Die Linke Für Die Rechte
Die richtige Gesinnung sollte man schon haben, wer als Aushängeschild für Amnesty und die Menschenrechte auf Tour gehen will, muß neben musikalischen auch moralische Talente mitbringen. ME/Sounds-Mitarbeiter Rolf Lenz erlebte in Budapest, wie Musik, Moral und Marketing zusammenpassen.
Oh nein! Sting hebt flehend die Hände über seinen Kopf und verdreht die Augen. In der Budapester Pressekonferenz hat ihn ein ungarischer Journalist darauf angesprochen, daß er doch mal Marxist gewesen sei — und wie es denn inzwischen damit stünde.
„Meine Ansichten haben sii h geändert, seit ich 15 war und meine Eltern Sozialisten“, erklärt der große Blonde. „Ich bin durch alle möglichen politischen Strömungen gegangen und fühle mich heute als Mitglied einer politischen Ein-Mann-Partei. Meine Standpunkte sind sehr komplex und ändern sich täglich …“
Nicht alle natürlich. Seit sieben Jahren ist Sting Mitglied bei Amnesty International; ebenso wie Peter Gabriel und der Senegalese Youssou N’Dour sagte er sofort zu. als er von den Welttournee-Plänen der Menschenrechts-Organisation hörte.“.Danach meldeten sich über Freunde und Freunde von Freunden immer mehr Künstler, die mitmachen wollten“, erzählt Tournee-Vater John Healey, gleichzeitig amerikanischer Amnesty-Vorsitzender und 1986 Organisator der erfolgreichen „Conspiracy Of Hope“-Tour mit Sting/Police, Gabriel, U2 u.a. Die endgültige Auswahl für 1988 erfolgte nach“.kommerziellen und praktischen Kriterien“ (Healey) und fiel auf den Boss, weil er der Boss ist. und Tracy Chapman. weil sie mit ihren engagierten Polit-Songs bestens ins Konzept einer solchen Tournee paßt.
„Human Rights Now!“ will kein Geld sammeln, sondern allenfalls neue Amnesty-Mitglieder (Springsteen: „Seit der ‚.Conspiracy Of Hope‘-Tour wurden in den Staaten 100 000 neue Mitglieder unter 40 aufgenommen — das ist die Zukunft für Amnesty.“). Außerdem soll der 40. Geburtstag der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ gefeiert werden, des einzigen Dokuments, auf das sich Amnestv-Mitstreiter weitweit berufen können. Die Vereinten Nationen verabschiedeten ihre 30 Artikel zur Festlegung sämtlicher Rechte, die ein Staat heute seinen Bürgern einräumen sollte, zwar schon am 10. Dezember 1948, trotzdem haben noch längst nicht alle Staaten diese Grundrechte in ihre Gesetzgebung übernommen.
Die fünf Tournee-Künstler verzichten nicht nur auf die Gage und bringen persönliche Opfer (Springsteen hat seine USA-Tour unterbrochen, Gabriel zwei Alben verschoben) — sie finden auch große und für Rockmusiker ungewöhnlich salbungsvolle Worte, wenn es darum geht, ihre Mitwirkung an diesem Projekt zu erklären. Bruce: „Als ich ein kleiner Junge war, hatten viele meiner Träume mit Rock’n’Roll zu tun: Träume vom Leben und von der Liebe, von menschlichen Fähigkeiten von Sex; aber am allerhaufigsten Träume von Freiheil. Ich glaube, wirklich guter Rock’n’Roll hat schon immer frei gemacht.“
Warum in den 80ern plötzlich immer mehr Pop-Künstler in politische Appelle einstimmen, will ein bulgarischer Journalist wissen.“.Weil wir merken, daß wir immer mehr erreichen können“, erklärt Peter Gabriel lakonisch. „Seil Live Aid zeigt sich, daß Rockmusik zur Welt-Sprache geworden ist, die von jungen Menschen in allen Ländern verstanden wird: Wir haben also die einmalige Möglichkeit, Informationen weiterzugeben. Ob die Leute darauf reagieren, ist ihre Sache; wir finden es wichtig, daß diese Informationen zumindest soweit durchdringen wie wir mit unserer Musik. Und wir wollen den Leuten Mut machen, die Welt zu verändern, weil wir glauben, daß sie dazu in der Läse sind.“
Genau daran glaubt auch “ Bill Graham, der legendäre amerikanische Tournee-Profi, ohne dessen weltweite Verbindungen ein 23-Millionen-Dollar-rundum-den-Globus-Spektakel wie „Human Rights Now!“ gar nicht denkbar gewesen wäre. Für ihn stellten sich angesichts der 21 weltweiten Konzerte allerdings weniger politische als häuptsächlich“.logistische und technische“ Probleme.“.Natürlich bekamen die Zuständigen in einigen Ländern kalte Füße, nachdem wir ihnen erklärt hatten, worum es auf der Tour gehen soll“.
nickt der bärbeißige Graham.
„Aber wir konnten eh nicht überallhin, denn wir wollten in sechs Wochen auf allen Kontinenten Station machen.
Es ging also hauptsächlich darum, wo überhaupt entsprechende Stadien plus die nötige Technik und Sicherheil vorhanden waren. Termine mußten koordiniert werden und das mögliehst fix. Wenn wir in Ungarn spielen und nicht in Jugoslawien, dann nicht weil uns die Budapester sympatischer sind, sondern weil sie schneller definitive Zusagen machen konnten.“
Eine definitive Zusage der großzügigen Art machte der englische Turnschuh-Marktführer Reebok: zwei Millionen Dollar vorab als Spende plus Deckung des zu erwartenden Defizits bis zu acht Millionen. Macht zusammen zehn. Die restlichen 13 Millionen müssen durch Merchandising/Andenkenverkauf und der Vergabe der Fernsehrechte reinkommen, denn von den Eintrittsgeldern bleibt sich nicht viel übrig. Hier zahlen die reichen Länder für die armen: ein Ticket, das in den USA 35 Dollar kostet, kostet in Zimbabwe einen.
„Zuerst haben wir dabei natürlich nur an die Marketing-Chancen gedacht“, gibt Reebok-Vizepräsident Angel Martinez zu. „Michael Jackson kann jeder kaufen, aber wer kann schon Bruce Springsteen kaufen?
Je mehr wir allerdings mitbekamen, was Amnesty überhaupt macht, desto weiter gingen wir wieder davon ah: Das war nichts Kommerzielles mehr, ¿
sondern wurde zum eigenen Standpunkt.
Als wir in den eigenen Reihen herumfragten, ob wir uns da engagieren sollen, gab es überwältigende Zustimmung. „
Auch nachher soll es keine selbstbeweihräuchernden Anzeigenkampagnen geben (Zyniker schlugen schon den Slogan „These Boots Are Made For Freedom“ vor), trotzdem setzt Reebok sicherlich auch kommerziell aufs richtige Pferd — gerade weil sich die Firma damit bei all denen beliebt macht, die Holzhammer-Werbung nicht abkönnen.
.. I ‚iclleichi sind wir alle ein bißchen naiv und idealistisch“, zuckt Martinez die Achseln.“.Vielleicht glauben wir an etwas, was nicht passieren kann.“
In Budapest zumindest passierte etwas. Im Schutz der 81.000 Zuschauer gingen im Nep-Stadion Transparente hoch, die offen nationale Notstände beklagten: Die Abschaffung der Todesstrafe wurde gefordert, ebenso die Einstellung der Verhaftungen von Kriegsdienstverweigerern. Der ungarische Chefideologe Janos Berecz beeilte sich denn auch zu versichern, daß die polizeiliche Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern in Kürze eingestellt werden solle.
Der sowjetische Regierungssprecher Gerassimow, der unter den Zuschauern gesichtet wurde, sollte sich ein Bild machen, ob die Veranstaltung auch Glasnost-geeignet sei. Bei Redaktionsschluß war noch ungeklärt, ob noch ein Moskauer Konzert eingeschoben wird. Fest steht, daß das letzte Konzert am 15.10. in Buenos Aires gefilmt und am 10. Dezember weltweit im Fernsehen ausgestrahlt werden soll.