Emmy The Great
Aus der Reihe: Große Kunst, die aus großem Schmerz entsteht. Eine umtriebige Londoner Singer/Songwriterin rettet sich mit verspieltem Anti-Folk.
Emma-Lee Moss schrieb bereits die Einladungskarten, als ihre Hochzeit abgeblasen wurde. Ihr Verlobter eröffnete ihr eines Tages, dass er Gott gefunden habe, zum Christentum konvertiert sei, und künftig als Missionar durch ferne Länder ziehen wolle. „Es war schrecklich“, sagt sie heute, „ich konnte noch nicht mal darüber sprechen. Ich zog mich völlig in meinen Kopf zurück. Natürlich war das nicht mein erstes Beziehungsende, aber es war das erste, das ich absolut nicht verstehen konnte.“ Dabei gab sie sich alle Mühe: Die in Hongkong geborene Londonerin verschlang Bücher über das Christentum, besuchte religiöse Treffen, suchte Rat bei Pfarrern. „Ich traf auf ein paar wunderbare Menschen, rational denkende Christen, aber mit den ganzen Kernthemen dieser Religion, wie der Dreifaltigkeit, konnte ich einfach nichts anfangen“, sagt sie. Irgendwann gab sie auf, aber nicht, ohne etwas Gewinn aus all dem Verlust und der Verwirrung zu ziehen. Ihre Fragen und Antworten flossen in ihr zweites Album, Virtue: „Ich war von meinen Gefühlen total überfordert, bis mir der Gedanke kam: Hey, du bist doch Songwriterin, du hast doch ein Ventil. Meine Kreativität war mein Ausweg aus diesem Verlies.“
Virtue ist ein sehr intimes Album geworden, resigniert, aber nie weinerlich. Denn dem Seufzen, das zwischen all den Textzeilen mitschwingt, wird von musikalischer Seite mit eingängigem, süßlichem Anti-Folk begegnet. „Virtue ist das Album, wofür Folk gebetet hat“, lobt die Londoner Tageszeitung „Evening Standard“, der britische „Guardian“ feiert Moss als „eine der kühnsten Autorinnen, die Pop heutzutage hat“ und meint damit auch die virtuose Schreibe der 27-Jährigen, mit der sie sich mit Jobs für die Zeitschrift „Artrocker“ und das Webzine „Drowned In Sound“ ein Zubrot verdient. Denn noch blieb der Durchbruch aus, Virtue strandete trotz Kritikerruhm auf Platz 84 der UK-Charts.
Ein persönlicher Erfolg ist es aber allemal: Moss‘ Ex-Verlobter hörte von der Platte und meldete sich von seinem Auslandseinsatz: „Ich bekam eine sehr nette E-Mail von ihm. Ich schrieb ihm zurück, doch dann kam eine lange Mail von ihm, die nur von Jesus handelte.“ Bis heute hat Moss nicht geantwortet. Muss sie aber auch nicht, schließlich hat sie sich um eine neue Beziehung zu kümmern: zu Ash-Kopf Tim Wheeler. Nach einigen Kollaborationen, wie dem Charity-Song „Washington Parks“ für die Multiple-Sklerose-Forschung und gemeinsamen Konzerten auf Ashs „A-Z Tour“, machten die beiden ihre Liebe im Sommer 2011 öffentlich. Beruhigend für Moss: Dem kontroversen Ash-Song „Jesus Says“ nach zu urteilen, dürfte Wheeler kaum den Wunsch verspüren, Andersgläubige bekehren zu wollen.
Albumkritik S. 81
* 2007 sang Moss neben Florence Welsh kurzzeitig bei Lightspeed Champion.
* Ihr Künstlername geht auf Universitätszeiten zurück: „Alle am Campus nannten mich Emmy, ich fand das furchtbar. Ich dachte, mit dem Zusatz ‚The Great‘ diesen dämlichen Namen aufbessern zu können.“
* Auf ihrem ersten Album First Love behandelt sie in einem Song die Aussprache des Namens M.I.A.
* Virtue wurde von Gareth Jones (Depeche Mode, These New Puritans, Grizzly Bear) produziert.