Einst regnete es für Nine Inch Nails live Bockwürste. Heute dagegen sind ihre Konzerte ein Fall für Hightech-Medien.
EIf Jahre ist es her, seit Trent Reznor das urdeutschesle aller Erlebnisse halte. Er und seine Band, die amerikanische Industrial-Formation Nine Inch Nails, spielten zu Beginn der Neunziger in Mannheim ausgerechnet im Vorprogramm von Guns N‘ Roses. Zwei Welten prallten damals aufeinander – hier eher simpler Hardrock für langhaarige Traditionalisten, dort technoid-metallische Computerklänge für Menschen mit resistentem Nervenkostüm. Ein Spagat, der misslingen musste. „Als es losging, hatte ich die Hosen gestrichen voll“, erinnert sich Reznor mit Grauen. „Wir gingen auf die Bühne und wussten sofort, dass wir keine Chance hatten. Es war die Hölle: 85.000 Menschen pfiffen und zeigten uns den Mittelfinger. Sie waren gekommen, um eine Rockgruppe mit Gitarren statt mit Synthesizern zu sehen. Für die Gunners-Fans waren wir keine richtige Band, eher eine Art homosexuelles Gebilde. Als wir realisierten, dass die Show den Bach runterging, zogen wir uns ein wenig weiter zurück. Gerade dafür hassten uns die Leute aber nur noch mehr und warfen Bockwürste auf die Bühne. An was denkt man, wenn man als Amerikaner zum ersten Mal nach Deutschland kommt? An Würstchen! Und kaum standen wir in Deutschland auf der Bühne, flogen tatsächlich Bockwürste.“
Mittlerweile kann der sensible Musikus über diese Anekdote schmunzeln. Nicht nur, da das hiesige Publikum bereits lange Frieden mit seiner schroffen Sound-Apokalypse geschlossen hat, sondern auch, weil sich durch die Erfolge der vergangenen lahre aus dem notorischen Zweifler ein spürbar ausgeglichener Zeitgenosse entwickeln konnte. In Amerika avancierte der schwerreiche Trent zum Superstar, bekam gleich mehrere Grammy Awards, wurde 1994 zum Sexsymbol (!) des Jahres gewählt und verkauft Tonträger oberhalb der Dreimillionengrenze. Doch damit nehmen auch die kommerziellen Verlockungen stetig zu: „Es gibt immer mehr Leute in meinem Umfeld, die fordern: ‚Schreib doch noch mal ’nen Singlehit, dann würdest du noch viel mehr Scheiben verkaufen! Dein letztes Album ging vier Millionen Mal über den Ladentisch, doch es könnten sechs Millionen sein, wenn du etwas wirklich Radiotaugliches komponierst.‘ Man muss solchen Stimmen entgegentreten und sich darauf besinnen, seine Musik aus rein künstlerischen Motiven zu machen. Das klingt so simpel, aber ist doch sehr kompliziert. Man sieht immer wieder, dass Bands nach großen Erfolgen völlig abflachen, weil sie nur noch auf den Erfolg schielen und lediglich weiter Musik machen, um Geld damit zu verdienen.“
Bislang sind Nine Inch Nails standhaft geblieben, nehmen nur die eigenen Klangvisionen als Maß aller Dinge und erklären Authentizität zum obersten Gebot. So auch bei einem bereits 1997 geplanten Live-Video, das nach Sichtung des Materials zurück in die Schublade musste. Trent: „Wir wollten während der The Downward Spiral‘-Tour einen Livemitschnitt machen. Ich hatte ein gutes Gefühl, die Band war sehr vital, die Konzerte liefen auf hohem Niveau, die Reaktionen des Publikums waren fabelhaft. Also heuerten wir ein großes Filmteam an, um eine Show aufzuzeichnen. Doch das Ergebnis war fürchterlich. Es wirkte wie aus einer billigen Fernsehsendung, steril, gekünstelt. Ich wollte ein möglichst authentisches Ergebnis und nicht Aufnahmen aus irgendwelchen riesigen Kränen heraus, die typisch für den Glamour des kommerziellen Showbiz sind.“
Nach einem weiteren Studioalbum mit dem Titel „The Fragile“ wagte Reznor im vergangenen Frühjahr einen zweiten Versuch, die exaltierte Bühnenshow seiner Band in Ton und Bild festzuhalten. Und diesmal fanden die Aufnahmen doch tatsächlich den Zuspruch des eigenwilligen Meisters. Während der „2000 Fragility V2.0“-Amerikatournee zeichneten Nine Inch Nails insgesamt 25 Konzerte mit einer Reihe kleiner portabler Digitalkameras auf und veröffentlichen nun einen Zusammenschnitt dieser Shows unter dem Titel „And All That Could Have Been“ als Doppel-CD und DVD. Darauf visualisieren Nine Inch Nails gekonnt ihre akustischen Florrorszenarien, dreschen dumpfe Rhythmen im grellen Gegenlicht einer gespenstischen Bühnendekoration und transferieren das harsche Klangbild ihrer Studioproduktionen konsequent auf die Bühne.
Besonders spannend an „And All That Could Have Been“ sind allerdings nicht die Aufnahmen der regulären Bühnenshow, sondern eine Bonus-CD namens „Deconstructed/Quiet“, die Reznor von einer überraschend neuen Seite zeigt. Er erklärt: „Wir spielten eine Radioshow in Chicago, brachten nur das nötigste Equipment mit und präsentierten die Sachen rein akustisch. Die Songs haben einen exquisiten Charme und gehen eine tolle Verbindung mit der regulären Live-CD ein. Man hat also einerseits Nine Inch Nails als gewalttätigen, lärmenden und chaotischen Rockact, während ‚Deconstructed/Quiet‘ das genaue Gegenteil davon darstellt. Die Aufnahmen sind sehr intim, zumeist nur ich und ein Piano -Lieder, die man an einem regnerischen Samstag Nachmittag anhören sollte.“
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