„El Camino“ auf Netflix: Mehr „Breaking Bad“-Nostalgie als „Bitch“-Momente
Während bei „El Camino“ atmosphärisch und das Erzähltempo betreffend alles beim Alten bleibt, ist Jesse Pinkman zwangsläufig erwachsen geworden. Damit hat er nicht nur seine Unschuld, sondern (leider) auch ein Stück seiner Unterhaltsamkeit verloren. ACHTUNG, SPOILER!
„Hör auf, dich immer auf die finstere Vergangenheit zu konzentrieren. Vergangen ist vergangen“, ermahnt Ex-Chemielehrer Walter White seinen ehemaligen Schüler und späteren Meth-Protegé Jesse Pinkman in der rund vierminütigen Rückblende, die dem „Breaking Bad“-Sequel vorangeht und dem unwissenden Zuschauer eine Basis für das folgende Filmerlebnis liefern soll.
Dass es sich bei „El Camino“ dennoch ohne Zweifel um ein Geschenk an die Fans der Serie und damit zwangsläufig um keine Zufallsentdeckung für den gelangweilten Netflix-Zuschauer handelt (wie Serienmacher Vince Gilligan zuvor korrekt in einem Interview ankündigte), wird bereits in der ersten Szene des Vendetta-Streifens klar.
„El Camino“ ist definitiv nichts für gelangweilte Quereinsteiger
Darin lassen Gilligan und Co. beim Zuschauer für einen kurzen Moment die Hoffnung aufflammen, dass Tatortreiniger und Fan-Favorit Mike Ehrmantraut vielleicht doch noch am Leben sein könnte. „Wo würdest du hingehen an meiner Stelle?“, fragt Jesse diesen, während er rauchend auf (vermutlich) jenen Fluss hinausschaut, an dessen Ufer Mike später sein jähes Ende finden soll. Nach Alaska würde er gehen, antwortet dieser, ein neues Leben beginnen.
„Alaska… Ich fang neu an, ganz von vorn. Biege alles gerade“, fantasiert Jesse. Doch Mike holt ihn schnell auf den harten Boden der Tatsachen zurück. Genau das sei das Einzige, das man niemals tun könne. Das Fanherz bricht in diesem Moment ein wenig, sowohl für Mike als auch für Jesse, denn es weiß um das tragische Schicksal, das in der Zukunft in unterschiedlichen Gewändern auf beide Männer wartet.
Die Konversation der beiden durch ihr zweifelhaftes Handeln zusammengebrachten Freunde stellt nur eine von zahlreichen Rückblenden dar, die Jesses Entscheidungen und Motivationen in der gegenwärtigen Handlung erklären sollen. Zusätzlich ist „El Camino“ mit einer Reihe Callbacks gespickt, die jeden Quereinsteiger zur Verzweiflung bringen dürften. So haben neben Jesses besten Freunden Skinny Pete und Badger sowohl Schrottplatzbesitzer Joe als auch „The Disappearer“ Ed einen Gastauftritt. Selbst einige Fans der Serie dürften sich bei der ein oder anderen auftauchenden Figur oder Location fragend am Kopf kratzen.
Die Leiche einer „Putzfrau“ neben einer Sammlung kitschiger Schneekugeln
Im Zentrum der Handlung steht dennoch immer Jesse Pinkman und dessen Schicksal vor und nach dem Entkommen aus seiner Gefangenschaft einer mafiösen Nazi-Gang. Distinktive Veränderungen des äußerlichen Erscheinungsbildes des (Anti-)Helden helfen erfolgreich dabei, trotz der zahlreichen Zeitsprünge nicht die Übersicht über die präsentierte Timeline zu verlieren.
Während Pinkman in seiner vergleichsweise unschuldigen Teenager-Form nur in zwei Szenen auftritt, zeigen ihn weitere Rückblenden verwahrlost, langhaarig und von seinen Torturen sichtlich gebrochen. Der Jesse der Gegenwart trägt zwar (nach Außen und Innen) die Narben seiner Misshandlung, hat sich aber mit seinen Haaren und dem Dreck seiner Gefangenschaft auch der zum Schutz auferlegten Benommenheit entledigt.
Trotz der teilweise sehr ernsten Materie hat „El Camino“ auch einige komische Momente zu bieten, die dem von Reue und Rache durchzogenen Geschehen immer wieder erfolgreich die Schwere nehmen. So zum Beispiel, wenn Badger dem traumatisierten Jesse erklärt, welches Eau de Toilette er am Besten benutzen solle („Obsession ist der Hammer, yo. Hab ich ihm zu Weihnachten geschenkt.“). Oder aber in Form des herrlich ahnungslosen Todds, der neben der Leiche seiner „Putzfrau“ auch eine Sammlung kitschiger Schneekugeln in seinem Osterei-Apartment lagert.
„El Camino“ endet wie auch die Serie ihren Abschluss fand
Und, ja, auch Walter White feiert schließlich ein kurzes Comeback und sorgt damit für jenes Nostalgie-Gefühl, das wir uns von „El Camino“ so sehr gewünscht hatten, das jedoch leider nur an einer Handvoll Stellen zufriedenstellend einsetzt. Passenderweise ist es auch genau dieses Flashback, das dem Zuschauer vor Augen führt, wie sehr sich Jesse verändert hat. Während atmosphärisch und das Erzähltempo betreffend alles beim Alten bleibt, ist Jesse im Laufe der Jahre zwangsläufig erwachsen geworden. Damit hat er nicht nur seine Unschuld, sondern (leider) auch ein Stück seiner unterhaltsamen Essenz verloren. Statt „Bitch“-Momenten darf sich der Zuschauer nun also über treffsichere Schüsse, malerische Explosionen und ein (hoffentlich beabsichtigt) komisches Wild-West-Duell freuen.
Dennoch lässt sich das Gefühl nicht abschütteln, dass man bereits beim Schreiben des Drehbuches zu viel Angst vor einem Aufstand der treuen „Breaking Bad“-Fanbase hatte, die sich jahrelang so sehr ein Happy-End für ihren Helden gewünscht hat. Die Spannung, die sich in der Serie Stück für Stück durch Fehlschläge und herzzerreißende Konsequenzen in der Vergangenheit liegender Entscheidungen steigern konnte, lässt sich zugegebenermaßen nur schwer auf ein zweistündiges Format übertragen. Und doch hätte man sich an der ein oder anderen Stelle ein bisschen mehr Mut zum Risiko gewünscht.
„El Camino“ endet schließlich so wie auch die Serie ihren Abschluss fand: Mit Jesse Pinkman hinter dem Steuer eines Fluchtwagens. An seiner Seite – wenn auch nur für einen kurzen Moment – die Person, die für ihn damals eine Kehrtwende darstellen sollte und es nun, ganz vielleicht, auch endlich tut. Denn eins hat Jesse in den vergangenen Jahren gelernt: „Es ist besser, gewisse Entscheidungen selbst zu treffen.“
„El Camino“ steht seit dem 11. Oktober 2019 auf Netflix im Stream zur Verfügung.