Ein klassischer Fall für Paul McCartney – Im Auftrag des Herrn


Daß er ins offene Messer der Kritiker laufen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Was Paul McCartney nicht davon abhielt, sich trotzdem als klassischer Komponist zu versuchen. ME/Sounds war bei der schweren Geburt dabei.

Liverpool, ein unfreundlicher Montagmorgen Ende März. Die Musiker des Royal Liverpool Philharmonie Orchestras kommen zusammen, um erstmals ein Stück zu proben, das eigens zum 150jährigen Bestehen des Orchesters geschrieben wurde. Während die Instrumente gestimmt werden, erscheint eine heruntergekommene Gestalt am Rande der Bühne und setzt sich in die letzte Reihe der Orchesterstühle. Seinem Äußeren nach ist er einer der zahllosen Arbeitslosen aus Liverpool, der in der Halle ein ruhiges Eckchen sucht, um sich etwas aufzuwärmen. Er trägt einen braunen Mantel, der schon bessere Tage gesehen hat, ein zerknittertes weißes T-Shirt, schwarze Jeans und schwarze Turnschuhe. Sein Haar ist lang, schon leicht ergraut, und in der Hand trägt er einen billigen grünen Nylon-Rucksack mit seinen sieben Sachen.

Der amerikanische Dirigent Carl Davis ist bereits auf dem Podium und erläutert dem Orchester die ersten Takte. „Okay“, sagt er schließlich, Jos geht’s!“ Das Baton in der Hand, hebt er dramatisch die Arme und stellt sich auf die Zehenspitzen, als würde er gleich abheben und durch die Halle schweben. Doch bevor er beginnt, blickt er noch ein letztes Mal auf und schickt ein aufmunterndes Lächeln in die letzte Reihe zu dem ärmlichen Besucher, der — wir ahnen es — natürlich Paul McCartney heißt.

Es gibt keinen Grund, warum sich der reichste Mann Englands anziehen sollte wie der reichste Mann Englands. So denkt auch Paul McCartney. Er sieht nicht nur so aus, als müßte er jeden Penny zweimal umdrehen, sondern hat obendrein noch einen extrem angestrengten Gesichtsausdruck. Als Bewegung in das Orchester kommt, rutscht er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. schlägt die Beine mal nach rechts, mal links übereinander, rauft sich die Haare, spielt nervös mit seinen Fingern und kaut seine Nägel.

Er hat jeden Grund, nervös zu sein. Das Werk, das hier einstudiert wird, heißt „Paul McCartneys Liverpool Oratorium“ — und Paul selbst hat nur eine leise Ahnung davon, wie es wohJ klingen wird. Davis, sein MitStreiter bei diesem Projekt, kann die Schnörkel und die mysteriösen Symbole auf der Partitur lesen; er hört schon im Kopf jede Nuance, jedes Allegro, Adagio und Andante. Für McCartney hingegen sind es böhmische Dörfer, weil er gar nicht mit Noten arbeiten kann. Wenn er einen Song komponiert, macht er das auf der Gitarre oder dem Klavier, merkt sich dann die Melodie und spielt sie. Ganz simpel. Bei einem eineinhalbstündioen Oratorium in acht Sätzen, geschrieben für ein Symphonie-Orchester, vier Sänger und zwei Chöre, sieht die Lage natürlich etwas diffiziler aus.

Nicht zuletzt ist McCartney natürlich deshalb nervös, weil er seinen Namen für ein eindeutig klassisches Werk hergibt — dazu noch ein Oratorium! Als er mit dem Komponieren begann, wußte er nicht mal. daßtr an einem Oratorium schrieb, und zwar einfach deswegen, weil er nicht wußte, was das überhaupt war! „Ich fragte Carl: Schreiben wir hier eine Symphonie?‘ Er sagte: .Nein, das ist doch etwas ganz anderes.‘ .Also wird’s ein Concerto?‘ fragte ich. ,Nein, wird’s nicht.‘ .Ist es denn eine Suite?‘ .Um Himmels willen, nein!‘ Erst als ich zufällig einen Artikel las. der erklärte, daß ein Oratorium ein religiöses Werk sei. das von Solisten gesungen, von einem Chor und einem Orchester unterstützt wird, war mir klar, worauf ich mich überhaupt eingelassen halte. Aber ich mußte es genau wissen; ich wollte schließlich nicht ausgelacht werden. Also rief ich Carl an und sagte: .Carl, ich würde es gern als Oratorium verstanden wissen. Ist das okay?“

McCartneys Oratorium, das Ende Juni in der anglikanischen Kathedrale von Liverpool seine Premiere feierte, begann mit einer Reihe von Zufällen. Vor ein paar Jahren dirigierte Carl Davis ein Konzert der Liverpooler Philharmoniker. Er wurde gefragt, ob er nicht eine passende Idee für den 150. Geburtstags des Orchesters hätte, und er sagte — warum, weiß er nicht mehr —, man könne doch etwas mit Paul McCartney machen. Super, meinten alle, wenn Sie ihn bitte daraufhin ansprechen wollen.

Davis hatte zwar bis dahin noch nicht das persönliche Vergnügen gehabt, kannte aber jemanden, der ihn kannte. Seine Frau nämlich ist die Schauspielerin Jean Boht, die in einer englischen Soap-Opera mitwirkte, welche von Carla Lane geschrieben wurde, die wiederum oft mit ihrer guten Freundin Linda McCartney für den Tierschutz eintritt. Seltsamerweise hatte Paul von Davis gehört und wußte, daß er ein leidenschaftlicher Musiker mit breitem Musikgeschmack war. Er konnte sich sogar an ein Interview erinnern, in dem Carl sagte, daß er auch einen guten Popsong gern mal instrumentieren würde. Das war Musik in Pauls Ohr. und er sagte damals zu Linda: „Irgendwann werde ich ihn wohl mal kontakten.“

Und so kam es, daß die Davises eingeladen wurden, einen Tag mit den McCartneys in ihrem Haus in Sussex zu verbringen.

Dummerweise waren sie nicht die einzigen Gäste, denn Pauls Familie und Freunde waren mit von der Partie. Schließlich hatte Davis doch Glück, nahm McCartney zur Seite, erzählte ihm über die Einladung der „Phil“ und schlug ein Requiem oder eine Messe als passende Form vor. McCartney war zwar zuvorkommend, erklärte aber, daß er kein Interesse an Projekten dieser Art habe.

Davis hatte sich schon mit der Antwort abgefunden, als sich die letzten Gäste mit einer Tasse Tee entspannten und McCartney anfing, über seine Kindheit in Liverpool zu erzählen. Er erinnerte sich an seine Familie, seine Schule. „The Inny“ (The Liverpool Institute), die Lehrer, wie er mit seinen Kameraden „abhing“ und seine Nachmittage sonnenbadend auf den ¿

Grabsteinen des nahegelegenen Friedhofs verbrachte. Davis griff die Gelegenheit beim Schöpfe und machte sich erste Notizen. McCartneys Interesse war geweckt…

In den folgenden Wochen kreierte Davis eine Skizze für ein Stück, das grob auf dem Leben McCartneys basieren sollte. Das Expose ging hin und her und wurde immer wieder geändert, denn Mc-Cartney bestand darauf, daß allenfalls die beiden ersten Sätze autohiograrisch wurden. Er war und ist der Meinung, es sei „zu langweilig“, die Beatles-Litanei nochmal runterzuleiern.

Nachdem die Richtung grundsätzlich abgestimmt war, kam der Moment, an dem sich Davis und McCartney ans Klavier setzen mußten, um zu sehen, ob sie überhaupt zusammen arbeiten konnten. McCartney. „Ich wußte nicht, ob die Chemie stimmen würde. Wir sind sehr verschiedene Persönlichkeiten. Er war New Yorkerjüdisch, sehr im Showbiz inwlviert, mit einer Schauspielerin zur Frau. Überall dabei. Ich komme aus Liverpool und habe mit dem Showbiz nichts am Hut.

Ich besuchte Carlzuhause und fragte: ,Wo fangen wir an?‘ Er sagte:,Sun, mit dem ersten Satz – Krieg‘ und fing an, einige melodiöse Akkorde zu spielen, sehr McCartney-rnäßig. Ich sagte:, Nein, nein, nein, stop! Es muß viel unruhiger sein, wie die Fotos von Liverpool während des Krieges, alles schwarz, mit bombenwerfenden Fliegern und der vorbeirasenden Feuerwehr mit ihren Alarmglocken. Ich will, daß die Leute in ihren Sitzen hinumiheimischen, boom-boom-boom …‘ Er sagte:,Meine Güte, das ist gut‘ und begann, wild Noten zu kritzeln. Die Blätter flogen nur so herum.“

Davis: „Es war relativ einfach, großartige Entwürfe zu entwickeln, aber entscheidend war, wie wir uns zusammenraufen würden, als wir allein in einem Raum vor dem Klavier saßen. Ich habe früher viel Filmmusik geschrieben, deswegen konnten wir, wann immer wirslekkenblieben, uns einfach ein Bild vorstellen und dann versuchen, es musikalisch zu beschreiben. Er hat ja eine außergewöhnlich fruchtbare Zusammenarbeit mit George Martin hinter sich, wo er es auch irgendwie schaffte, seine Ideen für eine Orchesterbearbeitung auszudrücken — das Streichquartett in ,Eleanor Rigby‘ etwa oder das Trompetenobligato in ,Penny Laue‘ — also war es ihm nicht fremd, mit Worten und Bildern zu vermitteln, was er hören wollte.

Trotzdem griibelte er noch immer vor sich hin, ah wir die Partitur längst abgeschlossen hatten. Deshalb wollte er auch die Proben so früh wie möglich. Er sagte zu mir: ,Sieh mal, du weißt, wie sich alles anhören wird — ich nicht. Ich muß es einfach hören, bevor wir es aufführen. ‚“

Als das Orchester in die Mittagspause des ersten Probentages geht, zeigt sich McCartney jedenfalls „äußerstangetan“. „Die ganze Geschichte macht mich nervlich ganz schön fertig. Aber ich habe alle Erfahrungen hier reingesteckt — in der Hoffnung, daß tatsächlich etwas Substanzielles dabei herauskommt. Ich muß jetzt noch meine Gefiihle im Zaum hallen, bis die Sache ausgestanden ist. „

Das letzte Mal, so McCartney, sei er vor 30 Jahren in der Philharmonie Hall gewesen, als er für seine Schulklasse die Abschlußrede hielt. Alle Jungs saßen im Parkett und gaben vor. Latein zu verstehen. Seine Mutter und sein Vater hätten da vorne gesessen, sagt er, und zeigt auf einen Balkon. Es wäre schön, wenn sie auch jetzt dabei wären, obwohl sein Vater vermutlich wenig mit einem Oratorium anfangen könnte. Er sei ein Jazz-Fan gewesen — und bei jedem klassischen Stück im Radio habe er immer gesagt: „Mach das verdammte Zeug aus. „

Beide Eltern sind tot, aber der McCartney-Clan in Liverpool ist riesig. Ein Teil der Familie ist bereits da. bestens ausgerüstet mii VIP-Pässen, obwohl auf dieser ersten Probe nur Bruchstücke der Musik zu hören sind. Es sind einige pickelgesichtige Jugendliche gekommen, ein älterer Onkel, der an seinem Hörgerät hantiert und ein Trupp vollbusiger Matronen, Cousinen und Tanten, die rot vor Stolz sind und jedes Wort, jede Geste Pauls atemlos verfolgen.

Am Nachmittag ist McCartneys Selbstvertrauen merklich gewachsen. Er sitzt nun am Rande der Bühne, nickt im Takt der Musik, singt die Worte stumm mit und reißt ab und zu Witze mit den Orchestermitgliedern. Davis sieht ständig vom Dirigieren hoch, um zu prüfen, ob der Komponist auch mit allem einverstanden ist. Immer wieder gibt es Unterbrechungen, geflüsterte Beratungen zwischen den beiden. McCartney mag zwar nicht in der Lage sein, Noten zu lesen, aber er weiß genau, was er will. „Hier braucht’s mehr Schwung, tsk, tsk, tskl“, sagt er an einer Stelle, und „Was hier fehlt, ist das abschließende diddledin-pom-pom!“

Hinten im Parkett sitzt ganz allein Kiri Te Kanawa, die den Sopran-Part übernehmen soll. Sie ist heute nur Gast, weil sie ihre Stimme schonen muß, aber sie wollte zur Probe kommen, um sich auf die Musik einzustimmen, die sie nach eigenen Angaben wunderschön findet.

„Ich bin mir sicher, daß einige Kritiker bereits die Messer wetzen, weil Paul McCartney es gewagt hat, ein klassisches Stück zu schreiben, aber ich wüßte nicht, wie man etwas Besseres komponieren könnte als dieses Werk. Ich bin mit seiner Musik aufgewachsen, hätte mir aber nie träumen lassen, einmal mit ihm zusammenzuarbeiten. Es ist ungeheuer aufregend.“

Ihr Enthusiasmus wird von ihrem Sangeskollegen, dem amerikanischen Tenor Jerry Hadley, vollauf geteilt. „Als ich Paul zum ersten Mal traf under in den Raum kam, sagte ein Teil von mir: Du bist ein Profi, du keimst Luciano und Placido, dies ist einfach der nächste Job…, aber es gab da noch den anderen Teil von mir, der sagte: WOW, it’s Paul McCartnev!“

McCartney und Davis betonen, daß sie die „drei Stadion-Sänger“ — Pavarotti, Domingo und Carreras — absichtlich nicht für die Tenorparts wollten — wegen ihres starken romanischen Akzentes. Aber auch Kiri Te Kanawa hat ihre Schwierigkeiten, sich den Liverpooler Dialekt anzueigen. Auf der Toilette wird man Zeuge davon, wie sie — unterstützt von einer Einheimischen — die richtige Betonun« einer wichtigen gesprochenen Passage zu lernen versucht. „By the way, you re aboul to becorne afather“, sagt Kiri. „Nein, nein, nein“, verbessert sie die Stimme Liverpools, „es heißt ferther. Ferther. „

Kurz nach Fünf macht das Orchester für heute Schluß, aber Davis und McCartney haben nur wenig Zeit zur Muße, denn es geht gleich weiter mit den Chorproben — mit dem Philharmonie Choir und den Jungs vom Liverpool Anglican Cathedral Choir. Ein paar Treppen hoch ist in einem Raum für die McCartneys. ihre Gäste und die unvermeidliche Gruppe von Veranstaltern. Verantwortlichen und Hilfskräften ein vegetarisches Essen angerichtet. McCartney redet fast die ganze Pause hindurch mit seiner Familie.

Auch die Chorproben verlaufen unproblematisch. McCartney sitzt mit einem Bleistift hinterm Ohr in seinem Stuhl, während Davis im Schweiße seines Angesichts weiterarbeitet. Als er die Sänger endlich in die Nacht entläßt, brechen sie in spontanen Applaus aus. Die Jungs vom Kirchenchor drängeln sich um McCartney, um ein Autogramm zu ergattern.

McCartney weiß nur zu gut. daß er mit dem Oratorium ein Risiko eingeht, er weiß, daß er freiwillig sich aufs Schaffet böswilliger Kritiker begibt. Er hat das schon einige Male getan, der größte Reinfall war sein katastrophaler Film „Give My Regards To Broad Street“, der erbarmungslos verrissen wurde. Sollte McCartneys Oratorium ein ähnliches Schicksal ereilen, wird es ihn nicht davon abhalten, neue Projekte in Angriff zu nehmen, denn eines wird im Gespräch mit ihm klar: daß er von einem besonders hartnäckigen Ehrgeiz getrieben wird. Seit mehr als 20 Jahren versucht McCartney, John Lennons Geist zur Ruhe zu bringen. Es wurmt ihn noch immer, daß die Öffentlichkeit John als das launische, musikalische Genie sieht, die eigentlich kreative Kraft des Lennon-McCartney-Teams. während Paul als Leichtgewicht mit dem Talent für Melodien und als lustiger Typ mit dem Augenzwinkern abgetan wird. Und das, obwohl McCartney der avantgardistischere der beiden war, zumindest am Anfang. Es war McCartney. der „Interlational Times“ gründete, dem Indica Bookshop Starthilfe gab, der lagritte-Bilder sammelte und mit 8-mm-Filmen experimentierte.

„Ich habe all das gemacht, während John auf einem Golf-Course im verdammten Weybridge lebte“, sagt er. „Es gab immer diese falsche Vorstellung von uns beiden. Das nervt mich ja, aber ich glaube fest an die Zeit. Es gibt so viel herauszufinden über uns wer was gemacht hat zum Beispiel, aber ich glaube, es wird irgendwann ans Tageslicht kommen. „

Vermutlich hat es Lennons Tod für McCartney unmöglich gemacht, das einzufordern, was seiner Meinung nach sein rechtmäßiger Platz in der Beatles-Geschichte ist — jedenfalls nicht, ohne dabei auf dem Grab seines früheren Partners herumzutrampeln.

„Paul kann einfach nicht losgehen und behaupten, daß er es war, der dieses und jenes gemacht hat, gerade jetzt nicht“, erklärt Linda. „Viele künstlerische und kreative Dinge, die John zugerechnet werden, gehen eigentlich auf Pauls Konto. Aber man kann es nicht beweisen, und ich glaube, daß es Paul immer noch schmerzt, daß die Leute in John das Genie sehen, und in Paul nur den netten, melodiösen Trottel. Ich sage ihm immer, daß es letztlich egal ist, was die Leute sagen. Er weiß doch, was er ist und was er initiiert hat, aber das ganze Kapitel wurmt ihn doch sehr.“

Die Proben am Dienstag werden in der Anglikanischen Kathedrale gehalten, weiträumig abgeschirmt von uniformierten Security-Guards. Was nur durchaus seine Berechtigung hat. seit das Gerücht, McCartney sei in der Stadt, die Runde gemacht hat und eine kleine Fangemeinde bereits geduldig auf seine Ankunft wartet. Heute kommt der Multimillionär in schwarzer Trainingshose und einem dunkelgrünen Pulli mit den gleichen schwarzen Turnschuhen und dem gleichen furchtbaren Mantel, von dem er stolz berichtet, er habe ihn für 10 Dollar in einem New Yorker Sparmarkt gekauft. Er wird wie immer von Linda und diesmal von allen vier Kindern begleitet. James, mit 13 Jahren der Jüngste, hat einen Basketball und schaut sich hoffnungsvoll im Innern der Kathedrale um. als würde er die Möglichkeiten für ein kleines Spielchen auschecken.

Der Zusammenhalt der Familie, vor allem die Stärke von Pauls und Lindas Beziehung ist offensichtlich. Sie hat viele schnippische Gerüchte überlebt, besonders in den Anfangsjahren, als sich die Fans nicht mit ihrem Mitwirken in McCartneys Band anfreunden konnten, und zwar aus den nicht unverständlichen Gründen. „Ich wußte, daß ich nicht richtig singen konnte“, sagt Linda, „aber es macht Spaß und es war eine Möglichkeil für uns, zusammen zu sein.“

Niemand würde es wagen, Linda in Pauls Anwesenheit zu kritisieren, denn er reagiert in diesem Punkt äußerst empfindlich. „Ich habe mich geärgert, als die Leute zu Anfang sagten:, Warum spielt ein Beatle mit diesem albernen Mädchen ? Was hat sie mit ihm auf der Bühne zu suchen?‘ Letztlich rührt das wohl alles noch vom Trauma der Beatles-Trennung. Danach war ich ziemlich fertig. Womit schließt man an die gröjke Band der Well an? Was macht man?Schizophren werden, wahrscheinlich. Jedenfalls wurde ich es. Ich stand morgens nicht mehr auf, rasierte mich nicht, trank zu viel, nahm Heroin. Ja, ich war schlecht drauf. Ich halte einen Freund, der mir erzählte, daß Heroin okay sei, solange man es sich leisten könne. ,Du brauchst dir keine Sorgen zu machen‘, sagte er. } Du hast Yesterda geschrieben und wirst dir immer dein Heroin leisten können.‘ Und fast hätte ich auf ihn gehört. Dann kam Linda und mit ihr der Verstand zurück. „

Die McCartneys leben in einem relativ bescheidenen Haus in Sussex, ohne Angestellte oder andere Insignien des Wohlstandes. Sie schicken ihre Kinder in öffentliche Schulen, sind in der Gemeinde aktiv und traten vor kurzem etwa gegen die Schließung des örtlichen Krankenhauses ein. „Für mich ist das letztlich egal, ich könnte mein eigenes Krankenhaus bauen, wenn ich wollte, aber ich mache das für die Leute hier, die das Krankenhaus wirklich brauchen. Warum sollten sie von irgendeinem Bürokraten beschissen werden ? Das ist es, was mich aufregt, weil ich eigentlich einer von ihnen bin. Ich sehe keinen Grund, mich plötzlich zur Mittel- oder Oberschicht zu zählen, nur weil ich etwas Geld habe. Mir sagen Leute: ,Du gehörst nicht mehr zur Arbeiterklasse‘. Ich sage, daß ich — verdammt noch mal — doch dazugehöre, ich arbeite mir nämlich den Arsch ab. Wirklich, ich arbeite mir den Arsch ab.“

So wichtig es für McCartney ist. sich zur Arbeiterklasse zugehörig zu fühlen, so wichtig ist es für ihn auch, sich als Liverpooler zu verstehen. Selbst die Kathedrale voller Erinnerunist

gen. Als 1 ljähriger hat er sich beim Kirchenchor vorgestellt und wurde nicht angenommen, weil er keine Noten lesen konnte. Immer, wenn er die Schule schwänzte, ging er in die Kirche und reckte seinen Hals, um über ihre architektonische Pracht zu staunen. Heute füllen die Texte des gescheiterten Chorjungen den Raum und hallen in der Galerie des Querschiffes wider. Obwohl sie von zwei stimmgewaltigen Sopranen, einem Tenor und einem Bariton gesungen werden, hört man eindeutig, daß die Worte von McCartney stammen: „Dad’s in thegarden, won’t talk 10 Mum; Uncle’s in bed with a pain in his …“

Die Proben gehen wie gehabt weiter, mit den zwei konstant diskutierenden Komponisten, obwohl es jetzt scheint, als sei McCartney geneigter, sich dem Orchester direkt mitzuteilen anstatt das durch Davis zu tun. Als er um mehr Trompeten im vierten Satz bittet, erklärt er, daß dieser Teil besonders wichtig für ihn sei, weil „Mein Vater spielte Trompete, jedenfalls, bis seine Zähne ausfielen. “ Die Proben sind pünktlich um 21.30 zu Ende, aber es wird wieder zehn Uhr, bis alle Unterhaltungen beendet, alle Autogramme gegeben und die McCartneys abgefahren sind. Erst dann verschwinden auch alle anderen, denn es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß niemand vor McCartney den Saal verläßt. Seiner unverkrampften Leutseligkeit zum Trotz isolieren ihn sein Wohlstand und seine Popularität offensichtlich. Er ist ausschließlich von Menschen umgeben, die ständig versuchen, ihm jeden Wunsch von den Lippen zu lesen. Was auch immer er wünscht, ob nun ein Stück Kaugummi oder einen Privat-Jet — es muß umgehend organisiert sein. Wann immer er die Antwort auf eine Frage wünscht, muß jemand da sein, der eine parat hat. Es gibt Leute, die behaupten, McCartneys gewinnende Art sei lediglich eine Fassade — dahinter sei er rücksichtslos, reizbar und fordernd.

Linda gibt offen zu, daß ihr Ehemann „ziemlich pampig“ sein kann, das aber nur, weil er ein Perfektionist ist. „Er weiß, wie er Dinge gemacht haben möchte und wird böse, wenn sie nicht ordentlich gemacht werden. Ich rege mich dann über seinen Perfektionismus und er sich über meine Spinnereien au), aber es wäre falsch zu sagen, daß seine Offenheil gespielt ist, denn das ist sie nicht. Er liebt die Menschen wirklich.“

Vermutlich wird man kein Paul McCartney. ohne Perfektionist zu sein. Mit Sicherheit wird man kein Paul McCartney ohne ein starkes Ego. Das mußte auch Carl Davis entdecken. „Ich dachte zuerst, daß ich die Rolle des notenschreibenden Sekretärs übernehmen sollte, aber es stellte sich im Laufe der Arbeit heraus, daß es ein Gemeinschaftswerk war. Folglich ging ich davon aus, daß wir, The Liverpool Oratorio by McCartney and Davis‘ machen würden. Ich war schon vor den Kopf geschlagen, als er sehr entschieden sagte, er möchte es .Paul McCannevs Liverpool Oralorio‘ nennen. Ich mußte lernen, damit zu leben — und das habe ich auch. „

McCartneys Erinnerung ist etwas anders. „Carl hatte keine Probleme mit dem Titel, aber es war ein unangenehmer Moment, als ich klarstellen mußte, daß ich die Führung übernehmen würde. Ich stellte mir vor, daß er am Tage der Vorstellung oben auf dem Podium stehen und wie ein wild gewordener Stravinsky losfegen würde, während ich wie ein Weichet im Publikum sitze und wie der letzte Dreck wirke, der keine Noten lesen kann und lediglich ein, zwei kleine Melodien beigesteuert hat. „

Zurück in der Kathedrale probt man noch einmal, bevor das gesamte Werk heute abend durchgegangen wird. McCartney kann es kaum erwarten. „Ich bin jetzt in einer Phase, in der ich meine Nervosität gewaltsam unterdrücken muß“, sagt er. „Wir haben zwei Jahre lang hart daran gearbeitet, und es hört sich verdammt gut an. Ich muß mich aber schon auf die Tatsache vorbereiten, daß es Kritiker gibt, die es veneißen werden. Das wird passieren, da gibt es nichts zu rütteln. Ich habe darüber mit Elvis Costello geredet und ihm anvertraut, daß die ganze Sache schon sehr verrückt sei. Er meinte, daß er in den vergangenen zwei Jahren nichts anderes gemacht hätte, als zu klassischen Konzerten zu gehen. Das gab mir Mut. Jetzt liebe ich die Verrücktheit des Oratoriums, es kann einen zum Weinen bringen. Letzte Nacht, als ich den Choral am Ende des ersten Satzes hörte, in dem Mutter und Vater ihr Kind halten und in die Zukunft sehen, mußte ich mir auf die Lippe beißen. Ich wollte nicht inmitten der Leute anfangen zu heulen.“

Um sechs Uhr abends hat sich eine gewaltiger Pulk des McCartney-Clans eingefunden. Tante Joan, die jeden Tag dabei war, spricht für alle, als sie sagt, daß sie es nur bedauern kann, daß Pauls Mum und Dad diesen Moment nicht erleben konnten. „Erhatdasfantastischgemacht“, sagt sie, „Wer hätte je gedacht, daß mal so etwas passieren würde? Ein McCartney in der Kathedrale. Ich kann es nicht glauben.“