Eurythmics
Annie Lennox ist wahrscheinlich das einzige wasserstoffblonde Pop-Mädel der späten 80er Jahre, das nicht daran glauben mag, daß dies tatsächlich die Pepsi-Generation ist. Annie und der exzentrische Dave Stewart. der vom Hippy zum Haus- und Ehemann der ex-Bananarama-Sängerin Siobhan konvertierte, stehen Rücken an Rücken auf der Bühne der Wembley Arena, die an fünf Abenden hintereinander wegen der Eurythmics ausverkauft ist. Die beiden stehen stolz da und signalisieren: Wagt es bloß nicht, uns in irgendeine Schublade zu stecken!
Annie, tragische Fast-Mutter und bislang eine typische Frau der Achtziger mit Faible für maskulines Styling, trägt Arbeiterstiefel und einen schäbigen Rotkreuz-Fummel, der aussieht wie eine Hare-Krishna-Robe. Stewart, noch ein bißchen seltsamer, trägt, was Annie früher anhatte, als sie sich noch wie Elvis stylte – die komplette Presley-Maskerade mit Las-Vegas-Anzug und schwarzgefärbtem Haar. Sechs Musiker umringen die beiden, darunter zwei schwarze Background-Stimmen. ein Mann und eine Frau.
Und weil Eurythmics-Fans wie Annie, ihr weibliches Idol, sehr leidenschaftlich und sehr, sehr intensiv sind, klatscht, tanzt und brüllt das Publikum in der Arena ekstatisch vom ersten Moment an bis zur letzten Zugabe nach über 20 Songs. Der erste Moment wirkt bei den Eurythmics sowieso oft sehr merkwürdig, und da macht das Wembley-Konzert keine Ausnahme: Diesmal haben sie eine französische Folksängerin aus ihrer Akustik-Nische gezerrt, die nun wild durch Trockennebel und Stroboskop-Blitze über die Bühne tanzt, um den Vorhang herunterzureißen, hinter dem sich die Band verbirgt.
„We Too Are One“, der Titelsong des neuen Albums, mit dem die Show beginnt, legt den Kurs für den größten Teil des Abends fest. Annie und Dave haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend in eine schwärzere, stärker an Gospel und Rhythm & Blues orientierte Richtung bewegt – mit Ausnahme des rauhen, selbstentblößenden Albums SAVAGE, das mir sowieso schon immer eher wie Annies Solo-Album vorkam. Dieser Abend hat deshalb mehr den Charakter eines Soul-Konzerts als die meisten Soul-Shows, die ich je gesehen habe. Sogar das Publikum spielt da mit – es tanzt vor Begeisterung in den Tanznummern, schreit verzückt in den Gospelstücken. Selbst die frühen, schlichteren Technopop-Songs wurden aufgepäppelt und haben jetzt mehr Soul-Substanz. Und viele Scheinwerfer tauchen die Bühne in gleißendes Licht; Annie, den Arm um die Hüfte ihrer Background-Sängerin gelegt, hüpft und tänzelt wie ein Boxer beim Training, um schon im nächsten Moment zum aufreizenden Filmstar-Hüftschwung zu wechseln, und ihre metallische und doch sanfte Altstimme fasziniert in jeder Sekunde.
Nach alter Soul-Tradition erhalten die Background-Sänger – beide selbst potentielle Stars – Gelegenheit, ihren eigenen Song vorzustellen, während die Chefin und ihr Gehilfe die Bühne für einen Kostümwechsel verlassen. Als sie wiederkommen, trägt Annie einen ihrer berühmten maßgeschneiderten Herrenanzüge, und Dave sieht nun mehr wie Elvis Costello als wie Elvis Presley aus. Er hat eine akustische Gitarre dabei, die Band hat sich verkrümelt, und die nächsten vier Songs tragen die beiden im Duo vor – ein großartiger, intensiver Mini-Set, auf den das
Publikum mit fast religiöser Andacht reagiert. Die großzügigen, ruhigen Arrangements dieser vier Songs bieten dem Publikum Gelegenheit für Zwischenrufe, für laute Liebeserklärungen, die meisten von den Mädchen an Annies Adresse.
Im langen, von Van Morrison inspirierten Schlußteil von „You Have Placed A Chili In My Heart“ kommt Annies Stimmumfang gebührend zur Geltung, und „Here Comes The Rain Again“ vom Album TOUCH profitiert vom sparsamen Arrangement mehr als „Love 1s A Stranger“ aus dem Album SWEET DREAMS ARE MADE OF TH1S von seinem neuen Gewand im Bigband- und Rhythm & Blues-Zuschnitt. Die leidenschaftlichste Ballade des Abends ist wahrscheinlich „Angel“; Annie singt sie mit einer perfekten tiefen, klaren und gleichzeitig brüchigen Stimme, so daß es einem das Herz vor Ergriffenheit einschnürt.
So bleibt mein einziger Kritikpunkt wahrscheinlich etwas kleinkariert angesichts des Spaßes, den die Menge vor der Bühne hatte: Mich störte das unaufhörliche Mitsingen, Mitklatschen und Mitgrinsen des Publikums selbst an völlig unpassenden Stellen. Die letzte Nummer beispielsweise – „Sweet Dreams“, ein grüblerischer, düsterer Song – wird durch diese Form der Anteilnahme live ganz einfach ruiniert.
Aber davon mal abgesehen, war es eine tadellose Show. Selbst schwache Songs wie „King & Queen Of America“ und „(My My) Baby’s Gonna Cry“ vom neuen Album klingen gut. üppig und wild. In einer Zeit, in der noch immer fast alle Wasserstoff-Blondinen, die das Showbiz-Schicksal auf die Bühne des Wembley-Stadions verschlägt, zwitschernde Püppchen mit winzigen Stimmchen und noch winzigeren Miniröcken sind, stellt Annie Lennox eine unerreichte Klasse für sich dar.