DU MUSST NICHTS WISSEN
Über dem Avant-Pop der 28-jährigen Kalifornierin erhebt sich ein intellektueller Überbau von ungeahnten Ausmaßen. Die Künstlerin selbst spielt die Rolle ihrer Inspirationen herunter.
Berlin-Mitte, Haus Ungarn, 5. Juli 2012. Es ist heiß an diesem Abend. Sehr heiß. Drinnen steht Julia Holter mit kleiner Bandbesetzung auf der Bühne, während der kondensierte Schweiß von den holzvertäfelten Wänden rinnt. Hitze und Schweiß wollen nicht so recht passen zu dieser scheinbar mühelosen Filigranmusik aus elektronischen Grundierungen und „richtigen“ Instrumenten – Kammerpop, von einem Avantgarde-Standpunkt aus gesehen. Dann zieht ein Gewitter auf, es donnert, es regnet. Die Musik Holters, die Hitze, der Donner, das Geräusch des herunterprasselnden Sommerregens -auf einmal gibt es kein Innen und Außen mehr, es vermischt sich alles zu einem körperlich erfahrbaren Gesamtkunstwerk. Wenn etwas die Bezeichnung „Ambient“ verdient hat, dann ist es dieser Auftritt in einem ästhetisch herausfordernden Betonbau aus DDR-Zeiten in Berlin-Mitte.
Die 28-jährige Musikerin aus Los Angeles wurde im Sommer vor dem Berlin-Auftritt durch ihr erstes Album TRAGEDY einem kleinen Kreis von Eingeweihten ein Begriff. TRAGEDY war inspiriert von der griechischen Tragödie „Hippolytus“ von Euripides, was interpretationsfreudigen Journalisten die Möglichkeit gegeben hatte, seitenweise über Holter und ihre Musik zu freestylen. Im Frühjahr 2012 erschien Holters zweites Album EKSTASIS, das – dem Titel zum Trotz -seine Inspiration nicht aus der griechischen Mythologie bezog, sondern laut der Künstlerin „nur eine Sammlung von Songs“ sei. Aber was heißt das schon bei einer Musikerin, die offensichtlich nichts dem Zufall überlässt und deren Musik auch in ihren scheinbar imperfekten Momenten eine elegante Perfektion ausstrahlt. Album Nummer drei, LOUD CITY SONG, kommt jetzt wieder mit diversen literarischen Überbauten daher. Es ist inspiriert von dem Roman „Gigi“ der prä-feministischen französischen Schriftstellerin Colette und den Gedichten des amerikanischen Poeten Frank O’Hara, der laut Julia Holter „auf eine ganz besondere Art über die Stadt geschrieben hat“.
Berlin, Prenzlauer Berg, Sitz der deutschen Dependance des Domino-Labels, gut ein Jahr nach dem Gewitter-Konzert. Julia Holter fläzt auf einem Sofa, um Interviews zu geben anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Albums. Ja, sagt sie, natürlich erinnere sie sich an diesen Auftritt vergangenes Jahr. Ambient? Ob das die richtige Bezeichnung ist. „Hmm, ich weiß nicht …“ Man muss keine Angst haben vor Julia Holter. Zum Beispiel davor, dass sie wegen ihrer sehr wahrscheinlichen intellektuellen Überlegenheit, wegen des künstlerischen und literarischen Überbaus, den sie selbst zu einem gewissen Teil ihrer Musik zuschreibt, der aber in einem viel stärkeren Maß von den Kritikern ihrer Musik analysiert, eingeordnet und interpretiert wird, für eine ungleiche Gesprächssituation sorgen könnte. Im Gegenteil. Holter wirkt eher scheu und zurückhaltend im Gespräch, vor allem, wenn die Sprache auf ihr neues Album kommt. „Ich weiß nicht“, sagt sie, „ich bin ein bisschen gehemmt, wenn ich über das Album sprechen soll.“
Julia Holter wurde in Los Angeles, Kalifornien geboren. Dem Klischee nach nicht unbedingt ein Ort der Tiefgründigkeit und der Nährboden für experimentelle Musik. Am California Institute Of The Arts studierte sie Komposition. Andere Absolventen dieser Hochschule: John Maus und Ariel Pink. Das CalArts scheint eine gute Wahl zu sein, wenn es um die Ausbildung schwer kategorisierbarer Musiker geht. „Es war cool da. Weil total unterschiedliche Musik gelehrt wurde. Ich war wie in meiner eigenen Welt. Ich habe nicht an vielen Gruppenprojekten teilgenommen, ich habe in meinem Zimmer gesessen und Songs aufgenommen. Das Studium war gut, weil es meine Sichtweise auf zeitgenössische Kunst sensibilisiert hat. Ich hatte nicht viel Ahnung davon und habe eigentlich immer noch keine.“
Was hat sie da gerade gesagt? „Ich habe eigentlich immer noch keine Ahnung von zeitgenössischer Kunst.“ Schön zu hören. Auch der Einfluss von Colette auf LOUD CITY SONG ist eher indirekt. Obwohl alles so gut passen würde: die Outsider-Schriftstellerin aus Paris, offen bisexuell zu ihrer Zeit (1873-1954) und Julia Holter, Vertreterin einer neuen Musikerinnengeneration, die sich von Colettes Hauptwerk beeinflussen lässt. Aber Holter meint nicht den Roman, sondern Vincente Minnellis eher seichte Verfilmung mit Leslie Caron und Maurice Chevalier aus dem Jahr 1958. „Als ich klein war, habe ich das Musical gesehen, das Buch habe ich erst viel später gelesen. Viele Songs auf meinem Album korrespondieren mit Szenen oder Songs aus dem Film, obwohl du den Film nicht kennen musst, wenn du das Album hören willst. Als Kind hat mich das Triviale an dem Film gereizt, die Kostüme. Die Handlung hat auch eine soziale Komponente, eine junge Frau im Paris des 19. Jahrhunderts wird gezwungen, die Geliebte eines reichen älteren Mannes zu werden. Sie möchte das offensichtlich nicht werden und schafft es schließlich, von ihm geheiratet zu werden, was zur damaligen Zeit sehr wichtig für das Selbstverständnis einer Frau gewesen ist.“
Eine 2 500 Jahre alte griechische Tragödie, ein Roman, dessen Handlung zur vorletzten Jahrhundertwende angesiedelt ist, die Gedichte des 1966 verstorbenen Frank O’Hara, die Coverversion des 51 Jahre alten R’n’B-Songs „Hello Stranger“ von Barbara Lewis auf LOUD CITY SONG – Julia Holter scheint von der Vergangenheit besessen zu sein. „Ich glaube, es hat etwas mit einer romantischen Vorstellung zu tun, mit der Suche nach irgendetwas. Ich unterscheide aber zwischen Referenzen und Inspirationen. Das Album ist nicht nur von Colette beeinflusst, sondern auch von Frank O’Hara. Er nennt in seinen Gedichten ständig Namen von Kunstwerken, die ich nicht kenne. Das sind für mich aber keine Referenzen, weil ich diese Kunstwerke nicht kennen muss, über die er schreibt. Für mich ist das einfach ein Teil des Gedichts. Du musst nichts darüber wissen. Ich möchte keine akademischen Aufgaben mit meiner Musik stellen, ich will nicht, dass jeder ,Hippolytus‘ lesen soll, ich bin keine Expertin für griechische Tragödien – wenn die Musik nicht für sich alleine steht, dann ist sie misslungen.“
Ein (männlicher) Kritiker hat der Musik von Julia Holter einmal ein „asexuelles Geheimnis“ zugeschrieben. Vielleicht kommt das daher, dass in der übersexualisierten und männlich dominierten Musikwelt im Werk von jungen Musikerinnen immer eine offensichtliche sexuelle Komponente erwartet wird. Und wenn die scheinbar fehlt, wird die Musik als „asexuell“ getaggt. „Es ist lustig, dass er schreibt, die Musik sei asexuell“, sagt Holter. „Ich habe nichts dagegen. Ich weiß aber nicht, ob asexuell das richtige Wort ist. Ich neige dazu, Musik von einem männlichen Standpunkt aus zu schreiben. Ich versetze mich immer in Charaktere, die sind manchmal weiblich und manchmal männlich. Ich schreibe niemals Songs, die aus dem Erfahrungsschatz von Julia Holter kommen. Nein, ich glaube nicht, dass meine Musik asexuell ist.“
Albumkritik S. 96, CD im ME S. 19