Die letzte heroische Phase der Moderne: Brutalismus ist derzeit angesagt wie nie
Groß, grau und unglaublich kühn: Die expressiven Gebäude des Brutalismus gut zu finden, gilt als Ausdruck guten Geschmacks. Was auch daran liegt, dass immer mehr brutalistische Bauten abgerissen werden.
Das Publikum zählte laut mit: Zehn, neun, acht! Als die eins erreicht war, wurde es für einen kurzen Moment still, nur ein paar Passanten lachten. Dann zerfiel der AfE-Turm der Universität Frankfurt am Main zu Staub. Erst rieselte die Fassade herunter, dann der restliche Bau. Nach wenigen Sekunden war dort, wo eben noch ein 116,4 Meter und 32 Geschosse hoher Betonturm stand, nur noch eine baumhohe Staubwolke zu sehen. Wie dem Turm der Universität Frankfurt an jenem Tag im Februar 2014, ergeht es seit einiger Zeit vielen Beton-Gebäuden in Deutschland, Europa und der Welt: Sie werden abgerissen.
Die Birmingham Central Library: durch einen knallbunten Neubau ersetzt. Das Historische Museum in Frankfurt am Main: weg. Der Busbahnhof im englischen Preston: dem Erdboden gleichgemacht. Die Robin Hood Gardens in London: trotz des Protestes von namhaften Architekten wie der verstorbenen Zaha Hadid: für den Abriss freigegeben.
Die offen und klar strukturierten Gebäude sollten sozial, demokratisch und selbstbewusst modern sein
Über 90 brutalistische Gebäude weltweit sind derzeit von entstellenden Umbaumaßnahmen oder gar dem Abriss bedroht – mehr als zehn Prozent der Bauten dieser Epoche überhaupt, schätzen die Macher von SOS Brutalism. Das gemeinsam vom Architekturmagazin „Uncube“, der Wüstenrot Stiftung und dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main betriebene Projekt ist so etwas wie ein Artenschutzprogramm für brutalistische Bauten. Auf sosbrutalism.org haben die Kuratoren mit Hilfe von Usern über 900 Bauten des Brutalismus gesammelt, daraus eine Weltkarte und einen Überblick über aktuell gefährdete Gebäude zusammengestellt.
Das, was heute unter dem Namen Brutalismus versammelt wird, war einst der Versuch, die Moderne mit kühnen, klaren Entwürfen in die vom Zweiten Weltkrieg gebeutelten Städte zu bringen. Die Idee war so schlicht wie ambitioniert: Die offen und klar strukturierten Gebäude sollten sozial, demokratisch und selbstbewusst modern sein. Die Bunker aus Beton, die neben Wohnungen oft Kulturinstitutionen beherbergten, sollten neue Formen des Zusammenlebens etablieren. Die Entwürfe waren nicht nur maximal pragmatisch geplant – sondern ein politisches Projekt. Der Name Brutalismus leitete sich dabei, anders als man denken würde, zunächst nicht vom Begriff Brutalität ab, sondern vom französischen „brut“, also dem rohen, unverputzten Material. Doch der Name wurde im Verlauf immer mehr Programm. Und damit zum Problem.
Denn ehrlicherweise muss man sagen: Die Bewertung dieser „Beton-Monster“, wie Oliver Elser, Architekt, Kurator am DAM und Leiter von SOS Brutalism diese Gebäude nennt, war stets zwiespältig. 1982 nannte Prince Charles das aus rohem, kantigem Beton direkt an der Waterloo Bridge errichtete Royal National Theater „eine clevere Art, ein Atomkraftwerk im Zentrum Londons zu errichten, ohne dass jemand protestieren würde“. Im selben Jahr bezeichnete die Queen das keine drei Kilometer entfernte, ebenfalls aus unverputztem Beton errichtete Barbican Centre als „eines der Wunder der modernen Welt“.
Tatsächlich ist das Barbican Centre ein wahnsinnig elegantes Ensemble. Drei Hochhäuser, zwei filigrane Blöcke mit Balkons auf allen Seiten und dazwischen: ein großer, quadratischer Teich, ein Teil der Stadtbibliothek, ein Theater – und sogar ein eigenes Gewächshaus, das allen Londonern offen steht. Futuristische Urbanität und kleinstädtische Strukturen. Ruhe, Struktur, pittoreske Blicke – und das mitten in London.
Dennoch wurde das Barbican Centre noch 2003 in einer Umfrage zum hässlichsten Gebäude Londons gewählt. Heute gilt das unter Denkmalschutz stehende Ensemble als eines der gelungensten brutalistischen Bauwerke überhaupt.
Je mehr dieser meist sperrigen, immer betongrauen Gebäude aus Stadtbild und Bewusstsein verschwinden, desto größer wird auch die Zahl derer, die sich für ihren Erhalt einsetzen – oder ihnen zumindest nachtrauern. In den vergangenen fünf Jahren wurden gleich Dutzende Bildbände und Coffee Table Books zum Brutalismus veröffentlicht, Kleinverlage stellen Stadtkarten mit den interessantesten Betonbauten zusammen und sogar im bürgerlichen Feuilleton steigt die Wertschätzung für die oft eigenwilligen Entwürfe.
Auch in den sozialen Netzwerken werden die Bauten gefeiert. 150.000 Bilder sind bei Instagram mit entsprechenden Hashtags versehen. Fast 45.000 Mitglieder zählt die „Brutalism Appreciation Society“ auf Facebook, eine Art Fan-Forum für Betonbauten aus den 60ern und 70ern. Ihr Gründer, der Brite Mark John Lighterness, schrieb ins kurze Manifest der Gruppe: „In Zeiten, in denen diese aus unseren Gemeinden und Städten verschwinden, ist diese Gruppe für all jene, die Gebäude in diesem oft verleumdeten Baustil schätzen.“ Oliver Elser von SOS Brutalism erklärt die Faszination konkreter: „Dieses Gesteigerte, das Exaltierte macht den Brutalismus so interessant“, und nennt den Brutalismus „die letzte heroische Phase der Moderne“.
In einer Zeit, in der die Städte mehr und mehr mit historisch anmutenden Zweckbauten zugebaut werden, ecken die Bauten des Brutalismus in jeder Art an: Zum einen erscheint es heute fast abwegig, Häuser zu bauen, die sich überhaupt gar nicht ins Stadtbild einpassen wollen, sondern die Harmonie bewusst brechen. Zum anderen erinnern die Monster aus Beton daran, dass es der Architektur der Moderne einmal um mehr ging, als bloß nicht aufzufallen – nämlich um neue Städte für neues Denken zu bauen. Der Brutalismus als Versprechen einer anderen, kühneren Zukunft. Einer Zukunft, an der man sich reiben kann.
Im Grunde lassen sich die mal exzentrischen, mal betont belanglosen Bauten des Brutalismus nur erklären, wenn man versteht, wogegen sie sich wandten. Der Brutalismus verstand sich als Fortentwicklung der feinsinnigen Bauten des Bauhauses. Le Corbusiers schon 1925 entwickelter Wohnungsriegel Unité d’Habitation, der später unter anderem in Marseille und Berlin errichtet wurde, gilt als Urahn der Betonklötze. Nur dass die Architekten des Brutalismus aus den Fehlern der weißen, filigranen und oft nach wenigen Jahren renovierungsbedürftigen Bauhaus-Gebäude lernen wollten und daher die Feinsinnigkeit gegen massiven Beton tauschten. Und die Idee des rohen Betons und der klaren Strukturen noch konsequenter und, gegen Ende der 70er, auch deutlich opulenter umsetzen wollten.
Noch mehr aber richtete sich der Brutalismus gegen eine bestimmte Form des Wiederaufbaus der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg. Für Architekten wie Peter und Alison Smithson waren ihre Gebäude ein Gegenentwurf zur meist kleinbürgerlichen und ängstlichen, tendenziell lieblichen und an historischen Ideen hängenden Architektur der Nachkriegszeit in Großbritannien.
Mit der 1949 bis 1954 erbauten, sehr reduzierten und noch sehr in der Bauhaus-Tradition verhafteten Hunstanton School im britischen Norfolk entwarfen die Smithsons einerseits das erste brutalistische Gebäude Großbritanniens. Andererseits aber erdachte das Architektenpaar mit dem Wohnungsblock Robin Hood Gardens in den späten 60ern einen Enkel der Unité d’Habitation, der aussah, als hätte man Le Corbusier mit den Mitteln von „Minecraft“ nachempfunden.
Leider entwickelte sich, trotz der ambitionierten sozialen wie gestalterischen Absichten, das Leben in vielen der brutalistischen Bauten zunächst nicht wie erhofft: Statt menschlichem Austausch in reduziertem Umfeld galten die Wohnungsneubauten der 60er und 70er, nicht nur in Deutschland und Großbritannien, als architektonisch wie gesellschaftlich gescheitert und als Orte sozialer Verwahrlosung.
„Die Bauten des Brutalismus wurden zum Teil tatsächlich sehr rücksichtslos in die Städte gebaut. Das versteht man nur im Kontext der Zeit“ – Oliver Elser
Und die Anforderungen veränderten sich: Die Isolation der Bauten stellte sich oft, mindestens an modernen Ansprüchen gemessen, als mangelhaft heraus, mancherorts war der Beton aber auch schlicht so nachlässig verbaut worden, dass es in die Häuser hineinregnete. Aber es waren eben nicht nur architektonische und bauliche Gründe, die den Niedergang des Brutalismus einläuteten. Die Bauwerke waren oft selbst mit großer Brutalität in gewachsene, städtebauliche Strukturen gesetzt worden, häufig wurden Altstädte vorsätzlich dem Verfall überlassen oder sogar intakte historische Bauwerke wie das neobarocke Portal des Jügelhauses an der Uni Frankfurt abgerissen, um es mit Glastüren zu ersetzen – alles wahlweise im Namen der Transparenz oder des Profits.
Denn längst hatten auch Investoren das Geschäft mit den modernen Wohnkomplexen für sich entdeckt. In einer Mischung aus linkem Protest und bürgerlichem Ressentiment begann sich spätestens im europäischen Jahr des Denkmals 1975 Widerstand zu regen. Als das Barbican Centre in London acht Jahre später von der Queen eingeweiht wurde, war der Traum aus Beton im Grunde längst tot. An seine Stelle war die Postmoderne getreten, eine Architektur, die sich einerseits ins historische Stadtbild einfügte und sich andererseits so betont verspielt und bunt gab, als wolle sie genau das Gegenteil der brachialen brutalistischen Bunker sein. Zudem etablierte sich ein Baustil, der dem Jahrhundertwendestil der meisten deutschen Innenstädte mit Sandstein, Glas und kleinen Erkern so sehr nacheiferte, dass gar keine Vision mehr zu erkennen war. Oder es wurden gleich ganze historische Bauten wiederaufgebaut, so als wäre der Zweite Weltkrieg nie geschehen und die gewachsene Stadt die einzig zulässige Form des Zusammenlebens.
Vor allem in London, aber auch in Berlin, hatte das außerdem eine soziale Dimension. Dort, wo in Zeiten des Brutalismus kleine, bezahlbare Wohnungen entstanden waren, wurden nun Town Houses und Loftgebäude errichtet, die eben nicht mehr die Unter- und Mittelschicht im Blick hatten und denen schon gar keine Idee von einem anderen Zusammenleben innewohnte.
Selbst die brutalistischen Bauten, die die Zeitenwende politisch wie qualitativ unbeschadet überstanden hatten, wie vor allem das Barbican Centre, aber auch der Londoner Trellick Tower oder der Balfron Tower, wurden erst privatisiert, dann instand gesetzt und schließlich derartig beliebt, dass die Preise so hoch wurden, dass sich die Wohnungen nur noch Wohlhabende leisten konnten.
Derzeit werden wieder Apartments im sogenannten Speed House des Barbican Centre verkauft. Großzügiger Balkon, Badezimmer im originalen Design der 60er, lichtdurchflutete Zimmer und ein Blick auf eine große, ruhige grüne Wiese zwischen den futuristischen, aufwendig sanierten Betonbauten. Der Preis: 895.000 Pfund – über eine Million Euro. Zuzüglich jährlicher Wartungskosten im fünfstelligen Bereich.
Brutalismus zum Weiterlesen:
„Concrete“: Der bei Phaidon erschienene Band ist weniger ein Buch über Brutalismus als eine Kulturgeschichte über die Verwendung von Beton im Bau, die sich vom Altertum bis in die Gegenwart spannt und gleichzeitig als Plädoyer für den Baustoff dient. 175 Farbbilder zeigen die schönsten Bauwerke von Le Corbusier über Herzog & de Meuron bis hin zu Zaha Hadid.
„This Brutal World“: Das ebenfalls bei Phaidon veröffentlichte Buch legt sein Augenmerk auf die visuellen Aspekte des Brutalismus und fasst den Genrebegriff dabei denkbar weit. Interessant ist dabei vor allem, dass Autor Peter Chadwick sehr international dachte: Das Buch nimmt den Leser aus der bekannten und hinreichend dokumentierten westlichen Welt mit auf eine Reise, die auch in Japan oder Brasilien Station macht.
„Brutalist London Map“: Für Architekturnerds zu Besuch in der britischen Hauptstadt unverzichtbar: Die Karte im DIN-A2-Format verzeichnet und beschreibt 50 Brutalismus-Klassiker in London. Mittlerweile haben die Macher ein zweite Karte mit Art-déco-Gebäuden nachgelegt.