Jahresrückblick 2015

Die neue Avantgarde


In den Jahren mit der Fünf werden die Weichen gestellt. Das galt von 1955 bis 2005. Und das gilt für 2015: Eine neue Form von Avantgarde ist erfolgreich, weil sie eine Gegenreaktion zur digitalen Musikrevolution ist. Das Äquivalent der Musik zum philosophischen Roman und zum experimentellen Hollywoodfilm.

Und noch ein paar Erfolgsgeschichten: Michael Giras Swans waren viele Jahre lang ein lärmendes Außenseiterding im Indie-Rock. Seit zwei Jahren gilt die Truppe als Nonplusultra auf dem Live-Circuit, bei Swans-Konzerten entstehen heute die modernen Mythen vom „Lärm, bis man kotzen muss“, von denen wir in 20 Jahren unseren Nachgeborenen erzählen. Das Erstaunliche und Wunderbare: Swans haben ihre Musik bis zur Schmerzgrenze radikalisiert, und erreichen damit plötzlich ein großes Publikum. Auf der anderen Seite verfeinert der Österreicher Christian Fennesz seine Schichtungsarbeiten aus Gitarre, Synthie-Flächen und Hintergrundrauschen immer weiter – und hat sich vom Insider-Helden zum global beachteten Impulsgeber für die Erforschung der Klangschnittstelle zwischen analog und digital gemausert. Der Produzent Arca aus Venezuela brachte nach Produktionsarbeiten für Kanye West und Björk mit MUTANT eine gewalttätige Klangcollage heraus, die man früher als Karrieregift und kommerziellen Selbstmord bezeichnet hätte – heute gilt ein solches Werk als beste Bewerbung für weitere Produzentenjobs. Und dann ist da noch Kamasi Washington, ein Tenorsaxafonist aus dem Umfeld der Brainfeeder-Posse um Flying Lotus, der mit THE EPIC ein unglaubliches, langes Jazz-Album aufgenommen hat, auf dem seine irren Musiker zügellos herumspielen und der Chef dazu üppige Streicher, epische Chöre und dramatischen Sprechgesang arrangiert. THE EPIC bekam von der Kritik Höchstnoten, was den Leuten häufig auch mal egal ist. In diesem Fall aber entstand ein weltweiter Buzz, der in Deutschland dazu führte, dass Washington im Zuge seiner Tour in diesem Herbst die zweite Ausgabe der deutschen Vinylcharts anführte, vor David Gilmour und Keith Richards, Wanda und Jean-Michel Jarre. Die Musik auf THE EPIC hat nichts mit dem Starbucks-Jazz zu tun, den man sich zum überteuerten Premium-Latte gönnt. In neun von zehn deutschen Haushalten werden diese Stücke keine zehn Sekunden laufen, bevor ein genervter Mitbewohner, Partner oder Nachbar damit droht, dem coolen THE EPIC-Vinyl auf dem neuen Crêpes-Maker einzuheizen.

Doch der neuen Avantgarde kommt es nicht nur auf Extreme an. Julia Holter hat mit HAVE YOU IN MY WILDERNESS ein thematisch unglaublich dichtes Album aufgenommen, das aber eben auch formvollendete Pop-Ästhetik bietet. Die Kunst: liebevoll und zärtlich klingen, ohne dabei auch nur mit dem kleinen Zeh banal zu werden. Holters gute Freundin Lucrecia Dalt wandelt das Konzept auf einer anderen Ebene um: Stimme und Elektronik bleiben abstrakt, Schönheit entsteht dennoch, wenn auch so verfremdet wie in diesen kurzen Träumen, wenn man im Flugzeug einnickt. Wie genau Dalt das macht, bleibt im Dunkeln. Und genau das macht das Geheimnis dieser neuen Avantgarde aus: Sie kämpft nicht mehr gegen eine allgemein erfahrbare Ästhetik an, sondern krempelt diese um, indem sie Perspektiven und Settings ändert, Strukturen zerschießt und neue schafft. Ein gutes Beispiel ist der Track „Nolan“ von Ben Frosts Album AURORA. Frost hat die Tracks im Osten des Kongo aufgenommen, in Nachbarschaft eines ausbruchbereiten Vulkans, im Schatten des elendigen Bürgerkriegs und seiner unglaublichen Massaker. „Nolan“ ist zunächst bizarr greller Industrial- Computer-Lärm, unter dem ein unerbittlicher Maschinenbeat pulsiert. 5:22 Minuten geht das so, dann übernimmt völlig aus dem Nichts eine Fanfare die Kontrolle, der Beat gehorcht und geht mit, der Lärm wehrt sich mit aller Kraft, von links und rechts rauschen Sirenen rein und rutschen auf ihrer eigenen Seifigkeit aus. Zwei Dinge fallen bei „Nolan“ auf. Erstens lässt Ben Frost auch mal die Sau raus. Zweitens erfährt das aber nur, wer den langen Track bis zum Ende hört, und zwar nicht über kleine Boxen am Rechner (selbst die teueren Mini-Dinger kriegen den Sound nicht zu packen), sondern konzentriert in Hi-Fi. Der Hörer muss also etwas investieren.

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