Die Rückkehr ins Reich der Sinne


Die Erde bebte, als Barry White in Los Angeles zum Interview bat. Mit seinen erotischen Soundtracks für die schönen Stunden zu zweit mächte der schwergewichtige Schlafzimmer- Experte an frühere Erfolge anknüpfen. ME/Sounds-Mitarbeiterin Gitti Gülden sprach mit der Beate Uhse der Popmusik.

Bleiben Sie, wo Sie sind! Fahren Sie nicht auf die Freeways, gehen Sie nicht auf die Straßen!“

Der Mann im Fernsehen hat gut reden — wie soll ich jetzt zum verabredeten Termin nach Hollywood kommen? Fährt heute überhaupt jemand zu irgendwelchen Terminen?

Es ist Donnerstag, der 1. Oktober. Um 7 Uhr 42 blieben jede Menge Uhren stehen. Alle Bewohner in und um Los Angeles bekamen heute den Schreck in der Morgenstunde: Das stärkste Erdbeben seit 1971 (6,1 auf der Richterskala) erschütterte Kaliforniens Süden. Der Mann im Fernsehen, der beim ersten Nachbeben vorsichtshalber unter seinen Tisch gekrochen war, sitzt nun wieder aufrecht und verkündet tapfer: „Alles halb so schlimm. Nur in Downtown brennen ein paar Häuser.“

Es ist 9 Uhr 30, und im Büro von Barry Whites Plattenfirma meldet sich ein verzagtes Stimmchen am Telefon: „Natürlich ist es Ihr Risiko, aber ich kann Ihnen versichern: Barry wird da sein! Es gibt nichts, was Barry White aufhalten kann.“

Also auf in Charlie Chaplins ehemaliges Filmstudio, die heutige Plattenfirma A&M. Besitzer Herb Alpert parkt neben mir und lächelt zuversichtlich. Man führt mich in ein abgedunkeltes Büro, alles scheint wieder normal.

Im Halbdunkel sitzt ER. Mein Gott, was für ein Mann! Kein Wunder, daß diesen Koloß nichts erschüttern kann. Seine brilliantenbeschwerte Hand greift meine vergleichsweise winzige Rechte, und diese unglaublich tief rollende Kellerstimme dröhnt: „Na? Hast du die Schwingungen genossen? Vergiß nicht zu erwähnen, daß du Barry White an einem historischen Tag gesprochen hast.“

Barry White, 43, gebürtiger Texaner, aufgewachsen in L.A., seit 26 Jahren im Musikgeschäft als Roadmanager, Arrangeur, Produzent, Multi-InsVrumentalist und vor allem als Schlafzimmer-Vokalartist. Sein Trick? „Sex, mein Engel. Das interessiert jeden Menschen überall auf der Weh. Sex und die Liebe. „

Barry muß es wissen. Sein Rezept brachte ihm zwischen 1973 und 1978 Rekordumsätze: allein 108 Goldene und 38 Platin-LPs.

Der glückliche Vater von sieben Kindern ist seit über 15 Jahren ebenso glücklich mit deren Mama Glodean verheiratet. Glodean war dereinst Sängerin bei Barrys „Love Unlimited Orchestra“ und half auch bei des Gatten neuestem Werk THE RIGHT NIGHT entscheidend mit. Nach drei Jahren Pause ein neues White-Produkt mit bewährtem Erotik-Touch, aber etwas aufgepeppteren Rhythmen. Als Promotion-Geschenk zur LP ist übrigens ein knallrotes Nachthemd erhältlich, statt des üblichen T-Shirts.

Barry kennt sich halt aus in Marktstrategien: „Ich sage dir, Engel, beim Erfolg mit der Musik mußt du das Geschäft kennen. Ich wußte schon immer, daß ich gut bin, hob‘ mir da drüben an der Straßenecke die Augen ausgeheult, weil keiner mein Talent erkennen wollte. Bis ich mir eines Tages sagte: Moment mal, so wird das nie was. Erst lernst du mal alle Geschäftstricks, das Musikalische kannst du ja.‘ Heute macht keiner Barry White was vor, Engel, das steht fest!“

Barry freut sich auf Deutschland, auf seine Konzertreise und natürlich auf „die schönen deutschen Frauen“, die ihn, respektive seine Schmeichelmusik so schätzen. Er hat ein wenig abgenommen, jedenfalls im Gesicht, ist stilsicher dekoriert und läßt gern sein Wunderwerk dentaler Kunst charmant aufblitzen.

Wann eigentlich entdeckte der Liberace des Soul die unendlichen Tiefen seiner unnachahmlichen Stimme?

„Als ich 14 war. Eines morgens stand ich ganz normal auf, ging in die Küche und wollte wie immer ganz normal ,Guten Morgen‘ sagen. Meine Mutter Sadie hatte gerade Kaffee gekocht und stand nichtsahnend mit ihrer Tasse in der Hand da. Ich sagte also .Guten Morgen‘, und meine Mutter ließ ihre Tasse fallen. Wir waren beide zu Tode erschrocken. Ich hatte über Nacht diese ungeheure Baßstimme bekommen. „

Die Audienz ist beendet. Meister White erhebt, von leichtem Juwelengerassel begleitet, seine beeindruckende Gestalt, küßt mir zum Abschied wieder die Hand („Grüß‘ meine Fans ind Deutschland, Engel!“) und entläßt mich in die Hitze dieses denkwürdigen Tages. Leise rappeln die Fensterscheiben meines Autos bei einem kleinen Nachbeben, aber was kümmert’s die Reporterin, wo doch nun angeblich alles wieder ganz normal ist und der mächtige Barry White ihr mit tief rollender Stimme versichert hat: „Keine Angst, Engel. Es™ wird schon nichts mehr passieren. Vertrau auf Gott.“