Die unglaubliche Jagd Nach Dem Perfekten Song


Der große Paddy McAloon hatte nie Angst vor heiligen Kühen und transzendenten Popkonzepten. Das neue, alte Album seiner verklungenen Band PREFAB SPROUT stellt nun die Frage: Wenn es einen Gott gäbe, wäre Musik seine Stimme?

Den zerschlissenen Jeans auf dem Cover des Prefab-Sprout-Meisterwerks STEVE MCQUEEN zum Trotz verriet Paddy Mc-Aloon schon immer dandyhafte Tendenzen. Diese sind inzwischen voll zur Entfaltung gelangt. Wie er so auf dem Sofa sitzt, denkt man an einen Poseidon, der sich aufs Land verirrt hat. Statt auf dem Dreizack ruht seine Hand auf einem Spazierstock mit Porzellanknauf. Da7.u trägt Paddy weiße Handschuhe, dickgerippte orange Manchester-Jeans, rotes Jacket und einen graumelierten Vollbart. Wenn er lacht, lehnt er seinen Kopf zurück und schüttelt sich wie ein entzückter Weihnachtsmann. Auch sonst ist die Begegnung mit einem der raffiniertesten Songschreiber Großbritanniens außergewöhnlich. Wir sind dafür in den Norden gefahren, nach Durham, ein steinaltes Städtchen samt Kathedrale aus normannischen Zeiten. Paddy McAloon lebt in der Nähe, in Witton Gilbert, dem Nest, wo einst alles angefangen hat. Zu bereden gibt es das erste neue Prefab-Sprout-Album seit acht Jahren. So neu ist es allerdings nicht: LET’S CHANGE THE WORLD «ITH ML’SIC entstand vor 17 Jahren. Die Plattenfirma weigerte sich damals, es zu veröffentlichen: die Texte. Sie bedienten sich einer sakral angehauchten Sprache, um ein Lieblingsthema McAloons abzuhandeln: die Kraft der Musik.

Der Kernsatz auf dem Album lautet: „I’ve no time for religion, but doubt’s a modern disease“ („God Watch Over You“). „Um den Satz dreht sich alles“, sagt McAloon. „Auf der einen Seite kann man nicht an dieses Gott-Business glauben. Auf der anderen braucht man etwas, an dem man sich festhalten kann. Vielleicht ist dieses Etwas die Musik. Wenn es einen Gott gäbe, wäre Musik seine Stimme? Noch heute drehen sich viele meiner Songs um die Musik an sich. Ich bin mir nicht sicher, ob das daran liegt, dass es

ein endlos spannendes Thema ist, oder ob dies nur die Faulheit eines Songschreibers ist, der zu wenig Textideen hat.“

McAloons Vater war Mathelehrer, quittierte den Job jedoch, um in Witton Gilbert eine Tankstelle zu übernehmen. Es gab in dem Haus zwei Scheiben des Pianisten Liberace, dann entdeckte Paddy dieT.Rex-Single „Ride A White Swan.“ „Von T.Rexaus habe ich mich vorwärts, rückwärts und seitwärts gearbeitet“, erinnert er sich: „Stravinsky, Schönberg, Sondheim, Blues und Beatles. „

1977, als die Pistols um die Rettung der Queen besorgt waren und The Clash sich über die USA echauffierten, entdeckte McAloon AJA von Steely Dan: “ Ich war mir sicher, dass kaum eine Platte von 1977 bleibenden musikalischen Wert hatte. Niemand auf der Welt hätte mich andererseits von der Überzeugung abbringen können, dass AJA sublime Musik mit unglaublich viel Witz enthielt.“ Hätten McAloon und seine Band, der neben seinem Bruder Martin auch seine Freundin Wendy Smith angehörte, in London gelebt, wären ihnen solche Flausen wohl vom Zeitgeist ausgetrieben worden.

„Ich hatte eine Popvision“, sagt McAloon, „es war mein Traum, chromglänzende Popklänge mit Texten zu kombinieren, welche die Komplexität und emotionelle Tiefe einer Leonard-Cohen-Platte hatten.“ Die Fans schwören, dass Paddy sein Ziel erreicht hat. Seine Songs bewegten sich zwischen Jazz, Pop und Chanson und waren gespickt mit feinfühligen (zwischen)menschlichen Wahrnehmungen und Anspielungen auf die Popgeschichte. Das wohlgesinnte New-Wave-Publikum, darunter John Peel, reagierte auf das Debüt SWOON (1984) mit Enthusiasmus und steckte die Band gleich in die „Cleverer Pop“-Schublade mit Aztec Camera und Orange Juice und vielen Postcard-Records-Bands. Das passte Mc-Aloon nicht: „Wir wollten auf keinen Fall als Teil einer Bewegung verstanden werden. Es bestand ja auch die Gefahr, dass alle, die zuerst Orange Juice und Aztec Camera gehört hatten, meinten, wir seien Johnny Come Latelys, dabei waren wir Johnny Come Earlys! Ich war 14, als ich mit Prefab Sprout anfing – meine Band wurde im selben Jahr gegründet wie Steely Dan!“

Prefab Sprout waren nie Chartsstürmer. Aber an einen Hit wie „The King Of Rock’n’Roll“ mit dem unsterblichen Refrain „Hot dog, jumping frog, Albuquerque“ erinnert sich jeder, der ihn einmal gehört hat. Der Ruf der Band liegt in einer Reihe von meisterhaften Alben begründet, die mit STEVE MCQUEEN (1985) über FROM LANGI.EVPARKTO MEM-PHIS (1989) bis JOR-DAN: THE COMEBACK (1990) führte. Danach wurde es stiller um die Sprouts. Es erschienen noch zwei Alben: ANDRO-MEDA HEIGHTS (1997) und THE Gl’NMAN AND OTHKK STORIES (2001). Unterdessen nahm die Legendenbildung um Paddy McAloon derartige Ausmaße an, dass er beim Londoner Open-Air-Festival The Fleadh als Headliner engagiert wurde.

Danach warfen gesundheitliche Probleme McAloon aus der Bahn. Seine Netzhäute lösten sich. Er drohte zu erblinden. Diese Leidenszeit, in der McAloon fast nur noch Radio hörte, resultierte in I TRAVCI. THE MEGA-HERTZ, einem Soloalbum, auf dem er sich im Komponieren gegenwartsklassischer Kammermusik versuchte. Dann kam der Tinnitus: “ Das war viel schlimmer für mich als die Augengeschichte“, sagt McAloon. „Ein Gefühl, wie wenn Keith Emerson die ganze Nacht in meinem Kopf die gleichen zwei Tasten gedrückt hätte.“ Sieben Monate lang dauerte die Qual. Geblieben ist ein Druckgefühl im Gehör. Dazu nimmt er mit dem rechten Ohr Basstöne nicht mehr wahr: „Aber ich war ja nie ein großer Reggae-Fan. “ Dennoch hat McAloon nie aufgehört, Songs zu schreiben. Gleich drei Konzeptalben geistern derzeit in seinem Kopf herum oder sind auf Demotapes und in seinem Old-School-Atari-Computer versteckt („Meine Augen werden schnell müde. Darum will ich nicht die Gebrauchsanweisung für einen neuen Computer lesen müssen“) — eines mit „synthetischen Arien“, ein Zyklus über „allerhand unangenehme Aspekte des heutigen Lebens“, sowie “ Lieder nur mit der Gitarre, die heiter stimmen sollen, wie ,Stardust’von Louis Armstrong“. In der Tat hat Paddy so viele Einfälle, dass sein Hauptproblem darin besteht, sich zu entscheiden, welchen er für ein Album aufgreifen soll. Zudem falle es dem Eigenbrötler schwer, mit anderen Musikern zusammenzuarbeiten – was aber angesichts seiner Gehörprobleme unumgänglich geworden ist. „Nun, dieses Album“, sagt der songschreibende Poseidon über I.ET’S CHANGE THE WORLD W1TH MU-SIC, „das ist, wie wenn ich nach langer Zeit wieder aus dem Wasser aufgetaucht wäre.“