Die Stimme Amerikas


Daß er den Nerv der amerikanischen Seele trifft, kann kaum überraschen. Aber warum gilt Marc Cohn auch in Deutschland als der kommende Mann?

Er hatte gehofft, 60.001 LPs verkaufen zu können., Meine Plattenfirma sagte mir klipp und klar, daß ich nur dann ein weiteres Album machen könne, wenn sie mehr als 60.000 Exemplare vom ersten verkaufen würden. “ Daß seine Singles „Walking In Memphis“ und „Silver Thunderbird“ sowie das Debütalbum die Millionengrenze locker hinter sich lassen würden, stand nun wirklich nicht zur Diskussion.

Ihm ist ein wenig schwindelig von der Aufmerksamkeit, die ihm nun überall entgegenschlägt. „Ich arbeite seit 15 Jahren als Musiker — und den meisten Teil dieser Zeit war ich da unten. “ Er zeigt auf den Boden zwischen seinen Stiefeln. „Ich muß mich immer noch zwicken, wenn ich zum Auftritt komme und dort Schlangen von Menschen sehe. Das Publikum ist überhaupt der beste Teil des Erfolges. Letztes Mal in Hamburg waren die Leute besser als ich. Meine Stimme war höllisch heiser, aber das Publikum brachte eine so ungeheure Energie rüber, daß sie den Auftritt retteten.“

Für das Toben der Menge muß er jedoch auch Irritationen in Kauf nehmen — wie etwa einige hundert Journalisten, die ihn beknien, die Entstehung seines (eigentlich offensichtlichen) Songs „Walking In Memphis“ zu erläutern:

„Ich habe kürzlich angefangen zu lügen“, gibt er zu. „Ich erzähle ihnen jetzt, daß es eine Geschichte über Reinkamation und meine Erfahrungen im alten Ägypten sei.“

In Wirklichkeit sind Cohns Songs sehr direkt im Hier und Jetzt verwurzelt und erzählen von Charakteren, die der in Cleveland geborene Cohn tatsächlich getroffen hat. Er denkt laut darüber nach, ob sich die Unwirklichkeit seiner momentanen Situation wohl künftig auch im Schreiben von Songs niederschlagen wird. „Das Leben wird definitiv merkwürdiger — und zwar immer schneller. Ab ein Songautor, ab irgendein Autor, ist das wichtigste, was man braucht, Innmsplwre und die Zeit um nachzudenken.“

Als Ex-Philosophie-Student betrachtet Cohn das Nachdenken als Priorität. „Wenn die ersten Hits kommen und der Druck eskaliert, ist’s mit dem Privatleben vorbei. Du bist nie allein. “ Er lächelt unter dem sauber gestutzten Bart. „Ich beschwere mich nicht, stelle mich nur darauf ein.“

Cohn schrieb seine ersten Songs mit zehn Jahren, schloß sich der unvermeidlichen Highschool-Band an, wurde zum Folkie ä la Joni Mitchell/Jackson Browne, spielte für sein Abendessen in Clubs und Restaurants in Ohio, Kalifornien und New York. Bereit, nichts unversucht zu lassen, fand er sich selbst als Fronünann einer 14-köpfigen Band namens The Supreme Court wieder, deren Karriere ihren Höhepunkt mit einem Konzert auf Caroline Kennedys Hochzeit erreichte. 1989 spielte er auf Tracy Chapmans zweitem Album „Crossroads“. Chapman-Produzent David Kershenbaum begann, auch mit Cohn zu arbeiten, doch der war mit dem Resultat unzufrieden und brach die Aufnahmen ab. Nachdem er endlich einen Plattenvertrag hatte, war er wild entschlossen, es richtig zu machen.

Der Erfolg seines Debüts mag für seinen Macher überraschend sein, aber angesichts der Tatsache, daß Cohns Musik allgemeingültig genug ist, um in ein Spektrum mit Bruce Springsteen an einem und Bruce Homsby am anderen Ende zu passen, ist die öffentliche Resonanz durchaus plausibel. Wenn er sich nicht gerade (wie in „Dig Down Deep“) auf Van Morrisons Terrain bewegt, ist Cohn ein Mainstream-Mann. Andererseits spricht der bekennerhafte Ton seiner Texte ein Publikum an, das zwar introvertiert, aber auch wieder nicht so depressiv ist, daß es sich von den düsteren Weltuntergangs-Dramen eines Leonard Cohen angezogen fühlt. Und wo Springsteens Songs überlebensgroße Mythen kreieren, das Americana des Marlboro-Manns, hat man bei Cohns Liedern das Gefühl, als blättere man im Tagebuch eines netten, durchschnittlichen US-Boys. Manchmal läßt er sogar mehr an autobiografisehen Sentimentalitäten raus, als man eigentlich wissen will.

Aber es ist schwierig, zu sentimental für den amerikanischen Geschmack zu sein: Unlängst bekam Cohn, kurz bevor er auf die Bühne ging, die Nachricht zugesteckt, daß ein junger Mann seine Freundin während „True Companion“ bitten würde, ihn zu heiraten. Also läßt Cohn, als der große Moment naht, den Scheinwerfer auf besagtes Paar richten. Hat sie ja gesagt? Ja! Und hier ist der Ring! Hochrufe überall, nicht ein trockenes Auge im ganzen Haus.

Bei seinem nächsten Konzert werden die Menschenschlangen noch länger Sein.