Energie aus Germany
AM ANFANG WAR DAS NICHTS. Dann schuf Gott Die Toten Hosen. Aus deren Saat wuchsen Die Ärzte. Zusammen mischten sie die Krautrock-Szene kräftig auf und wurden reich und berühmt. Die Ärzte lösten sich auf, Die Hosen spielten lieber Theater: jetzt nützt der "Nachwuchs" seine Chance. In der ganzen Republik schießen rotzfreche, brettharte Chaos-Bands nur so aus dem Boden, rütteln am Thron der Etablierten, allen voran die Goldenen Zitronen (oben). Thomas Böhm sortiert für ME/Sounds erstmals die neuen Wilden.
Der Nebel hat sich verzogen. Freie Sicht auf die Weser. Auf dem heruntergekommenen, halbverlassenen Werftgelände sind ein paar Schweißer und ein Kranführer dabei, einen alten, rostigen Tanker wieder klarschiff zu machen. Alltag auf der AG-Weser.
Plötzlich ist Action angesagt. Acht Limousinen schießen um die Ecke und halten mit quietschenden Reifen vor dem Trockendock. Türen springen auf, und wie viele bunte Smarties quillt eine wilde Horde schriller Typen aus den Wagen.
NACH UNS DIE SINTFLUT haben Die Ärzte, Deutschlands erfolgreichste Rabauken Band orakelt, als sie sich mit dem gleichnamigen Drei-LP-Live-Werk auf Nimmerwiederhören verabschiedeten. Tatsächlich: der Damm brach.
Die wilden Typen hier heute auf dem Trockendock sind zwar nicht die Kinder der Ärzte und der Toten Hosen, aber voll von ihnen infiziert. Acht neue Bands stehen hier stellvertretend für die neue Szene, um zu zeigen, daß Punk lebt, und Rock ’n’Roll sowieso niemals stirbt.
Trotz unterschiedlicher Herkunft, Einstellung und Inhalte finden sich doch eine Menge Gemeinsamkeiten: Power, Lebensfreude, Punk-Roots, die ambivalente Beziehung zum deutschen Schlager, zum Beat und Rock’n’Roll der sechziger Jahre, das Verrücktsein, der Haß gegen den „Disco-Scheiß“ und die Abscheu gegenüber der „Schublade“ Funpunk.
Weil dieser Begriff so total ausgelutscht ist und weil er nur einen kleinen Teil des musikalischen und inhaltlichen Spektrums wiedergibt, das diese Bands ausfüllen. Keiner hat heute mehr Lust, sich nur auf die Themen Fußball, Saufen und Frauen reduzieren zu lassen. Dennoch hat mit Funpunk alles angefangen. Campino, Charming Boy und Sänger der Toten Hosen erinnert sich:
„In England standen ‚77,78 zu Beginn der Punkbewegung Bands wie Johnny Moped, Alberto Y Lost Trios Paranoias und dann die Toy Dolls auf der Malle, die das ganze nicht so ernst nehmen wollten. In Deutschland haben wir 1979 mit der Gruppe ZK angefangen. Der Funpunk entstand aus dem Bedürfnis heraus, dem destruktiven „Hartmann-Punk“ etwas entgegenzusetzen. Wir sind zuerst allerdings auf Unverständnis und Widerstand gestoßen. Erst zum Jahrzehntwechsel fand dieser Funpunk Anerkennung, als aus Teilen des ZK die Toten Hosen wurden.“
Etwa gleichzeitig wurden auch andere Frohnaturen aktiv. 1982 bewies der legendäre Stimmungssampler des Berliner Vielklang-Labels, daß es unter der Oberfläche gärt. Gruppen wie Frau Suurbier, Die Ärzte, Die Deutsche Trinkerjugend, Die Panzerknacker und Die Toten Hosen als Tango Brüder teilten sich die feuchtfröhliche Rille auf. Homogen war die Szene jedoch nie. Man kannte sich von Konzerten her, schaukelte sich auch gegenseitig hoch, ging aber ansonsten seine eigenen Wege. Viele nahmen die Sauflieder beim Wort und gingen unter. Andere, wie Die Ärzte oder Die Hosen erweiterten ihr Repertoire, verbesserten ihr Handwerk und wurden reich und berühmt, denn der Bedarf nach einfachen, witzigen Texten und schneller, knallender Musik war riesengroß.
In den letzten Jahren ist eine neue Generation herangewachsen, die keinen Bock hat, sich mit seichter, glattgebügelter Produktionsmucke vollstopfen zu lassen, aber voll auf witzige deutsche Texte zu rasend schnellem, brettharten Pogo-Rock abfährt. Und genau diese Kids werden jetzt von den vielen neuen oder junggebliebenen Bands bestens bedient.
Einige dieser Rock’n’Schlager und Punk’n’Roll Bands sind auf dem Bremer Weser-Label vertreten. Klaus Fabian, Label-Chef, und Seele der ganzen Szene, ist ein echter Veteran und als Heizer bei den Mimmi’s selber noch aktiv. Die große Liebe führte den ehemaligen Eishockey-Profi und ZK-Mucker vor Jahren aus dem Ruhrpott nach Bremen.
Hier erfüllte er sich zwei Träume: Er gründete eine Frauenband, vor der er als Frontmann agieren konnte und schenkte seinem neuen Lieblings-Fußballclub, dem SV Werder, eine Hymne, die den Namen der Mimmi’s bekannt machte.
Den großen Druchbruch schaffte er damit nicht, obwohl die Mimmi’s mindestens genau so gut waren wie Die Hosen oder Die Ärzte. Noch heute teuren sie (inzwischen allerdings in gemischter Besetzung), durch die Lande.
Mit über 30.000 verkauften LPs sind aber die Goldenen Zitronen aus Hamburg-St. Pauli die besten Pferde im Stall des Weser-Labels. Als Fans der Toten Hosen haben Schorsch. Moro, Ted und Ale 1984 selber losgelegt. Doch zu Unrecht werden sie immer wieder mit den Hosen verglichen. Sie unterscheiden sich nicht nur musikalisch von den Düsseldorfern sondern vor allem in ihrer Einstellung. Im Gegensatz zu den Hosen, die sich als Einheit begreifen, raufen sich hier vier radikale Individualisten zu-Und obwohl die Zitronen durch ihre direkte Sprache, durch einfache Melodien, durch humorvolle, aber sehr bewußte Texte und in schnellem Tempo die Herzen der Kids in ganz Deutschland erobert haben, sind sie noch so etwas wie eine „echte“ Punkband.
„Wir haben im Independent-Bereich vom Publikum und den Verkaufszahlen her alles erreicht. Trotzdem. Industrie kommt für uns nicht in die Tüte“, stellt Schorsch fest. “ Wir sind jetzt schon an einem Punkt, wo sich das Verhältnis zu unseren Fans entfremdet, wo die Szene vor der Bühne beliebig zu werden droht. Wir begreifen Rock’n’Roll oder Punk immer noch als progressive Kraft und das bedeutet auch Identifikation mit den Fans, “ ergänzt Ted.
Die Jungs aus St. Pauli sind politisch engagiert, wirken bei Solidaritätskonzerten für die Hafenstraße, für den Widerstand in Lateinamerika und gegen 4en Paragraph 129 a mit.
Die Zusammenarbeit mit Teenie-Postillen und den Springer-Blättern lehnen sie aufgrund ihrer politischen Einstellung strikt ab. Auf Politpropaganda in ihren Texten verzichten sie allerdings.
„Die Zeiten sind vorbei. Politische Texte zu schreiben, ohne den Zeigefinger zu heben, ist fast unmöglich“, meint Ale. „Punk als gesellschaftliche Bewegung ist inzwischen längst passe. Die Kids von heule sind auch ohne ideologischen Rahmen total direkt und reden Klartext.“
Nicht im Schatten, wohl aber im Dunstkreis der Zitronen tingelt King Rocko Schamoni als originellster Entertainer von St. Pauli durch die Szene. In seinen selbstgebackenen Songs verrührt er locker Country, Rockabilly, Schlager; schlägt sich von den 60ern bis heute durch. Rocko ist ein charismatischer König unter den Wilden, stets eigenwillig schwankend zwischen Possen und Posen. Den Schalk im Nacken und die Solokarriere vor Augen hat er alle Chancen, der Hans Albers der 90er Jahre zu werden. Als nächstes Etappenziel ist unter dem Namen „Motion 1 “ ein Duett mit Schorsch von den Zitronen geplant.
Total aus dem Häuschen und ganz von der Leine sind auch die Gay City Rollers aus Hannover. Gay bedeutet hier soviel wie lustig und City Rollers ist ironische Huldigung an die Karottenband der 70er Jahre. Alle sechs Mann sind Vollblut-Rock’n’Roller und mit ihren teilweise schweinischen Texten riskieren sie hier und da schon mal ein Auftrittsverbot. Besonders verboten: Frontman Elvis McPrick, ein Original, ein Komiker und eine gelungene Mischung aus Vollproll und aufgeblähtem Minigolfball. Wobei wir beim Thema wären. Denn natürlich liegt einem Hannoveraner Rock’n‘-Roller nichts näher als dieser wunderbare Freiluftsport. Also kreierten die GCR für die Europameisterschaft der Bahngolfer die offizielle Erkennungsmelodie „Minigolf und werden die Bahngolfer-Hymne im Mai bei der Siegerehrung in Hannover live zum besten geben.
Unterbrochen wird die chaotische Reihe durch Barbarella aus Wiesbaden. Erstens machen sie’s auf Englisch, zweitens anders als man denkt. Barbarella verstehen sich als Spiegel der Musikepochen und der Stile. Charlie Labriola, Komponist und Texter der meisten Stücke, ist ein Mann der 60er Jahre. In dieser Zeit schlug er schon in Amerika auf seine Gitarre ein. Der Rest der Band, allen voran die blonde Sängerin Barbara, gefedert mit einer klassischen Gesangsausbildung, sind Kinder des Punks. Auch Barbarella zeigen Sinn für Humor. Für die Videoclip-Aufnahmen zu „The King And I“ beförderten sie Bürgermeister Exner aus Wiesbaden kurzerhand zum Taxifahrer und die Zusammenarbeit mit dem ebenfalls in Wiesbaden gestrandeten, alten Film-Haudegen Eddie Constantine schlug sich in einer Single namens „The Honeymoon Is Over“ nieder: Eddie schrieb den Text und singt. Barbarella machen die Musik dazu.
Wer mit Punks Geschäfte macht, braucht die Geduld eines Chamäleons und das Gemüt eines Nilpferds. Fabsi hat beides: „Großes Treffen bei Schorsch in der Wohnung. Es ging um GVL-Verträge für die Zitronen und Rocko, echte Knete also. Nur waren Schorsch und Rocko nicht da, sie mußten kurzfristig nach Düsseldorf auf eine Party. Dafir kamen irgendwelche Typen, um Geburtstag zu feiern. Die Verträge weichten auf, die Schecks wurden zu Trichtern gefaltet. Morgens um acht kamen die Jungs aus Düsseldorf zurück und unterschrieben endlich. Mit geschlossenen Augen. Ich hätte ihnen auch ihr Todesurteil drunterlegen können. Punkbizz ist Vertrauenssache. Ich betrachte mit Argwohn die aktuellen Majordeals mit den neuen Gruppen. Wenn ich sehe, daß einige Band ihre, in dieser Szene besonders lukrativen Merchandising-Rechte gleich mitverhökern, fällt mir nichts mehr ein. Hoffentlich kommt es nicht wieder zum großen Ausverkauf.“
Den Abstürzenden Brieftauben aus Hannover wird das wohl nicht passieren. Da sei Martin Propp, Musikverleger, Chef der Firma „O-Ton“ und Manger der bunten Vögel vor. Und er hat vielleicht das große Los gezogen.
„Es ist unglaublich, was mit den Jungs im Augenblick passiert. Wir haben im Dezember eine Tour durch 17 Städte gemacht, in denen die Brieftrauben noch nie aufgetreten sind. Überall waren die Hallen ausverkauft, obwohl wir keine Promotion gemacht haben. Die letzte LP hat sich in kürzester Zeit über 20.000 mal verkauft. Jetzt rennen mir die Major-Companies die Bude ein. WEA, Imercord, EMI und Phonogram, alle klingeln an. Der Chef der SPV rührt den Jungs persönlich den Zucker im Kaffee um.
Eine gute Ausgangsbasis für einen Deal und ein regelrechtes Fanal.
„Ist doch klar. Die Firmen gucken sich erst die Hitparaden an und dann im eigenen Hause um und fragen sich, warum sie nicht so etwas wie Die Hosen oder Die Arzte im Repertoire haben. Ich vermute, daß die Brieftauben die Chance wahrnehmen, in die Lücke zu stoßen, die die Arzte hinterlassen haben.“
Das Zeug dazu haben sie. Aber von Nichts kommt nichts. Schließlich sind sie schon seit vier Jahren am Flattern. Die Brieftauben sind das Duo Konrad Kittner (Sohn des Hannoveraner Polit-Kabarettisten Dietrich Kittner) und Micro Bogumil. Im Vergleich zu den benachbarten Leeren Versprechungen, die ausschließlich Gassenhauer wie „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“ oder „Der schönste Platz ist immer an der Theke“ aufwendig und professionell durch einen gnadenlosen Rockrotor laufen lassen und so jeden Schlager zum Schläger machen, pflegen die Brieftauben den Minimalismus, Spontanität und eigenen Witz. Dabei sind sie charmant und respektlos zugleich, schön anzusehen und hemmungslos jung. Die besten Voraussetzungen, um Teeniestars zu werden. Schon unterschrieben bei der großen Industrie, nämlich bei der Anola, haben Lüde und die Astros, vier wilde Rocker aus Osnabrück. Schon ewig im Geschäft, hatte sie jahrelang Schwierigkeiten mit ihrem Hardcore-Image und Brutalo-Outfit. Dabei sind die Astros nette Leute und Lüde ein Unikum. Er sieht aus, als ob er als Hells Angel mit seiner Harley in die Hölle gefahren und als blonder Engel wieder auf die Erde zurückgekommen ist. Dort verkauften sie ihre erste bekannte Single „Harley Davidson“ auch ausschließlich in Harley-Fachgeschäften. Ihre neue LP WILDES HERZ wird überall verkauft.“ Wir haben keine Probleme mit der Industrie, und hatten auch nie diesen Independent-Slatus zu verlieren. „
Dem neuen Werk merkt man den langen Marsch durch die Rockmusik an.
Sie präsentiert drei Jahre Lüde-Erfahrung, und ist von Ärzte-Produzent Hoffmann gekonnt nach Ärzte-Erfolgs-Rezept produziert. Schwer, hart und fett kommt der Sound. Geschwindigkeit und deutscher Klartext über die Extremitäten des Alltags machen die Platte zu einem heißen Favoriten für diesen Frühling. Weiß man, daß auch der einstige Ärzte-Labelmanager bei der CBS, Lüde und die Astros für die Ariola „einkaufte“, wird klar, wohin die Reise gehen soll. Die ersten professionellen Anwärter für die Ärzte-Nachfolge sind da!
Eher am Anfang einer Karriere stehen die Dimple Minds aus Bremen. Da stehen sie schon länger und das hält sie frisch. Als der Schlagzeuger dem Bassisten endlich das Singen beigebracht hatte, waren sie nicht mehr zu halten. Mit einer bösartigen Mischung aus Schmuddelpunk und Heavydreck und solch subtilen Titeln wie „Blau auf dem Bau“, „Trinker an die Macht“ und „Tausend Huren“, fingen sie sich den Ruf als Trunkenbolde und Frauenfeinde ein, dabei sind sie gar nicht so. “ Unser Publikum ist grausam. Sie kennen unsere Texte besser als wir, aber die meisten nehmen sie zu ernst.“ stöhnt Chefrülpser Lars. Ein ähnliches Problem plagte die Rattlesnake Men aus Berlin. Sie gehören ebenfalls zur Nachhut der musikalischen Spaß-Guerilla. „Das einzige was wir niemals ernst nehmen, sind musikalische Richtlinien. Wir betreiben Stil-Satire“, erklären sie.
So verzerren sich 70er-Punk, Hardcore und Rockabilly im Spiegel-Kabinett der Rattlesnake Men zu neuen Formen.
Auf der einen Seite inszenieren sie ein Hörspiel, das als „Kuttes Party“ in der U-Haft seinen krönenden Abschluß findet, auf der anderen Seite arbeiten sie, unterstützt von Beckmann (Rainbirds), an einer Scheibe, auf der Klassiker wie „San Francisco“ und „You Really Got Me“ zu zweifelhaften, aber auf jeden Fall neuen Ehren kommen. Daß Humor nicht nur von dieser Welt ist, beweisen die Planets, ein weiterer Vielklang-Act. Sie kommen direkt aus dem Kosmos, ihre Botschaft ist ein Comic, der den Platten beiliegt. Ihr Humor ist universell, ihr Outfit gelackt und ihre Musik klingt wie ein Zusammenstoß zwischen einem B-52 und dem Raumschiff Enterprise. In Deutschland noch nicht richtig gewürdigt, können sie sich rühmen, auf der SONY-Insel während ihrer letzten Tournee tausenden Japanern das Lächeln des aufgehenden Unverständnis ins Gesicht gezaubert zu haben. Ja, ja, der Prophet im fernöstlichen Land…