Popkolumne, Folge 97

Dr. Grey, ich habe alle ungewöhnlichen Krankheiten auf einmal – Paulas Popwoche im Überblick


Paula Irmschler in unserer ersten Popkolumne des Jahres 2021 über Koller in allen Bereichen, Corona-Serien und unendliche Weiten in time and space.

So Leute, jetzt reicht’s! Schon wieder, immer noch. Es reicht ja schon die ganze Zeit. Aber jetzt flippen wirklich alle aus, nicht nur die ewige Projektionsfläche der „komischen Amis” da drüben, sondern auch alle um uns herum, Familien, Freunde, jedwede Beziehungskonstellationen, einfach alles ist in Gefahr oder mit zu viel Bedeutung aufgeladen. Wohngemeinschaften gehen sich auf den Sack, Kinder und Eltern halten sich nicht mehr aus, Arbeitende bringen die ganze Scheiße in ständiger Angst voreinander über die Bühne. Wer ist schuld? Na, alle anderen natürlich. Niemand kann mehr, die Nerven liegen blank, Leute radikalisieren sich, die Zündschnüre sind kurz, die Vorwürfe fallen schnell und treffen hart. Es wird mittlerweile einfach gar nicht mehr hell, keine Tageslichtlampe der Welt kann das noch auffangen und das Schlimmste ist: Es ist kein schnelles Ende in Sicht.

Halt die Fresse, social media

Was uns gut tun könnte und es zwischenzeitlich auch tat – Vernetzung, Austausch, Trost – ist mittlerweile vor allem toxisch geworden. Auf Twitter ist Krieg, man kämpft um Sichtbarkeit, Deutungshoheit und die schnellste Pointe und gegen die, die einem das streitig machen wollen. Wenig Betroffene sind zynisch wie Sau, müssen aber auch noch was sagen. Auf Instagram herrscht die superindividuelle Selbstcareideologie. Wer gibt am meisten auf sich acht? Gibst du auf dich acht? Gönnst du dir etwas? Gönn dir etwas. Denk an dich. Dich, dich, dich. Wenn wir alle an uns denken, überstehen wir das. Bleib aber sexy dabei, kauf dir Unterwäsche, schminke dir das Gesicht so, damit du aussiehst wie diese Kardashian-Leute und alle anderen mittlerweile auch, optimier deinen Körper, denn wo auch immer du Bock drauf hast (Beispielbild zur Inspiration worauf du Bock haben könntest), das ist dann gut und natürlich auch feministisch, aber bitte sei immer du selbst, du musst nicht anderen gefallen, du musst nicht abnehmen, obwohl ich, die dir das jetzt lieb in ihrer Story sagt, es zufällig doch getan hab, aber nur für sich, aber du, du sei authentisch, sei dabei vorteilhaft. Sei du, aber sei du mit Filter.

Fuck you.

Ok, Boomer (ich).

Man könnte jetzt sagen: Geht doch alle mal raus aus dem Internet, aber auch das muss man können. Dann ist man vielleicht wirklich einsam. Außerdem sind da die Infos. Aber es lohnt sich, genau darauf zu hören, was einem nicht gut tut und dadurch sein Internetverhalten anzupassen. SELFCARE-Tipp! Musste es auch auf die harten Touren lernen: Nicht bei jeder Diskussion muss man dabei sein, nicht jeden Witz muss man selbst machen, nicht jedem Bodyscheiß muss man sich aussetzen. Blockiert und mutet und löscht euch das Internet zurecht bis es angenehm ist. Das Beruhigende: Ihr verpasst nichts. Jeder Internetkram wiederholt sich, ihr könnt auch ein anderes Mal noch einsteigen.

Wie komme ich überhaupt darauf? Dua Lipa hat es auch gemacht. Sie hat sich eingestanden, dass social media ihr nicht gut tut, wie fies Frauen behandelt werden und sich gegenseitig behandeln und die Kontrolle über ihre Accounts an ihr Management abgegeben. Gut.

Dua Lipa spricht über Angstzustände und Social Media

Corona in Serien

Ja, viele finden es mittlerweile komisch, wenn in Serien und Filmen die Leute kaum Abstand zueinander halten und in geschlossenen Räumen viel zu viele sind und das alles auch noch ohne Maske. Aber was noch komischer ist, wenn sie es tun. Und zwar, weil Corona in ihnen bereits Thema ist.

Über die wunderbare Familientherapieserie „This Is Us” habe ich an dieser Stelle schon geschrieben, es ist auch die erste Serie, in der mir Corona in einer Serie aufgetischt wurde. Dort ist es eher nebenbei Thema, man muss eben nun Maske tragen und kann sich seltener sehen. Auch gibt es hier einen peinlichen Livestream-Fail, aber ich will nicht spoilern. Die Dreharbeiten mussten nun pandemiebedingt unterbrochen werden, es wird sich also vielleicht auch da nochmal etwas an der Story ändern und dramatischer werden, herrje.

Volle pulle Drama und ebenfalls unterbrochene Dreharbeiten gibt es bei „Grey’s Anatomy”, das mittlerweile in Staffel 17 läuft. Die Macher*innen der Serie müssen es ja generell immer übertreiben: Flugzeugabstürze, Schiffsunglücke, Amokläufe, Autounfälle, Bomben, Feuer, Hackingangriffe, die außergewöhnlichsten medizinischen Notfälle der Welt. Fast der ganze Cast ist schon mal gestorben und nun das: Eine Pandemie hat die Welt im Griff, das medizinische Personal ist körperlich und psychisch am Limit und die Protagonist*innen selbst betroffen? Ach, komm, Writer’s Room! Ach, nee, stimmt ja alles.

Die bisher sieben Folgen anzusehen ist schmerzhaft. Und trotzdem ist es gut, denn, das, was in den vorherigen Staffeln schon passierte, wird auch hier fortgesetzt: Es findet Kritik am Gesundheitssystem und rassistischen Strukturen statt. Einmal fragt der Arzt Owen Hunt, als er zusätzlich zum Coronaalltag einen mutmaßlichen Sexualstraftäter operieren muss, wieso man diese Menschheit überhaupt retten soll, wenn sie nicht mal während einer Pandemie aufhören kann, sich wehzutun. Und dann gibt es da diesen Moment, indem die beiden Schwarzen Chirurginnen Catherine Fox und Maggie Pierce sich anschreien, weil sie feststellen, dass vor allem People of Color (wegen schlechterem Zugang zum Gesundheitssystem und gefährlicheren Arbeitsverhältnissen) an dem Virus sterben. Maggie fragt zwischendurch, warum sie sich überhaupt anschreien und Catherine sagt sowas wie „Wir schreien die Welt durch uns an”. Nagel auf den Kopf. Daran muss ich jetzt viel denken, auch in Bezug auf das Internet und all die Streits, die wir privat und politisch haben.

Viel zu harmlos und kaum relatable ist die Serie „Drinnen”, die man sich in der ZDF-Mediathek anschauen kann. Es ist die exakte Darstellung von dem, was uns seit Monaten an verschiedenen Stellen als das normale Leben verkauft werden soll. Offensichtlich ganz gut verdienende Frau sitzt im Homeoffice, macht alles an ihrem Laptop, dessen Oberfläche man dann auch immer wieder sieht, die Eltern sind irgendwie ein bisschen blöd, die Schwester flippig unter Palmen (Jana Pallaske spielt sich wohl selbst), die beste Freundin ist Ärztin, die trotzdem meist Zeit für ein Telefonat hat, der Mann und die Kinder sind auf dem Land. Wie stressig Elternschaft momentan ist, wird damit zum Beispiel einfach mal ausgespart. Und die Miete ist sicher. Es mag nicht wenige Menschen geben, auf die diese Realität zutrifft, aber ich kanns nicht mehr hören/sehen. Yogamachende, weiße, bürgerliche Frauen, die Computerarbeit machen. Vor allem wenn darum ein „Wir” konstruiert wird. „Wir” sitzen nicht alle gelangweilt vor unseren Computern, tindern und videocallen. Es gibt auch ein „Wir” der Arbeitenden, Pflegenden, Alleinerziehenden, der Gewalterlebenden, der Illegalisierten und so weiter. Ist natürlich alles nicht so easy zu erzählen, kann man nicht allzu schnell aus der Hüfte schießen. Kommt dann hoffentlich im nächsten Jahr.

Flucht ins Weltall

Die Gerüchte sind wahr: Ich gucke, jetzt wo die Serien pausieren, nur noch Weltalldokus und -filme. Ich will das hier nicht allzu sehr vertiefen, aber euch, falls ihr mit dem Sujet noch nicht so sehr vertraut seid, sagen, dass ihr unbedingt „Der Marsianer“ (2015), „Gravity“ (2013) und „Moon“ (2009) gucken müsst und auf keinen Fall „Passengers“ (2016). Lasst die Finger von „Passengers“. Und jetzt sprecht mir nach: Ich werde mir nicht „Passengers“ angucken.

Warum nicht? Ihr werdet ausrasten. Es ist wohl die toxischste Liebesgeschichte seit alles aus den 50ern. Leute wollen auf einem erdähnlichen Planeten ein neues Leben beginnen und werden dafür in einen Hyperschlaf von 120 Jahren versetzt, denn so lange dauert es bis sie ankommen. Ein Typ wacht bereits nach 30 Jahren auf, lebt ein Jahr allein in dem superschicken Raumschiff und „verliebt“ sich in eine viel jüngere Frau, die er da schlafen sieht. Er versucht alles Mögliche über sie rauszufinden und weckt sie schließlich auf, also ermordet sie quasi, denn die beiden werden ja niemals auf dem Planeten ankommen. Na klar, und kann er sie (die natürlich immer top gestylt ist) dann noch in eine Beziehung manipulieren und kurz denkt man, es nimmt ein gutes Ende, als sie alles herausfindet und ihn fast umbringt, aber schließlich wird es doch die ganz große Liebesgeschichte. Am Ende gibt es sogar noch die Möglichkeit, dass sie wieder in den Hyperschlaf zurück kann, aber natürlich gibt sie ihr Leben auf für diesen Hund.

Einfach ein ganz normaler Film, indem Stalking, Missbrauch, Manipulation und Selbstaufgabe romantisiert wird. Zum Heulen. Der Typ hätte sich im Übrigen auch einen Kumpel aufwecken können, aber es muss ja Sex rausspringen und die Frau hätte auch einfach kein Interesse an ihm haben können, aber nee nee, es ist der natürliche Weg, dass Typ und Weib zueinander finden, ich raste hier gleich noch mal aus.

Die anderen Filme lohnen sich, auch wenn das Grundding immer das gleiche ist: Jemand ist allein auf Mond/Mars/im Weltall und will zurück auf die Erde, nach Hause. Dabei geht Vieles schief, manches klappt. Meistens gibt es ein Wunder. Einsame Wölfe, aber so richtig richtig einsam. Fast immer sind diese Übriggebliebenen Männer, aber bei „Gravity“ ist es Sandra Bullock. Slidet gern in meine DMs für mehr Weltall-Film-Tipps.

Weggezogen Feminin

Habe erfahren, dass das musikalische Vergreisungsjahr bei 31 Jahren liegt. Also, das Alter in dem man aufhört, neue Musik zu hören und nur noch auf Bekanntes zurückgreift. Als am 31.12.2020 auf 3Sat mal wieder „Pop around the clock“ lief und ich mich über all die Oldies (Aguilera, Carey, Shakira) freute, wusste ich, es könnte was dran sein. Ich bin ja genau so alt. Deswegen gebe ich mir jetzt umso mehr Mühe am Ball zu bleiben, denn ich bin noch immer cool, klaro?

Über die Formation Weggezogen Feminin ist nicht viel herauszufinden, was mich befürchten lässt, dass sie einfach so wieder verschwinden könnten. Wer seid ihr, wo kommt ihr her, please come to germany!!! Mir wurde nämlich dieser tolle Song „sadboys3000“ zugespielt, ein chilliger Spoken-Word-Song über deine Exaffäre. Wann kommt da mehr? Bitte stellt euch, Weggezogen Feminin!

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Aktion der Woche: „Corona-Tote sichtbar machen“

Zahlenzahlenzahlen. Seit März ist noch jede Person der Welt zum Statistiker geworden. Wie viele sind schon infiziert? Wie viele gestorben? Wie viele geimpft? Und wo sind die Geschichten dahinter? Welche Gruppen sind am häufigsten betroffen und wieso? Wie geht es Angehörigen? Das alles ist schwer nachzuvollziehen, vor allem weil alles so schnell geht und weil Menschenleben zu oft Verhandlungsmasse bleiben. Eine Initiative aus Berlin möchte klarmachen, dass politische Versäumnisse nicht nur für abstrakte Zahlen, sondern für persönliche Schicksale verantwortlich sind, die nicht rückgängig und gutzumachen sind. Unter dem Motto „Corona-Tote sichtbar machen“ stellen zu diesem Zwecke Menschen in vielen Orten Deutschlands Kerzen auf. Auf der dazugehörigen Facebook-Seite kann man sich darüber informieren, wann und wo die Aktionen stattfinden und selbst aktiv werden und seine Aktion publik machen.

Die 11 objektiv besten Songs des Jahres 2020 (laut Linus Volkmanns neuer Popwoche)

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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