Diverse – The Blues’n’Rhythm Story 1945-1955
In den meisten Blues-Chroniken wird der Einfluß von ‚Mercury Records‘ allzu gerne zugunsten prominenter Labels wie ‚Atlantic‘, ‚Chess‘, ‚OKeh‘ oder ‚Sun‘ nur am Rande erwähnt oder ganz übersehen. Dabei hatte die in den 40er und 50er Jahren noch unabhängige Company in Chicago maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des Genres. Die in Deutschland streng auf 250 Exemplare limitierte 8-CD-Box THE MERCURY BLUES’N’RHYTHM STORY 1945 – 1955 räumt mit der Betriebsblindheit jedenfalls gründlich auf: Von der allerersten bei ‚Mercury‘ erschienenen 78er-Schellack-Single, ‚It’s Just The Blues‘ von The Four Jumps Of Five featuring Willie Dixon, bis zu dem von B.B. King mitkomponierten ‚Woke Up This Morning“ von Arthur Prysock umreißen insgesamt 211O) Songs aus der Blütezeit des Blues und Rhythm & Blues die frühe Labelhistorie und fördern vergessen geglaubte oder lange nicht mehr erhältliche Perlen zutage. Die knapp zehnstündige Retrospektive mit beigelegtem 78seitigern, großformatigem Booklet vertieft nicht nur – wie man vielleicht vermuten könnte – den Einblick in das non-kommerzielle Musikgeschehen in der damaligen City-Blues-Metropole Chicago. Weitsichtig wie sie waren, verpflichteten die Mercury-Verantwortlichen schwarze Künstler aus allen Teilen der USA. Je zwei Silberlinge wurden in ein ausklappbares CD-Set verpackt und illustrieren ausführlich die jeweils über zehn Jahre reichenden Schaffensperioden, aufgeteilt in die vier Sektionen „Midwest Blues“, „Southwest Blues“, „East Coast Blues“ sowie „West Coast Blues“. Erstaunlich, wie unterschiedlich sich zum Teil die nach und nach regional eingefärbten Bluesstile von ihrer gemeinsamen Wurzel, dem ländlichen Mississippi Delta Blues, entfernten. Zahlreiche hierzulande unbekannte Größen (siehe alphabetisches Namensregister unten), sind klangvoll-legendären Namen wie Dinah Washington, T-Bone Walker, Big Bill Broonzy, Memphis Slim, Jimmy Witherspoon, Lightnin‘ Hopkins, Johnny Otis oder (Screamin‘) Jay Hawkins durchaus ebenbürtig. Prinzipiell sind die mit einer durchschnittlichen Spieldauer von dreieinhalb Minuten zu einem Großteil noch immer taufrisch klingenden Tracks (einige davon haben immerhin mehr als 50 Jahre auf dem Buckel!) von einer erstaunlich klaren Soundqualität. Für viele aus heutiger nicht mehr nachvollziehbar ist die Tatsache, daß die schnell einprägsamen, zumeist auf Drei-Akkord-Basis verfaßten rhythmischen Zwölftakter der Stoff waren, zu dem man damals noch bei Live-Auftritten in den Ballrooms tanzte. Was sicherlich einer der Gründe für ihre nach wie vor verbliebene Faszination ist. Ein zweiter, nicht minder triftiger Grund ist die Basisnähe zum späteren Rock’n’Roll und Soul, ohne den die folgenschweren Entwicklungen (Beat, Psychedelic, New Wave, Mainstream Rock, Hard Rock, Heavy Metal, Funk, HipHop, Swing Beat) der sechziger, siebziger und achtziger Jahre sicherlich nicht möglich gewesen wären. Ebenfalls unterschätzt wurde und wird auch heute noch der oftmals eindeutig-zweideutige Inhalt der Songs, der mit überkommenen Moralvorstellungen aufräumte und erstmals auch den Frauen erlaubte, ihre sexuellen Wünsche und Phantasien zu artikulieren. Auf den noch immer sehr freizügig anmutenden frühen Aufnahmen von Dinah Washington (‚Joy Juice‘, ‚Long John Blues‘) oder Alma „The Lollipop Mama“ Mondy (‚Miss Lollipop’s Confessions‘, ‚A Job For A Jockey‘) würde wohl heutzutage sicherlich ein Sticker mit dem Vermerk ‚Parental Advisory! Explicit Lyrics‘ prangen.