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Elektro-Pop: Diese 10 Platten solltet ihr kennen


Synthie-Pop hat neben den Bekannten noch einiges mehr an Schmuckstücken zu bieten. Wir stellen euch 10 Must-Know-LPs vor.

No Music For The Masses: Bei aller großen Liebe für Depeche Mode, Pet Shop Boys und Erasure, gibt es im Synthie-Pop auch ein Leben abseits der Big Names. Wir heben versunkene Schätze des Genres hervor und sind ganz erstaunt: Hier ist nichts verrostet, alle Anschlüsse funktionieren einwandfrei! Hier kommen 10 Lieblingsalben, die wunderbar fiepen, pluckern und blubbern.

Yellow Magic Orchestra – SOLID STATE SURVIVOR (1979)

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Seit ein paar Jahren reiben sich die Bescheidwisser im Mainstream der Minderheiten ungläubig die Ohren: Monat für Monat werden wunderbare Alben mit multistilistischem Patchwork-Pop aus dem Japan der 70er- und 80er-Jahre ausgegraben. Als Erste unter Gleichen der neuen alten Japan-Welle gilt das Yellow Magic Orchestra. Auf ihrem zweiten Album SOLID STATE SURVIVOR findet die Band aus Tokio ihren Stil. Haruomi Hosono, Ryuichi Sakamoto, Yukihiro Takahashi und das heimliche vierte Mitglied Hideki Matsutake, der als Programmierer dafür sorgt, dass die Synthesizer so klingen, wie sie es tun, sind Pioniere des synthetischen Pop. Die Musik auf SOLID STATE SURVIVOR: elektronisch, technoid und voller wunderbarer Popmelodien. Dazu integriert die Band den Faktor Humor in die elektronische Musik, ein Genre, das sich gerne bierernst gibt. Der Humor zeigt sich in den melodischen Wendungen der Songs, in seltsamen Synthesizer-Sounds, komischem vocoderisierten und naturbelassenem Gesang und in einer Novelty-Coverversion des Beatles-Songs „Day-Tripper“. Das Yellow Magic Orchestra arbeitet etwa zur selben Zeit wie Kraftwerk an der Popwerdung der elektronischen Musik, aber mit anderen Mitteln. Ihr zweites Album macht die Band in ihrer Heimat Japan zu Stars. Im Rest der Welt werden ihre Pionierleistungen erst mit ein paar Jahren Zeitverzögerung gewürdigt. Der Synthie-Pop des Yellow Magic Orchestra wird in der Folgezeit in alle möglichen und unmöglichen Richtungen ausschlagen – und Spuren hinterlassen. Die Single „Behind The Mask“ wird unzählige Male gecovert, unter anderem von Michael Jackson, der den Song ursprünglich auf seinem Album THRILLER veröffentlichen wollte.

Albert Koch

New Musik – FROM A TO B (1980)

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Um ein Haar wäre Tony Mansfield ein großer Name des Genres geworden. Als Produzent begleitete er die Norweger a-ha bei ihren ersten Aufnahmen. Für sechs der zehn Songs von HUNTING HIGH AND LOW zeigte er sich verantwortlich, ausgerechnet aber für die Hits „Take On Me“ und  „The Sun Always Shines On TV“ engagierten die Norweger den Hitprofi Alan Tarney, der ansonsten für Cliff Richard tätig war. Mansfields Versionen der beiden Singles blieben lange im Giftschrank – und er in der zweiten Reihe. Da kannte er sich aus, seine Band New Musik hielt sich ebenfalls dort auf. Der Name belegt die Vorliebe für Kraftwerk und weitere elektronische Musik aus Deutschland, auf allen drei New-Musik-Alben zwischen 1980 und 1982 zeigt Tony Mansfield ein exzellentes Gespür für melodischen Synthie-Pop mit Ambition und schrägen Ideen. Das Debüt A TO B liegt im Vergleich mit den drei LPs knapp vorne: „Straight Lines“ überführt die New-Wave-Nervosität in Synthie-Pop, „Sanctuary“ inspirierte die Sparks zu ihren Ausflügen in dieses Genre. „A Map Of You“ kühlt die Platte um einige Grade herunter, „Living By Numbers“ bedient die für das Genre obligatorische Digitalisierungskritik: „You can count all the numbers / You bet that someone’s counting you.“ Besonders stark ist A TO B in den Momenten, wenn sich Mansfield leidenschaftlich in 80s-Pop-Nonsens stürzt: Die banale Feststellung „Dead Fish (Don’t Swim Home)“ führt zu einem abenteuerlichen Stück, das als rückwärtslaufende Ambient-Anordnung beginnt, um danach den feder-leichten Synhtie-Pop von a-ha vorwegzunehmen. Bei „This World Of Water“ nutzt Mansfield den sündhaft teuren Fairlight CMI, um seine Vocals zu pitchen – so wie es heute die Bedroom-Indie-Popper tun.

André Boße

Phil Lynott – SOLO IN SOHO (1980)

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Kein Urlaub von Thin Lizzy, denn die Jungs sind bei den Aufnahmen mit dabei. Wohl aber eine Abkehr vom Hard Rock. Es ist das Jahr 1980, und Phil Lynott hat Lust auf Pop. Vielleicht lässt er sich von seinem Management auch dazu überreden, so ganz klar wird das nicht. Schon interessant, wie der sehr markante Musiker auf dieser Platte in andere Fahrwasser eintaucht – jeweils mit deutlicher Synthie-Pop-Drift. Geht „Dear Miss Lonely Hearts“ als Pop-Variante seiner eigenen Band durch, entsteht die Elvis-Hommage „King’s Call“ zusammen mit Mark Knopfler von den Dire Straits, was man auch sofort hört. Das Titelstück nimmt Bezug auf den New-Wave-Reggae von The Police oder Fischer-Z, „Tattoo (Giving It All For Love)“ bringt Pop-Eleganz in den Mod-Soul-Pop von Kevin Rowland und seinen Dexy‘s Midnight Runners, zwei Jahre später nehmen ABC diesen Faden für THE LEXICON OF LOVE auf. Fun-Fact: Huey Lewis spielt bei „Tattoo (Giving It All For Love)“ Mundharmonika – und klingt wie Stevie Wonder. Das zentrale Stück der Platte ist „Yellow Pearl“, mitgeschrieben von Midge Ure, der 1980 nicht nur Ultravox zur Hit-Maschine machte, sondern zwischen 1979 und 1980 bei Thin Lizzy Keyboards und Gitarre spielte, als Ersatz für Gary Moore. Bei den Soundchecks versuchte sich Ure regelmäßig an futuristischen Synthie-Sounds und entwickelte dabei das Grundthema von „Yellow Pearl“. Als Lynott für SOLO IN SOHO einen lupenreine Synthie-Track wollte, erinnerte er sich daran – und bat Midge Ure, das Stück zu vollenden. Das Ergebnis ist so sehr ein Prototyp für 80s-Pop, dass die Macher der BBC-Hit-Show „Top Of The Pops“ den Track von 1981 bis 1986 als Erkennungsmelodie nutzten, wenn auch in einer etwas voller klingenden Remix-Version.

André Boße

Thomas Dolby – THE GOLDEN AGE OF WIRELESS (1982)

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Es ist 1982 – und Thomas Dolby erzählt von einer kabellosen Welt, in der die Informationen wie Gespenster durch die Luft fliegen. Zu einer Zeit, in der herausnehmbare Autotelefone noch fast zehn Kilo wogen. Dolby inszenierte sich nicht ohne Grund als „funky mad scientist“ der Synthie-Pop-Szene: Der Brite wusste mehr, konnte mehr – war sich aber auch bewusst, dass sein nerdiger Ansatz auf dem Weg an die Spitze der Charts im Weg stehen wird. Die Vorzüge des Freakseins lernte er in seinen ersten Jahren als Tontechniker für The Fall, später diente er als Session-Musiker für Haarspray-Hardrocker wie Foreigner und Def Leppard. In den USA gilt Dolby als One-Hit-Wonder, seit er 1983 mit „She Blinded Me With Science“ einen launigen Nerd-Hit für verpeilte College-Kids landete. Sein erstes Album THE GOLDEN AGE OF WIRELESS erschien ein Jahr früher, hat trotz des Covers mit B-Movie-Nonsens nichts zu tun. Songs wie „Flying North“ mit seinem Ultravox-Gedächtnis-Keyboard oder das Art-Pop-Stück „Weightless“ sind unglaublich clever. Ein Meisterwerk ist das Sophisticated-Pop-Stück „Airwaves“, das sich keinen Millimeter hinter Prefab Sprout oder Joe Jackson verstecken muss. Wie hoch damals Dolbys Stellenwert beim britischen Pop-Adel war, zeigt „Europa And The Pirate Twins“: Die Mundharmonika spielt Andy Partridge von XTC, Co-Produzent ist Tim Friese-Greene von Talk Talk. Das Stück steckt voller Gimmicks, handelt vom Weg Europas heraus aus den katastrophalen Wirrungen des Zweiten Weltkriegs, ist aber dennoch catchy as hell – was daran liegt, dass Dolby den Song nach Zukunft klingen lässt, ihn aber auf einem Bo-Diddley-Rhythmus aufbaut.

André Boße

Beverly Glenn-Copeland – KEYBOARD FANTASIES (1986)

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Ein bisschen New Age kann doch nicht schaden. Der kanadische Sänger und Produzent Beverly Glenn-Copeland hatte Anfang der 1980er-Jahre schon eine längere Musikkarriere hinter sich, in seiner alten, zugewiesenen Geschlechtsidentität „Frau“, die sich für ihn nie passend anfühlte. Er hatte einige schöne Blues- und Folk-Alben veröffentlicht und als Kindermusik-Komponist unter anderem für die „Sesamstraße“ gearbeitet. Dann kam, ausgestattet allein mit einem DX7-Synthesizer von Yamaha und einer TR-707 Drum Machine von Roland, der Wechsel zum Synth-Sound und zum Home-Producing. Sein Album KEYBOARD FANTASIES, das er 1986 selbst als kleines Kassetten-Release veröffentlichte und das 2017 dann im größeren Stile wiederveröffentlicht wurde (nicht zuletzt dank kultischer Verehrung auf dem japanischen Sammlermarkt), ist ein Meisterwerk der Ambientmusik. Die Stücke sind teils instrumental, teils geschmückt mit sanft gechanteten Mantras, die von buddhistischen Lehren informiert sind. Sie beschwören die Vergänglichkeit und ewige Erneuerung der Lebenszyklen („Ever New“) oder die gedankenklärende Freude und Ergriffenheit beim Betrachten eines Sonnenaufgangs („Sunset Village“). Glenn-Copeland hat diese wunderbar weiche, nicht hohe, aber auch nicht tiefe Stimme, die zwischen den Genderzuschreibungen zu schweben scheint. Ein Album für die einsame Insel, wenn man denn mal auf sie muss.

Jan Kedves

Jesus Loves You – THE MARTYR MANTRAS (1990)

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Nach seinem Ausstieg bei Culture Club, vielen, vielen Partys und noch mehr Drogen, fand Boy George für eine Weile Halt und Orientierung in Indien, bei den Hare Krishnas. Davon zeugt „Bow Down Mister“, der Hit dieses Soloalbums. Darin verarbeitete Boy George einen Indien-Trip, auf dem er – quasi auf den Spuren von George Harrison und den Beatles – die persönliche Horizonterweiterung, wenn nicht gar Erleuchtung gesucht hatte: „Paint a tilak on your brow, open like a lotus flower, it’s time to check your karma now, hare hare hare“, singt er ganz verzückt – und schon ist das Leben besser? Nun, heutzutage könnte man so etwas – mit Bindis! mit OM-Zeichen! nach den Skandalen der Krishnas! – als westlicher Popkünstler sehr wahrscheinlich nicht mehr veröffentlichen. Es sei denn, man freute sich auf einen Cultural-Appropriati-on-Shitstorm. Aber THE MARTYR MANTRAS enthält auch großartige, unbedenkliche Songs, die vom Vibe der frühen House-Tracks des Rave-Booms Ende der 1980er-Jahre kosten. Etwa „Generations Of Love“ inklusive Toasting-Einlagen von Ari Up von The Slits. Oder „After The Love“, ein meditativer Track, in dem Zitate aus Lou Reeds „Walk On the Wild Side“ und aus „French Kiss“ von Lil’ Louis verbastelt sind. „No Clause 28“ war ein Protest-Track gegen Margaret Thatchers extrem homophobe Politik. Insgesamt ist dieses Album ein beeindruckendes Zeugnis davon, wie sich Rave-Culture, Pop-Geschichtsbewusstsein und ein Blick über den westlichen Tellerrand bei der persönlichen Sinnsuche befruchten können.

Jan Kedves

The Other Two – THE OTHER TWO & YOU (1993)

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Die Neunzigerjahre haben begonnen, New Order splitten sich erstmals auf: Bernard Sumner tüftelt mit Johnny Marr und unterstützt von Neil Tennant an Electronic, Peter Hook gründet mit Revenge ein wackeliges Electronic-Projekt. Übrig bleiben Keyboarderin Gillian Gilbert und Drummer Stephen Morris, die beiden sind ein Paar, die Hochzeit folgt 1994. Es ist vorstellbar, dass die beiden damals treu zum Routineprobetermin von New Order erschienen und sich wunderten, dass sonst niemand kam. Eine gute Idee, in diesem Fall auch ein eigenes Projekt zu gründen. Noch dazu eines mit dem Namen The Other Two. Das ist understatement. Und Entertainment ist es auch. Das erste Album THE OTHER TWO & YOU (1999 folgt mit SUPER HIGHWAYS noch ein zweites) hat es damals schwer, die Kritik beschwert sich über die große Nähe zur Hauptband. Bei Electronic schreiben die Journalist:innen Ähnliches – vergeben aber mehr Sterne oder Punkte. Ende Mai 2024 ist die vergriffene Platte neu veröffentlicht worden, eine gute Gelegenheit, noch einmal genauer hinzuhören. Und siehe da: THE OTHER TWO & YOU ist makellos. Gillian ­ Gilbert ist eine super Sängerin, den Stil adaptiert Sarah Blackwood später erfolgreich für ihre Electro-Britpop-Band Dubstar. The-Other-Two-Songs wie „Selfish“ oder „The Greatest Thing“ besitzen die Pop-Sensibilität der besten New-Order-Momente. Weil der Bass aus dem Computer kommt, wirkt die Musik weniger voluminös, dadurch aber nicht kühler. Es gibt kurze Flirts mit Acid-House („Ninth Configuration“) und Detroit-Techno („Feel This Love“), „Innocence“ nimmt im Original die Fährte nach Madchester auf; auf dem Reissue ist ein damals untergegangener Remix zu hören, der eine Spur Soul in die Sache bringt.

André Boße

Client – CLIENT (2003)

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Anfang der Nullerjahre feiert der Synthie-Pop sein erstes Revival im größeren Stil. Zu dieser Zeit sind die 80er-Jahre schon weit genug weg, damit sich ihre Retro-Ästhetik im aktuellen Pop als Pseudo-Novität breitmachen darf. Und das ganz ohne Schamgefühle. Noch ein paar Jahre vorher wurde nämlich alles aus den Pop-80ern auf dem Müllhaufen der Musikgeschichte zwischengelagert. Das Duo Client ist das erste und einzige Signing auf Toast Hawaii, dem Label von Andy Fletcher, der als Mitglied von Depeche Mode ein besonderes Verhältnis zum Synthie-Pop hat. Client sind ein pop-kulturelles Gesamtkunstwerk, sie führen Image und Musik perfekt zusammen. Zunächst bleiben die Mitglieder anonym, sie bezeichnen sich als Client A und Client B. Später wird bekannt, wer dahintersteckt: Kate Holmes, Ehefrau von Creation-Records-Gründer und Oasis-Entdecker Alan McGee, und Sarah Blackwood, Sängerin von Dubstar. Das Duo tritt in Stewardessen-Outfits auf und flirtet mit S&M-Ästhetik. Watteweiche Synthesizer, Subbässe, stoische Beats und die ein oder andere schräge Einlage kennzeichnen das Debütalbum CLIENT. Mit Engelsstimme trägt Blackwood die bissigen Texte, die vor allem von weiblicher Selbstermächtigung handeln, vor. Von der ersten bis zur letzten Minute ist dieses Album eine Ansammlung simpler und deshalb ohrwurmiger Popmelodien. Die heimlichen Hits: „Price Of Love“, „Happy“ und „Rock And Roll Machine“ mit der erstklassigen Zeile „Rock and Roll is all I wanna do“. Vor allem aber klingt das Album wie ein zeitgenössisches Update der frühen The Human League. Nach diversen Umbesetzungen sind Client heute noch aktiv. Die Klasse ihres Debütalbums haben sie allerdings nie wieder erreicht.

Albert Koch

Schwefelgelb – ALT UND NEU (2008)

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Die streckenweise Brutalität dieses Albums könnte wohl dagegensprechen, es hier in eine Reihe mit Synth-Pop-Schätzen zu stellen. Andererseits verbasteln Schwefelgelb, alias Sid und Eddy aus Berlin, auf ihrem Debütalbum ganz eindeutig – und dem Titel entsprechend – Verbeugungen vor alten Synth-Pop-Ikonen der 1980er-Jahre wie Depeche Mode, Trio oder DAF. Dazu kommen die Mitte der Nullerjahre neueren Electropunk-Kloppereien à la T.Raumschmiere, heftig quietschend, schabend, nervenzerreibend. Es ergibt sich eine nahezu unwiderstehliche Mischung aus Süße und Härte – etwa wenn Schwefelgelb in „Dann ist das gut“ zu harmonisch-harmlosen Glöckchen-Tingeleien und hüpfenden Taschenrechner-Sounds singen: „Wenn sich der Nachbar um die Ecke bringt, dann ist das gut.“ Oder wenn es in „Kleine Sylvia“ zu einem dünnen Electro-Beat, der stark an „Da Da Da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha“ von Trio erinnert, heißt: „Du bist alt, und ich bin jung. Du hast mich kurz geliebt und mein verbrauchtes Gesicht. Kleine Sylvia, ich muss gehen, lass die schweren Gedanken vergehen.“ In der Haut dieser kleinen Sylvia möchte man nun nicht unbedingt stecken, aber der Song ist so unfassbar catchy und poppig, dass man sich schon fragt, warum daraus 2008 kein Riesenhit wurde. Achja, zu der Zeit war eher der Stadion-Electro-Sound à la „When Love Takes Over“ von David Guetta und Kelly Rowland erfolgreich. Es geht nicht immer gerecht zu.

Jan Kedves

Let’s Eat Grandma – I’M ALL EARS (2018)

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Der Bandname klingt nach Punkrock, doch lehrt die Musik von Rosa Walton und Jenny Hollingworth aus Norwich auf andere Art das Fürchten. Ihr zweites Album beginnt mit dem kurzen Intro-Stück „Whitewater“, Nebel zieht auf, im Synthie-Wald steht eine Zauberin mit Geige und fiedelt zum Tod. Na, dann mal rein in diese Platte. Die verschachtelte Produktion des Tracks „Hot Pink“ übernahm SOPHIE, der Sound besitzt eine enorme Kraft, Walton und Hollingworth singen um ihr Leben. Sowieso: Synthie-Pop ist häufig eine Musik für klare Lead-Vocals, die beiden Engländerinnen zeigen, wie toll sich Stimmen übereinanderlegen lassen, das Ende von „Hot Pink“ ist in dieser Hinsicht besonders stark. Bei Songs wie „It’s Just Not Me“ oder „Falling Into Me“ sind Let’s Eat Grandma auf ähnlichen Wegen wie Chvrches aus Schottland unterwegs. Was diese und viele andere Tracks von I’M ALL EARS besonders macht, ist die Länge. Fünf Minuten sind keine Seltenheit, am Ende wird das Album endgültig episch: Neun Minuten „Cool & Collected“, mit einem ersten Part im Björk-Stil zu Sugarcubes-Zeiten, später dann mit Darkwave-Piano und einer großen Synthie-Prog-Geste im Finale. „Donnie Darko“ widmet sich elfeinhalb Minuten lang dem Mystery-Film mit dem Hasen, den jede Generation neu für sich entdeckt. Die Komposition beginnt, wie Pink Floyd in den 80ern geklungen hätten, wäre Syd Barett noch dabei gewesen. Dann startet ein Synthie-Pop-Trip, der alle Stimmungen des Albums noch einmal konzentriert und überzeichnet, inklusive einer irre lauten E-Gitarre, der es trotzdem nicht gelingt, die blubberenden Keyboards zu überdecken. Das muss echte Synthie-Liebe sein.

André Boße