Edie Brickell
Das Mädchen schien sich verlaufen zu haben. Mit großen Augen, vorsichtigen Schritten und neugierigen Blicken setzte sie einen Fuß vor den anderen, zog die Schultern schüchtern hoch und suchte Schutz hinter dem Mikrophon. Eine wahrhaft bescheidene Attitüde für eine Sängerin und Songschreiberin, die mit ihrem ersten Album SHOOTING RUBBERBANDS AT THE STARS in den USA gerade die 1-Million-Verkaufsmarke hinter sich gelassen hat und in die Billboard-Top 10 marschiert.
In Deutschland freilich kennt Edie Brickell noch kein Mensch, und so war es umso erfreulicher, daß die Hamburger „Große Freiheit“ mitten in der Woche ganz annehmbar gefüllt war. Nicht auszudenken, wie die texanische Nachtigall sich erst bei ausverkauftem Haus gegruselt hätte! Gottlob machte sie nicht den Fehler, Unsicherheit mit nervösem Gezappel und den Anekdoten aus der Jugendzeit zu überspielen – das Spielen überließ sie ihrer Band, und die ließ vom Start weg keinen Zweifel an der musikalischen Kompetenz, gewonnen aus tausend Bar Schlachten, aufkommen. Man kann es sich schwer vorstellen, wie dieses, mit Mitte 20 immer noch teenagerhaft wirkende Mädchen einmal diese Band so lange genervt hat, bis aus den Bohemians endlich die New Bohemians mit Frontfrau Edie wurden. Aber je länger das Konzert fortschritt, umso klarer wurd’s auch in der letzten Reihe: Edi Brickell ist nämlich clever! Wer ihre Texte aufmerksam liest, findet reichlich Gedanken, aber keine ideologische Erdenschwere und kein messianisches Sendungsbewußtsein: Die Dame kennt sich und ihre Ausstrahlung. Mit haargenau getimter Kaugummi-Stimme und sehnsüchtigem Träumerle-Ton ist Edie hundertprozentig sie selbst – ein Phänomen, das jenseits aller musikalischen Kriterien geradezu körperlich auf den Zuhörer und schauer wirkt. Mit ihren langen und lockigen Haaren ist Edie Brickell die jeansgewandte Alice aus dem Wunderland Texas. Mit jedem Ton scheint sie zu staunen, jede Zeile ein Wundern und Wähnen – und wenn man genau zuhört, auch mal ein Augenzwinkern.
Edie Brickells Band macht das alles in bewundernswürdiger Harmonie mit: Drummer Chris Whitton, ruhender Pol der lockeren Hippie-Truppe, trommelt wohlkalkuliert zwischen Power-Arbeit und filigranen Fills, Kenny Withrows Gitarre ist dezent und spart „die explosieven Ausbrüche gezielt auf – eine eingespielte Einheit, die sich voll auf ihre raffiniert zurückhaltend agierende Chefin eingestellt hat. Die einzig richtige Zugnummer, „What I Am“, stellte Edie Brickell klug an den Schluß des Sets, der bar jeder Höhepunkte war, das Publikum aber keine Sekunde aus dem Griff ließ. Wenn sie sich die flaue Version von Lou Reeds „Walk On The Wild Side“ geschenkt hätte, wäre der abgehobene Charme ihres Konzertes nicht so schnell verflogen…