Diese fünf Frauen hatten 2016 das Sagen
Sexismus, Rassismus, Proteste gegen Flüchtlinge, das Auseinanderbrechen Europas – die ganze Scheiße: Alle relevanten Platten, die sich 2016 daran abarbeiteten, - kamen von Frauen.
Die Welt ist in einem scheußlichen Zustand. Daran hat sich auch 2016 nichts geändert – es ist sogar alles noch viel schlimmer geworden. Wer diesen Text, nach so einem Einstieg, weiterliest, ist ein Held. Und deswegen sofort die gute Nachricht: Die Welt wurde im Pop genau unter die Lupe genommen. Und zwar von Frauen. Sie thematisierten die drängenden Themen unserer Zeit viel überzeugender als Männer. So überzeugend, dass man sagen muss: 2016 war das Jahr der sozialkritischen, antirassistischen, mit Refugees, Polizei- und Drohnenopfern sich solidarisierenden Popkünstlerinnen.
Zum Beispiel das „Borders“-Video von M.I.A.: unfassbar gut. Dass Maya Arulpragasam auf ihrem fünften Album, AIM, sanftere Töne anschlug als auf den Vorgängern, wurde von diesem Video, M.I.A.s großer Solidarisierung mit den Flüchtlingen weltweit, quasi ausbalanciert. Mit harten, fast statischen Boatpeople-Aufstellungen, die selbstredend kritisierbar sind: zu inszeniert, zu ästhetisiert, zu farblich abgestimmt. Das war aber schon immer das Tolle an M.I.A.: dass sie nie die moralisch Überlegene raushängen lässt, sondern sich immer auch angreifbar macht.
Zum Beispiel indem sie ihre eigene Privilegiertheit gleich mit ausstellt. Oder wie will man das sonst nennen, wenn ein Popstar mit properem Produktionsbudget in eine Gegend abseits der üblichen Pop-Routen fährt und da die Leute dirigiert: Jetzt mal alle Mann zum großen Schiff formieren! Jetzt mal den Grenzzaun hoch-klettern! Und jetzt alle die sand-farbenen Regenponchos anziehen! Ähnlich war das 2007 im „Boyz“-Video, gedreht auf Jamaika, oder im „Bad Girls“-Video, gedreht 2012 in Marokko. Auch damals hätte ich gern gewusst, was für eine Dynamik das zwischen M.I.A. und den Männern war, was Letztere während des Drehs über den Star gedacht haben. Im „Borders“-Video waren es in Indien gestrandete sri-lankische Refugees. Hat M.I.A. ihnen mit ihrem Video eine Stimme gegeben oder sie für ihr Radical-Chic-Programm benutzt? Beides. Und genau deswegen wirkt das Video viel länger nach als nur ein betroffen hingeklampftes „Ihr steht hier und wir stehen da. Vor lauter Angst sieht keiner klar“, aus Alex Diehls „Nur ein Lied“.
Die Schwestern Beyoncé und Solange Knowles sind derweil im vergangenen Jahr in den USA zu zwei der wichtigsten Fürsprecherinnen der schwarzen Community, der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Frauen geworden. Im Februar legte Beyoncé mit ihrem sensationellen Super-Bowl-Auftritt die Latte schon hoch. Vor den Augen der Nation stellte sie sich auf dem riesigen Spielfeld mit ihrer Armada von Tänzerinnen zu einem großen X auf, in Anspielung auf Malcolm X und die Black Panthers. Parallel dazu ließ sie im Video zu ihrer fantastisch minimalistischen Single „Formation“ ein Polizeiauto im überschwemmten New Orleans untergehen und einen kleinen schwarzen Jungen vor gepanzerten Polizisten tanzen. Unfassbar starke Bilder!
https://youtu.be/1ZDEX2ggvao
Miese Zeiten können für Pop gute Zeiten sein
Ich dachte, so eine feministische Ansage und Anklage strukturellen Rassismus sei kaum zu toppen – bis Ende September Solange ihr Album A SEAT AT THE TABLE veröffentlichte. Eine trügerisch ruhige R’n’B-Meditation darüber, wie man heute als schwarze Frau in den USA überlebt, ohne durchzudrehen. Allein die Orte, an denen Solange das Video zu „Don’t Touch My Hair“ spielen ließ: Schwimmbad, Museum, Basketball-Court. Orte, von denen Schwarze lange Zeit ausgeschlossen blieben, oder Orte, an denen sie heute Skandale produzieren, wenn sie aus Protest „The Star-Spangled Banner“ nicht mitsingen. Mit dem Dechiffrieren der weiteren Symbole und Anspielungen in diesem Video hätte ich gefühlt den Rest des Jahres verbringen können. Währenddessen ging es in den USA immer weiter mit den Erschießungen Schwarzer durch Polizeibeamte und der Prügel für Schwarze bei Wahlkampfveranstaltungen von Trump. Uff! Das alte Paradox, das gar nicht so paradox ist, leider: Miese Zeiten können für Pop gute Zeiten sein.
Wobei die Frage erlaubt ist, ob das überhaupt geht, was ich hier gerade mache: einfach so Popkünstlerinnen allein aufgrund ihres Geschlechts in einen Topf zu werfen. Würde man das denn bei Männern machen? Zunächst scheint die Behauptung, dass guter, sozialreflektierter Pop 2016 vor allem Frauensache war, gut zu der These zu passen, die Jens Balzer in seinem aktuellen Buch, „Pop. Ein Panorama der Gegenwart“, formuliert hat: Nach Jahrzehnten der männlichen Dominanz ist im Pop das Zeitalter des Matriarchats angebrochen. Ich finde diese Behauptung super, aber vermutlich liegt die Kritik auch nicht ganz falsch, die wiederum ein Mann, Thomas Groß, in seiner Rezension in der „Zeit“ formulierte: „Der These, Frauen hätten die Macht im Pop übernommen, steht textlich ein ausgesprochen männlicher Anspruch auf Deutungshoheit gegenüber“ – mache ich hier gar nichts anderes? Nur männliche Deutungshoheit exerzieren? Möglich, dass die Musikerinnen hier auf ihren Unterschieden bestehen würden. Zwei sind Afroamerikanerinnen, vier sind Britinnen, eine mit sri-lankischem Hintergrund, drei sind Mütter, drei kinderlos, sie gehören unterschiedlichen Generationen an, eine wurde als Mann geboren. Sie machen höchst unterschiedliche Musik. Wo sind die Gemeinsamkeiten?
„Nach Jahrzehnten der männlichen Dominanz ist im Pop das Zeitalter des Matriarchats angebrochen“ – Jens Balzer
Das könnte die Überleitung zu Anohni sein, ehemals Antony Hegarty. Nicht weil sie auf HOPELESSNESS schmerzhaft direkte, nahezu metaphernfreie Lieder über Drohnenkrieg, Erderwärmung und digitale Überwachung singt und sich dabei affirmativ nach dem Tod sehnt – eine literarische Strategie, die die Krassheit der Themen noch hervorhebt. Sondern weil Anohni auf ihrem Album das Weibliche und das Männliche gegenüberstellt. Das Sorgende, Beschützende und das Destruktive, Aggressive. Östrogen und Testosteron. Das war tatsächlich eine der interessantesten Pop-Erfahrungen des Jahres: von einer transsexuellen Sängerin erklärt zu bekommen, wie geschlechtsspezifisches Verhalten eben nicht allein sozial konditioniert, sondern – zu einem gewissen Grad zumindest – hormonell bestimmt ist.
Anohni hat nichts gegen Männer, auch wenn das auf HOPELESSNESS so klingen mag, etwa in „Violent Men“, mehr Mantra als Song. Darin singt Anohni über das Paradox, dass Männer, die die Welt zerstören und Frauen unterdrücken, von Frauen geboren wurden. Im Interview erklärte mir Anohni: „Wir müssen den Männern dankbar sein. Wenn sie uns in der Steinzeit nicht beschützt und die wilden Tiere getötet hätten, gäbe es uns heute gar nicht. Das Problem ist nur, dass dieses biologische Testosteronprogramm heute immer noch so abläuft – und die Männer nicht begreifen, dass sie die Welt mit ihrem Beschützer- und Killerinstinkt längst in den Abgrund treiben.“ Ja, Anohni kann richtig wie eine Mutter klingen.
Fazit: „We have learnt nothing from history.“
PJ Harvey und Kate Tempest hingegen klangen wie Journalistinnen. Sie näherten sich ihren Themen: Armut, urbane Trostlosigkeit und deren Verleugnung, mit Notizblock und Bleistift. Kate Tempest ließ ihr Album LET THEM EAT CHAOS mit einer lyrischen Kamerafahrt vom All aus auf die Erde beginnen, dann zoomte sie ran, in die Straßen von London. Für den Song „Europe Is Lost“ wob sie verschiedene Beobachtungen ineinander. Sie verdichtete ihre Lyrics zu disharmonisch-dystopischen Beats: Die Autos fahren immer weiter, abends ist in den Bars immer noch Happy Hour, die Menschen schmieren sich ihre Sandwiches und planen ihre Scheidungen. All das, während Europa und die USA auseinanderfliegen, die Eisbären aussterben und so weiter. Fazit: „We have learnt nothing from history.“
https://youtu.be/TOXXdYtZSbQ
PJ Harvey verknüpfte auf THE HOPE SIX DEMOLITION PROJECT Notizen aus Afghanistan, dem Kosovo und Washington, D.C. – und machte sich damit vor allem in den USA wenig Freunde. Verständlich vielleicht, wenn Menschen im Washingtoner Stadtteil Ward 7 es nicht so lustig finden, von einer weißen Britin gesagt zu bekommen, dass sie in einem verkommenen, von Politik und Stadtentwicklung verratenen Problemviertel leben. Wobei der in Rede stehende Song, „The Community Of Hope“, toll war, und der Moment im Video, in dem der Washingtoner Gospelchor PJ Harvey ablöst und in der Kirche „They’re gonna put a Walmart here“ singt – der konnte Gänsehaut verursachen. Die Kritik aus den USA lautete, Harvey kritisiere nur und liefere keine Verbesserungsvorschläge. Doch muss man sagen: Nein, wenn Kunst einen solchen Vorwurf provoziert, dann hat sie den Finger in eine Wunde gelegt und also im Grunde alles richtig gemacht.
Bliebe noch die Frage, was in diesem Jahr mit den Männern war. Doch die ist müßig. Die Männer sind gestorben: Bowie, Prince, Cohen. Falls es Männer gab, die vergleichbare sozialkritische Popmusik veröffentlichten, dann kamen sie damit irgendwie nicht durch. Sicher, es gab Bowies BLACKSTAR und Kanye Wests THE LIFE OF PABLO. Wichtige Alben. Aber eben keine, die Ungerechtigkeit oder Rassismus in den Fokus rückten. Das ist kein Vorwurf – mir fallen nur beim besten Willen keine Männer ein, die es versucht hätten.
Dieser Artikel ist in der Januar-Ausgabe des Musikexpress erschienen. Weitere Themen im Überblick findet Ihr hier: