Portrait

Maurice Summen: Der Agitator ist müde


Maurice Summen hat eine Familie. Biologisch schon seit Jahren, als Band ist sie neu. Maurice & Die Familie Summen versammelt viele alte Bekannte, nun kam das Debütalbum BMERICA – ein guter Anlass, um sich das vielwinklige Universum seines Staatsakt-Labels erklären zu lassen.

Und es wurden immer mehr

Mit der Künstlerliste wuchs nicht nur der administrative, sondern auch der psychologische Betreuungsaufwand, sagt Maurice Summen: „Da sind ja auch noch all die Schicksale, die Menschen hinter der Musik und Bands, vielleicht auch hinter den Kunstfiguren. Independent hat viel mit Enttäuschung zu tun.“ Die sich heute schwerer auf die Schultern legt als in seinen ersten Jahren als Musikunternehmer: „Als Hans-guck-in-die-Luft siehst du viele Gefahren nicht.“

(Keine) Bewegung aus dem Underground: Festivals und Doppel-Vinyl mit Schnipo, Drangsal, Isolation Berlin und vielen mehr
Nächstes Jahr wird Maurice Summen 44, und auch wenn diese Angabe für viele Menschen eine mindestens so abstrakte Zahl ist wie der Betrag hinter dem Minus auf dem Bankkonto, hat er sich doch verändert in den letzten Jahren. Das Alter!, ganz ernsthaft. Lange habe ihn die Arbeit mit den jungen, nachwachsenden Künstlern auch jung gehalten, sagt er.

Zusammen mit dem Hamburger Label Euphorie hat er den Sampler Keine Bewegung entwickelt, von dem nun die zweite Auflage erscheint: „Eine Art Bestandsaufnahme des urbanen Musik-Underground jenseits von HipHop“, sagt Summen, mit noch obskuren, nestwarmen Bands und Extra-Material von etablierteren Acts wie Isolation Berlin und Drangsal.

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Man(n) wird nicht jünger …

Jeden Hopser von den jungen Hüpfern kann und will er trotzdem nicht mehr mitmachen: „In letzter Zeit stelle ich fest, dass mich einige Sachen einfach nicht mehr interessieren. Das klingt jetzt eventuell arrogant, aber ich empfinde das als Erleichterung. Jede Nacht um die Häuser ziehen, coole Bands anschauen, am Tresen abhängen – muss ich nicht mehr. Und schaffe ich nicht mehr.“

„In letzter Zeit stelle ich fest, dass mich einige Sachen einfach nicht mehr interessieren. Ich finde das sehr beruhigend“ (Maurice Summen)

Wenn er auf ­BMERICA vom „Recht auf Unerreichbarkeit“ singt, ist das keine jugendliche Pose der Verweigerung, sondern echt ernst gemeint. Oder, ein anderes Lied: „Nichtantworten ist das neue Nein“.

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„Ich glaube immer noch an Alternativ-Kulturen, die an realen Orten stattfinden“, sagt Summen. „Eine Facebook-Gruppe ist schnell gegründet. Aber abends die Schuhe anzuziehen und noch mal raus zu gehen, das kann schon mal ein Kraftakt sein.“

Die Zukunft …

Was das für die Zukunft von Staatsakt bedeutet? Natürlich will er sein Label auf keinen Fall aufgeben. „Ich muss ja nicht aufhören oder verkaufen, ich könnte uns ja auch einfach personell verjüngen und selbst den Senior Vice President geben. Ich will ja auch noch mit brennen. Aber es spricht auch nichts dagegen, mal die Rolle zu wechseln.“

Wie man ja auch in einer klassischen, biologischen Familie nicht ewig der junge Lockerdad bleibt, der sich mit den Kleinen auf dem Fußboden balgt. „Die Familie Summen“, seine „sehr besondere, größenwahnsinnige“ Live-Band, ist für ihn auch eine „soziale Skulptur“: „,Familie‘, das klingt natürlich gar nicht nach Pop, sondern ein bisschen uncool. Für mich ist das aber auch ein Zeichen gegen die nervige Zwangsindividualisierung, die immer schlimmer wird. Der kollektive Gedanke ist mir sehr wichtig.“

„BMERICA“-Tour: Macht die Ohren auf für Maurice & die Familie Summen
„Niemand ist aus sich selbst heraus kreativ“, so steht es im „Gubener Manifest“, das Summen vor ein paar Jahren mit seiner Labelfamilie anlässlich des zehnjährigen Jubiläums bei einem dreitägigen Eso-Camp erarbeitete. „Ich kann eben gerade keine coole Band-Gang mehr führen, denn ich führe ja schon meine Familiengang mit Frau und zwei Kindern.“

Fließende Übergänge

Die Übergänge sind fließend: Michael Mühlhaus ist kürzlich mit seiner Familie ins selbe Haus gezogen, mal sitzt man bei dem einen, mal bei dem anderen im Wohnzimmer und musiziert. So bildet „die Familie Summen“ auch Lebenswirklichkeit ab: „Ich führe kein swaggy Scheißegal-Leben mehr, und ich will auch nicht so tun. Ich trage Verantwortung für meine physische Familie und für das Label, ich stelle Rechnungen, ich zahle Steuern, ich habe mit dem Finanzamt zu tun. Schön abslacken, das wäre mir inzwischen zu boring. Und ich will einfach gerne meine Lebensphasen auch in meinen Werken vermerkt wissen. Davon erzählen.“

Auch wenn der Platz an der Staatsakt-Familientafel schon ziemlich vollgedrängelt ist und langsam eng wird: „Die Liebe zur Musik, zum Text, und zur Konzeption – das ist alles immer noch da. Ich habe nur keine Lust mehr auf ewige Schizolyse, darauf, mit meiner Musik endlos die Widersprüche aufzeigen zu wollen, die wir alle aushalten müssen.“

Also für den Moment lieber eine Runde Familienkuscheln, warum nicht. „Ich will nicht den Mark-E.-Smith-Weg gehen“, sagt Maurice Summen, und fasst dann seine aktuelle Feelings-Phase in einem Satz zusammen, der schon wieder einen guten Liedtitel abgäbe: „Der Agitator ist müde.“

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Maurice & Die Familie Summen auf Tour:

Noch mehr Summen …

Mehr von (er hat nämlich als Autor auch unsere ME-Helden The Residents vertextet) und über Maurice Summen findet Ihr im November-Musikexpress: