Erlöse uns von dem Bösen


"Wenn sie erstmal ein Kind hat", ahnte Partner Dave Stewart bereits letztes Jahr, "ist es um die Eurythmics geschehen: " Warum es mit der Band und ihrem Leben so nicht weitergehen konnte, beschreibt Annie Lennox, indem sie ihre "Greatest Hits" Revue passieren läßt.

Vielleicht liegt es an dem Hotelzimmer, in Vl dem Annie Lennox Hof hält und das die ‚ unglückbringende Nummer 101 trägt — wie das Zimmer in Orwells 1984, in dem sich schlimmste Befürchtungen verwirklichen. Vielleicht ist aber auch das Eier-Sandwich schuld, das sich über ihrem makellosen Jacketkragen in seine Bestandteile auflöst, langsam die eleganten Hosenbeine herunterrutscht und in den geräumigen Aufschlägen verschwindet. Oder es hat damit zu tun, daß sich die bebrillte 36jährige Sängerin trotz der Heirat mit dem israelischen Filmemacher Uri Fruchtmann und der Geburt des gemeinsamen Kindes (nach einer früheren Totgeburt) bei Ausflügen in ihre weniger sonnige Vergangenheit immer noch unwohl fühlt.

Von den ersten Tagen androgynen Trendsettings im Kielwasser von Boy George bis zur vorläufig letzten Station als etablierte Rock-Institution für anspruchsvollere Kunden — die Eurythmics haben der Öffentlichkeit immer etwas mehr geboten als nur eine gut geölte Hit-Maschine. Selten wurde die Seifenoper „Liebesleben einer Sängerin“ so faszinierend in Szene gesetzt wie in Annies Songs, und die Höhepunkte eurythmischen Schaffens sind nun auch auf einem Greatest-Hits-Album erhältlich.

„Wir machen nur eine Pause“, verkündet Annie Lennox in sanftem Aberdeen-Akzent. „Es wurde Zeit, sich anderweitig zu orientieren. Wir haben soviel zusammen durchgemacht, waren nie getrennt, wie ein geschiedenes Ehepaar, das nicht voneinander loskommt. Aber wir wollten es ja auch nicht anders … Als unsere Beziehung zerbrach, war uns klar, daß es musikalisch weitergehen sollte. Musik zu machen — das ist es, was uns all die Jahre zusammengehalten hat.

Love Is A Stranger habe ich auf der Autobahn und in der Wohnung eines Bekannten geschrieben. Manche Songs entstehen aus Notizen, in billigen Schmierheften oder auf Hotelpapier. Früher hatte ich eine alte Schreibmaschine, die aber mittlerweile einem kleinen Laptop-Computer Platz gemacht hat. Es gibt Leute, die auf Papier und Bleistift schwören, aber ich habe lieber etwas Gedrucktes vor mir — es sieht einfach offizieller aus. Meine kritzelige Handschrift kann ich ohnehin nicht ernst nehmen. Außerdem hat man auf einem Computer die Möglichkeit, Sachen zu ändern und herumzuschieben. Ich schreibe, wenn es mich überkommt und ich ein bißchen Zeit übrig habe.

Das Video sorgte in Amerika für großen Wirbel, weil ich darin sexuell nicht eindeutig einzuordnen war. Wir mußten feststellen, daß die Amerikaner in diesem Punkt sehr reaktionär sind. Eigentlich gefiel es mir ganz gut, plötzlich so ein bedrohliches Wesen zu sein, aber ich hatte diese Kontroverse ganz bestimmt nicht bewußt angezettelt! Die Zwitterhaftigkeit verlieh mir so etwas wie Macht, weil Frauen sich bis dahin immer so offenkundig .sexy“ präsentiert hatten.

Mit Sweet Dreams ging es richtig los. Auf einmal mußtest du nicht mehr allen Leuten etwas beweisen, es schien, als hätten sich über Nacht jede Menge Türen geöffnet. Die Weh war neugierig auf uns. und das machte mir ein bißchen Angst. Es war wie auf einer Achterbahn. Die Tour kam uns endlos vor.

Der Unterschied zwischen Anonymität und Berühmtheit zeigt sich in kleinen Dingen. Du gehst die Straße entlang, und alle drehen sich nach dir um. Es gibt keine Lehrbücher, die dir sagen, wie man mit so etwas fertig wird. In gewisser Weise kam mir die ganze Sache entgegen, weil ich mich schon immer als Außenseiter gefühlt hatte. Jetzt konnte ich aufs Ganze gehen und ein hundertprozentiger Außenseiter sein.

Who’s That Girl? entstammt einem Anfall von Liebeskummer. In vielen meiner Stücke geht es um unerwiderte Liebe. Damals hatten sie für mich nur diese Bedeutung, aber im Laufe der Zeit habe ich sie immer wieder unter anderen Gesichtspunkten gesehen. Songs können ganz schön organisch sein.

Here Comes The Rain Aaain haben Dave und ich eines Nachmittags im Mayflower Hotel in New York geschrieben. Das Video dazu wurde ¿

auf den Orkney-Inseln gedreht, vor einem Schiffswrack. Wir mußten sehr früh aufstehen, um rechtzeitig dort zu sein. Um fünf Uhr, in der Morgendämmerung, sahen wir die Umrisse gesunkener deutscher Schlachtschiffe im Wasser. Es war wirklich gespenstisch.

Ifs Alright (Baby’s Coming Back) ist sanfter und intimer, weniger heftig, aber ich kann mich nicht erinnern, wo und wie ich den Song geschrieben habe. Ich weiß, daß ich nach der ersten Vorführung des Videos eine Diva-reife Vorstellung hingelegt habe, mit Tränenströmen und allem Drum und Dran. Wenn du kreativ bist, mußt du hinterher mit dem Ergebnis leben, deshalb waren wir immer so fanatisch darauf bedacht, alles unter Kontrolle zu haben.

Sisters Are Doin‘ It For Themselves war eine Herausforderung — ein Popsong, den man im Radio spielen kann und der gleichzeitig eine feministische Hymne ist. Der Text kam mir eines Morgens gleich nach dem Aufwachen. Ich sagte zu Dave, daß wir für diesen Song eine ganz phantastische Frau brauchen. Ich dachte zuerst an Tina Turner, aber ihr war der Inhalt zu radikal. Als Aretha Franklin dann zustimmte, flogen wir nach Detroit. Ich kam ganz gut mit ihr zurecht, aber es brauchte seine Zeit. Aretha kam mir eher scheu vor. ein bißchen traurig und einsam. An ihren Hofstaat mußte ich mich erst gewöhnen — ziemlich exzentrische Leute. Was das Gerücht betrifft, wir hätten Probleme miteinander gehabt, weil sie Fleisch ißt… Ich bin Vegetarierin geworden, als ich diesen Hare-Krishna-Typen heiratete (die Ehe mit Radha Raman wurde 1984 ebenso schnell geschlossen wie wieder geschieden), aber wenn eine Frau Spare Ribs vorzieht, bitte sehr.

Wir hatten ein Studio in LA gebucht, um There Must Be An Angel aufzunehmen, und es wurde gemunkelt, Stevie Wonder hätte absolut kein Zeitgefühl — man müßte halt abwarten und schauen, ob und wann er kommt. Es wurde immer später, und unsere Hoffnungen waren schon auf den Nullpunkt gesunken, aber schließlich kreuzte er doch auf. Und er war wirklich anbetungswürdig. All diese Zöpfe mit den wunderschönen Goldperlen drin … Wenn er spielt, dreht er den Kopf hin und her. so daß die Perlen rasseln, aber vor der Aufnahme holte sein Assistent eine Art Einkaufsnetz raus und packte Stevies Haare ein. damit das Geräusch nicht auf die Mikros kam. Der Mann ist ein einzigartiger Musiker, es hat sich gelohnt zu warten.

Sex Crime (1984) war eine interessante Herausforderung, aber man hat uns als Sündenbock für etwas mißbraucht, mit dem wir nichts zu tun hatten. Wir wurden gebeten, den Soundtrack zu schreiben, und ich glaube, wir haben sehr gute Arbeit in sehr kurzer Zeit geleistet. Wir hatten keine Ahnung, daß es noch einen anderen Soundtrack gab. Freiwillig hätten wir uns doch nie in so eine kontroverse Situation begeben! Daß dieser Mann — es war wohl der Regisseur, nehme ich an — hinterher den Film und uns schlecht gemacht hat. das tat wirklich weh. Aber damals haben nur soweso alle weh getan …

Mit Would I Lie To You? und Thorn In My Side war es nicht anders, fürchte ich. Man braucht keinen sehr hohen IQ, um draufzukommen, daß sie mit dem Scheitern meiner ersten Ehe zu tun haben.

Missionary Man wurde durch meine kurze Bekanntschaft mit den Hare Krishna inspiriert. Sie haben viel Ähnlichkeit mit anderen fundamentalistischen Religionen: zurück zu den guten alten Zeiten, Hort der Familie, Wir und die Anderen. Und manches davon macht ja auch durchaus Sinn. Hare Krishna ist ein äußerlich sehr extremer Kult, und das gefiel mir. Ich fand es gut, daß sie sich etwas trauen, daß sie sich nicht darum kümmern, was die Gesellschaft von ihnen hält, und einfach tun. was sie für richtig halten. Andererseits mußt du dich vor Leuten hüten, die dir auf alles eine Antwort geben. Da war auch viel Heuchelei und doppelte Moral dabei.

I Need A Man steckt voller Ironie. Es gibt so einen feministischen Spruch, den man vorzugsweise in Damentoiletten findet — .Eine Frau braucht einen Mann wie ein Fisch ein Fahrrad‘. So etwa lautet auch die Aussage des Songs. Ich hatte die Nase voll von Männern — und dann traf ich meinen Ehemann! Jetzt, wo ich das Baby habe, bin ich ganz anders, weniger verbittert und emotional stabiler. Du siehst die Welt auf einmal in einem anderen, positiven Licht. Das wird sich wohl auch in meinen neuen Songs zeigen.

Angel ist ein sehr ernster Song, den kann ich manchmal nur mit Schwierigkeiten singen. Ursprünglich sollte es ein Gedicht über eine verstorbene Großtante werden. Der Tod faszinierte mich. Ich hatte ein Grab vor Augen, das sich mit den Jahreszeiten verändert — Schnee bedeckt es, Laub fällt darauf, Blüten öffnen sich — und verband das mit dieser Frau aus meinen Kindertagen. Nach dem Tod meines ersten Kindes nahm der Song für mich schließlich eine ganz andere Bedeutung an, aber er handelt auch ganz allgemein vom Tod — ich werde sterben, wir alle werden sterben.

Letztes Jahr in Edinburgh konnten wir intimere Stücke spielen und akustische Arrangements ausprobieren. You Have Placed A Chili In My Heart beginnt mit schrecklicher Trostlosigkeit und Verzweiflung. Alles, woran du glaubst, hat seinen Wert verloren. Am Ende dagegen findet eine völlige Kehrtwendung statt — aus ,chill‘ wird .thrill‘. etwas Magisches, Hoffnungsvolles. Dasselbe gilt für When Tomorrow Comes — meine Songs sind auf der emotionalen Skala immer entweder ganz unten oder ganz oben. Wenn das kein Paradebeispiel für manisch-depressive Tendenzen ist, weiß ich auch nicht… Aber die haben ohnehin fast alle Künstler — wir sind wie Thermometer, entweder eiskalt oder fieberheiß. Ich versuche gerade, mich irgendwo in der Mitte einzupendeln.