Emeli Sandé über den Plan B


Was wolltest du als Mädchen werden, Ärztin oder Sängerin?

Das Musikgeschäft war schon immer mein Lebenstraum. Als ich 16 Jahre alt war, filmte mich meine Schwester am Klavier, und wir schickten das Video nach London, um an einem Fernsehwettbewerb teilzunehmen. Ich kam ins Finale und gewann. Der Preis war ein Plattenvertrag. Ich habe ihn abgelehnt.

Du hast auf den Hauptgewinn verzichtet?

Das war kein Vertrag, sondern ein Schriftsatz zur Entmündigung. Ich hätte gern unterschrieben, ich war 16 und ungeduldig. Geduld aber ist die Voraussetzung für eine lange Laufbahn im Musikgeschäft.

Da hast du lieber etwas Geschei-tes studiert?

Wer Musiker werden will, sollte sich nicht darauf versteifen. Er braucht einen Plan B. Mein Plan B war der Studienabschluss in Medizin, für mich die akademische Königsdisziplin. Als Ärztin tut man etwas für andere, für die Allgemeinheit. Ich finde den Plan immer noch perfekt, und wer weiß, wofür er einmal gut gewesen sein wird.

Ein angesehener Beruf, ein sicherer Job.

Für Musiker ist harte Arbeit noch lange keine Garantie für beruflichen Erfolg, für Ärzte schon. Aber ich habe ja die Musik nie ruhen lassen. Mein Keyboard hatte ich immer bei mir. Ich bin in Restaurants und Hotels aufgetreten, um mir das Studium zu finanzieren. Nebenbei hat mir das Singen seelisch geholfen. Wenn ich Songs geschrieben habe, war ich frei.

Frei wovon?

Ich habe erst Allgemeinmedizin studiert und dann Neurologie, wie geplant. Ich habe ein Jahr neurowissenschaftlich geforscht, bevor ich nach London gezogen bin und einen Plattenvertrag unterschrieben habe. Das Gehirn ist das faszinierendste Organ, das wir haben. Im Rest des Körpers finden wir uns problemlos zurecht. Das Hirn ist ein Rätsel. Das hat mich allerdings auch deprimiert. Wir behandeln Menschen mit Pillen, weil wir ihre Leiden nicht verstehen. Aber eines Tages werden wir mehr wissen, dann bin ich wieder dabei.

Andererseits erweckt die Hirnforschung heute den Eindruck, sie könne alles erklären. Wird das Gehirn überschätzt?

Die Hirnforschung überschätzt sich selbst. Sie erklärt immer nur, was wir schon wissen: Musiker sind musikalisch. Wahnsinn. Aber wer weiß: Nirgends gibt es noch mehr zu entdecken als in unserem Nerven-system. Wir wissen, dass Musik etwas mit unseren Gefühlen an-stellt. Aber was?

Verfolgst du den Stand der For-schung?

Nicht wirklich. Aber ich engagiere mich für die Musiktherapie nach Nordoff/Robbins. Da geht es darum, in jedem den Musiker zu wecken. Und es ist zumindest kein Geheimnis, welche Neuronen dabei feuern. Dadurch wiederum sehen wir, dass Heilen durch Musik komplizierter ist, als viele engagierte Therapeuten glauben. Es reicht nicht, traumatisierten Kindern Trommeln in den Schoß zu legen.

Wie macht das Gehirn aus Schwingungen in der Luft etwas, das wir schön und sinnvoll finden und Musik nennen?

Das werden wir uns noch in Jahrmillionen fragen.

Denkst du, wenn du Songs schreibst, darüber nach, was eine Melodie und drei Akkorde in den Köpfen auslösen?

Wenn der Song fertig ist, ja. Beim Schreiben denke ich nur an den Song selbst. Aber möglicherweise sieht das mein Unterbewusstsein anders.

Hast du einen Abschluss?

Ich bin Facharzt für Neurologie. Für den Doktor hätte ich noch 18 Monate länger an der Uni bleiben müssen. Musik fand ich dann doch verlockender als eine Zukunft als Nervenarzt. Ich hatte mir das auch so vorgenommen: Studium beenden und dann wieder ab ans Klavier und gucken, was geht. Es ging dann mehr als gedacht.

Die Musikindustrie hat dich wieder mit offenen Armen empfangen?

Ich hatte schon Songs für andere geschrieben. Der erste war „Diamond Rings“ für Chipmunk, damit hat es vor vier Jahren angefangen, Platz sechs in Großbritannien. Meine Mutter hat auch unermüdlich Demo-CDs an Radiosender verschickt.

Du hast Songs für die verschiedensten Interpreten geliefert. Für die singende Hausfrau Susan Boyle, die „X Factor“-Siegerin Leona Lewis und den Brit-Rapper Professor Green.

Ich wollte herausfinden, was ich alles kann: was Klassisches für Susan Boyle, was Festliches für Leona Lewis und was Deftiges für Professor Green. Ging alles. Manchmal habe ich auch mitgesungen. Den einen oder anderen Song habe ich später selbst aufgenommen.

Eigentlich heißt du Adele. Emeli ist dein zweiter Vorname. An Adele Adkins wolltest du dich nicht messen lassen?

Das war mir dann eine Nummer zu groß. Alle hätten mich „die kleine Adele“ genannt. Im Musikgeschäft wird sehr darauf geachtet, dass sich Produkte voneinander unterscheiden.

Jetzt bist du erfolgreicher als Adele.

Wer sagt das?

Die Verkaufszahlen deines Albums sagen das.

Ach nein. Adele ist ein Weltstar, eine Marke und eine große Sängerin. Dafür braucht sie keine Handelsbilanzen mehr.

In „Heaven“ singst du „I’m nothing like before“. Hat die Musikindustrie dich verändert?

Es wäre seltsam, wenn meine Persönlichkeit noch dieselbe wäre wie im neurologischen Seminar. Ich bin ernsthafter geworden. Weniger idealistisch. Passiert einem zwangsläufig, je mehr man das Geschäft begreift. Man lernt sich zu wehren.

Vor einem Jahr, bei den Brit Awards, hat Adele der Industrie den Mittelfinger gezeigt.

So weit würde ich nicht gehen wollen. Solange man mich in Ruhe Musik machen lässt, will ich mich nicht beschweren.

Klingt langweilig. Von Popstars wird mehr erwartet.

Klar. Vor allem von Frauen.

Der britische Pop wird immer weiblicher. Liegt das an den Frauen oder an den Männern?

Was mit den Männern los ist, weiß ich nicht. Dass es heute nicht nur Annie Lennox gibt, sondern seit Amy Winehouse unzählige eigene Stimmen, ist ja auch nichts anderes als eine feministische Errungenschaft.

Deshalb hast du dir Frida Kahlo auf den Arm tätowieren lassen?

Das Porträt habe ich mir stechen lassen, als ich mich von der Medizin wieder in die Musik gestürzt habe. Frida Kahlo wacht über mich.

Bei den Brit Awards hast du dich in deiner Dankesrede zur Außenseiterin erklärt. Wie war das gemeint?

Ich will kein Popstar sein. Ich habe nie ins Beuteschema der Plattenfirmen gepasst, die wollen hübsche und willige Mädchen und keine Musikerinnen. Ich stamme aus einem Kaff in Schottland. Kennst du nicht, Alford, liegt bei Aberdeen. Es gibt da nicht viele Schwarze in der Gegend. Als Kind war das schwierig. Aber je älter ich wurde, umso besser fand ich es, anders zu sein.

Wann hast du deinen ersten Song geschrieben?

Mit acht. Ein noch eher experimentelles Stück. Aber ich wusste sofort, dass ich Songschreiberin werden wollte. Für eine Sängerin fand ich mich allerdings immer zu schüch-tern. Bis mir schlagartig bewusst wurde, dass ich genau deshalb Songs schreibe und singe: weil es mir schwerfällt, mich zu öffnen.

Sind Musiker meist schüchterne Menschen?

Davon bin ich überzeugt. Ich halte die Leisen für kreativer als die Lauten. Natürlich wäre das Musikleben ärmer ohne die Selbstdarsteller. Aber Musik sollte von innen kommen.

Es gibt eine DVD von deinem Konzert in der Royal Albert Hall. Scheu wirkst du da nicht.

Die Introvertierten sind ja oftmals auch die besseren Schauspieler. Sie haben das von klein auf gelernt. Auf der Bühne bin ich die selbstbewussteste Sängerin aller Zeiten. Als Beruf verstehe ich das Singen allerdings erst, seit ich mein Medizinstudium beendet habe.

Adele Emeli Sandé kam 1987 in der schottischen Provinz zur Welt. Ihr Vater stammt aus Sambia, ihre Mutter aus England. In ihrer Jugend nahm Emeli an Gesangswettbewerben teil, entschied sich dann aber für ein Medizinstudium. Anschließend ging sie nach London, um Musikerin zu werden. Sie schrieb Songs für Chipmunk und Professor Green, bevor sie OUR VERSION OF EVENTS aufnahm, in Großbritannien das meistverkaufte Album des vergangenen Jahres.