noch bleibt, verabreden sie sich nur unregelmäßig mit Außenstehenden.
„Das sind auch eher freundschaftliche Beziehungen“. meint Stewart. „Ich gehöre nicht zu den Leuten, die einfach mal eine Nacht mit irgendwem schlafen. Und Annie versteckt sich, glaube ich. ohnehin die meiste Zeit.“
Obwohl sie sehr lange deprimiert gewesen sei. habe sie jetzt wieder Fuß gefaßt und sei besser drauf denn je, erklärt Annie. „Dave und ich geben uns gegenseitig immer noch viel Kraft – und wenn’s drauf ankommt, sind wir uns sehr, sehr nah. Wir haben das ganze persönliche Durcheinander überstanden und halten unsere Beziehung für ungeheuer wichtig. “ Nachdem im Privatleben klare Fronten geschaffen worden waren, machten sie sich an die Planung eines kommerziellen Durchbruchs. Trotz ihres Hanges zu Experimenten haben sie für Kommerzialität grundsätzlich eine Menge übrig. Dave:
„Ich habe nicht einen avantgardistischen Künstler getroffen, der nicht – sagen wir – ABBA und Holger Czukay oder die Velvet Underground und . Cherpee. Chirpee. Cheep. Cheep‘ mochte. Alle extremen Sachen sind irgendwie toll, und auch extreme Perfektion hat was an sich.
Annie und ich lieben diese Zweigleisigkeit. Das ist Thema in fast allen Songs, die wir je geschrieben haben – die Doppelbödigkeit. Zum Beispiel der Penner, der auf der Straße lieg! – und jemand im Pelzmantel geht vorbei: oder das Hochgefühl der Liebe, vermischt mit unangenehmen Gefühlen wie Schuld und Reue. Das ganze Leben ist ein ständiger Aufruhr. Es ist phantastisch, es ist gräßlich – so wie das Leben halt ist.“
Ihr Konzept klar vor Augen und mit Hilfe ausführlicher, telefonischer Ratschläge von Plank und Czukay, richteten die Eurythmics in einem Speicher in Londons Norden ein einfaches 8-Spur-Studio ein und nahmen dort, größtenteils ganz allein, eine Reihe Demos auf, die dann ebenfalls bei RCA als Album veröffentlicht wurden – so entstand SWEET DREAMS.
„RCA meinte. .Teufel auch, das klingt gar nicht wie 8-Spur'“, erinnert sich Stewart. „Aber so sollte man immer aufnehmen: einfach. Inzwischen werden schon so viele komplizierte Wundermaschinen hergestellt, bloß damit du denkst, du könntest es ohne sie nicht mehr machen. Dabei macht es so viel mehr Spaß! Wir haben immer diese Kleinigkeiten auf Band gespeichert: Annie. wie sie in Bangkok auf einem ulkigen Instrument spielt: ein paar Textzeilen hier und einen Rhythmus, den wir uns in Schottland ausgedacht haben, dort…
Das holen wir dann alles raus und basteln es irgendwie zusammen. Darum ist die Musik zeitlos, und deshalb zählen wir uns auch nicht zur neuen englischen Pop-Invasion.
Und weiter? Dave und Annie haben inzwischen eine alte Kirche im finsteren Nord-London gemietet und ein 24-Spur-Studio eingerichtet, in dem bereits ihre letzte LP THE TOUCH entstand. Wenn sie nicht mit eigenen Projekten beschäftigt sind, machen sie Aufnahmen für ihre Freunde – letztes Jahr zum Beispiel mit Chris und Cosey, früher bei Throbbing Gristl und mit einem „sehr androgynen“ Straßen-Duo namens Flex. In den neuen Räumlichkeiten ist auch ein Tanz-Workshop untergebracht: außerdem sind hier ständig Video- und Zeichentrick-Projekte in der Mache. Dave und Annie haben in der Nähe getrennte Wohnungen bezogen.
„Im Moment genieße ich das Gefühl, glücklich zu sein“, sagt Annie mit einem Lächeln ohne jede Ironie. „Ich hatte genug durchgemacht – und das wird wahrscheinlich in Zukunft nicht anders sein. Aber ich muß zugeben, daß mich diese Erfahrungen erst zu der Person geformt haben, die ich heute bin. Eine Zeitlang habe ich bei anderen Leuten Anerkennung gesucht, weil ich nicht genug Selbstvertrauen besaß, mich auf mein eigenes Urteil zu verlassen. Jetzt brauche ich diese Bestätigung nicht mehr, weil ich weiß, wie wankelmütig die meisten Leute sind. „
„Meine eigene Kraft“, schließt sie mit fester Stimme, „ist die beste Kraft, die ich haben kann.“