Die Krise steckt in der Krise


The Beatles und Michael Jackson haben gezeigt: Mit Musik ließ sich 2009 immer noch Geld verdienen. Voraussetzung: sie muss alt, oder der Musiker gerade gestorben sein.

Stellen Sie sich vor, dieser Artikel würde mit folgendem Satz beginnen: „Die Musikindustrie ist komplett am Arsch“. Vielleicht würde ein Plattenfirmengeschäftsführer eine von seiner Assistentin „i.A.“ unterschriebene Protestnote an den Schreiber dieser Zeilen richten, in der er seinem Bedauern darüber Ausdruck verleiht, dass der Journalist die Sache mit der „Medienpartnerschaft“ wohl nicht so richtig verstanden habe. Dabei wäre der Satz „Die Musikindustrie ist komplett am Arsch“ nur die Ernte der Saat, die die Branche durch jahrelanges Gejammer über sinkende Verkaufszahlen ausgelegt hat, indem sie ihr eigenes am-Arsch-Sein regelrecht beschworen hat.

Tatsache ist, die Musikindustrie ist komplett am Arsch, mit aktueller Musik ist kein Geld mehr zu verdienen, es sein denn diese aktuelle Musik wird von Lady Gaga gemacht – deren Single „Pokerface“ stand bei Redaktionsschluss insgesamt 39 Wochen lang in den deutschen Top 50, davon 13 auf Platz 1 und drei auf Platz 2. Das liest sich sehr beeindruckend, ist aber auch relativ zu sehen. Wenn eine Single oder ein Album im Jahr 2009 auf Platz 1 der Top 100 steht, bedeutet das im Vergleich zu früheren Jahrzehnten: Ein Tonträger, der sich schlecht verkauft, hat sich ein bisschen besser verkauft als die 99 auf den folgenden Plätzen. Nachprüfen können wir das nicht, denn die Plattenfirmen geben keine absoluten Verkaufszahlen bekannt – sie werden schon wissen, warum.

Mit einer Mischung aus Koinzidenz und Schicksal wurde 2009 das Gerede von der kränkelnden Plattenindustrie ad absurdum geführt. Es lässt sich mit Musik immer noch Geld verdienen, nur: alt muss sie sein und neu muss sie klingen, oder der Musiker muss gerade gestorben sein. Das bewiesen die wichtigste Band aller Zeiten und der größte Solokünstler der vergangenen 30 Jahre mit den Rekordverkäufen ihrer Backkataloge: The Beatles und Michael Jackson. In der Woche nach ihrer Veröffentlichung am 9.9. stand THE BEATLES STEREO BOX (mit 16 CDs und einer DVD) auf Platz 3 der deutschen Albumcharts – noch nie vorher war ein vergleichbares Boxset so hoch in die Hitlisten eingestiegen. Die nicht minder bemerkenswerte Tatsache, dass in derselben Woche außerdem fünf Einzel-Beatles-Alben aus der Box in den Top 100 notiert wurden, liest sich angesichts der Position der Box eher wie eine Randnotiz. Der Erfolg der Beatles 40 Jahre nach ihrer Trennung liegt an ihrem unbestreitbaren Legendenstatus, aber auch an der Aufmachung der Remasters und dem warmen, plastischen Klang, der den Verdacht nahelegt, dass hier nicht nur remastert, sondern auch ein bisschen remixt wurde.

Die Veröffentlichung der „Kronjuwelen des Pop“ („Der Spiegel“) bescherte der angeschlagenen Plattenfirma EMI weltweit kräftige Gewinne. Von eher ideellem Wert dürfte für EMI die Veröffentlichung der acht remasterten Kraftwerk-Alben – wahlweise als Einzel-CDs, -LPs, Download und in der Box DER KATALOG – gewesen sein. Aber immerhin hat man mit den Beatles und Kraftwerk die zwei wichtigsten Vertreter ihrer jeweiligen Genres im Programm. Selbst die erste Ausgabe von Neil Youngs lange angekündigter Multi-CD-DVD-Box-Reihe ARCHIVES streifte die Top 100, was bei Preisen zwischen 116 Euro (für die Basisversion) und 240 Euro (für die Blu-ray-Luxusvariante) schon einigermaßen erstaunlich war.

Eine nie vorher dagewesene Kaufhysterie löste dagegen der Tod von Michael Jackson am 25. Juni aus. In der Woche danach platzierten sich 24 Singles und neun Alben des von Elizabeth Taylor zum „King Of Pop“ ernannten Jackson in den deutschen Top 100 – u.a. die Compilation KING OF POP auf Platz 1 und das schon vorher bestverkaufte Album aller Zeiten, THRILLER, auf Platz zwei. Das dürfte bei der zuständigen Plattenfirma Sony Music die Trauer über das Ableben Jacksons ein bisschen gemildert haben. Angesichts der globalen Jacksonmania konstatierte Jerry Reisman, Jurist des New Yorker Tonstudios „Hit Factory“, nicht gerade pietätvoll, aber wahrheitsgemäß: „Offen gesagt, er ist tot vielleicht mehr wert als lebendig.“