Die Hit-Hit-Hit- Fabrik


Ein wenig verdanken sie ihren Ruhm David Guetta. Irgendwie auch Daft Punk und Kitsuné. Aber in Wirklichkeit nur sich selbst. Und doch ist das Hamburger Duo Digitalism hierzulande nicht so bekannt wie in Japan, Frankreich oder, ja, Amerika. Noch nicht.

Digitalism brauchen noch eine Apotheke. Das Duo hat es ein wenig im Hals – was an sich schon schlimm genug wäre, doch hinterher müssen die zwei auch noch ins Radio und da ist eine klare Stimme bekanntlich nur selten von Schaden. „Hab zu viel Jens angeschrieen“, sagt Ismail Tüfekçi, den man Isi nennt, und Jens Moelle, der auf den Spitznamen Jence hört, lacht. Isi und Jence sitzen in einem Konferenzraum im Souterrain ihrer Plattenfirma in Berlin und machen allerdings den Eindruck, als käme bandinternes Anschreien höchst selten vor – außer man steht vielleicht auf irgendeiner Bühne und die Musik ist wieder zu laut. Ansonsten: Harmonie.

265 Tage im Jahr sind Digitalism ihrer eigenen Statistik zufolge im Schnitt unterwegs – anschließend fährt man dann gemeinsam in den Urlaub. Und weil sie auf Tour nicht an neuen Stücken arbeiten mögen, können oder wollen, und im Urlaub die Arbeit an neuen Stücken wiederum den eigentlichen Sinn eines Urlaubs in unverzeihlicher Weise unterläuft, gab es seit ihrem Debüt Idealism von 2007 kein neues Album.

Die rund hundert Tage, in denen weder Arbeit noch Urlaub auf dem Programm stand, nutzten sie, um neue Geräte zu erwerben oder die Wandfarbe im Studio zu wechseln, bis es irgendwann 2010 war und Jence und Isi befanden, dass es Zeit sei für ein neues Werk. Das hört auf den schönen Namen I Love You, Dude, und die Weltöffentlichkeit wurde darauf eingestimmt mit der sehnsuchtsvollen ersten Singleauskopplung „2 Hearts“, von der man vor allen Dingen sagen kann: ein Hit.

Jence: Danke schön.

ME: Sie haben einen Hit gewollt?

Isi: Ja, wir haben uns mit Zettel und Stift hingesetzt, ein Brainstorming gemacht und die Dinge dann abgearbeitet.

Das klingt so vernünftig.

Jence: Nein, das ist so passiert. Die Melodie war plötzlich da, und wir fanden sie cool – wir hätten ja auch sagen können: Das ist jetzt zu poppig.

War es aber nicht?

Jence: Nee, nee, sowieso nicht. Schwierig wird es nur, wenn man versucht, bewusst einen Hit zu schreiben. Aber wenn man ein Stück schreibt, das ein Hit ist, dann haben wir damit natürlich überhaupt kein Problem.

Ach so. Und wo liegt jetzt der Unterschied?

Isi: Na ja, „Pogo“ hat sich ja auch erst zu einem Hit entwickelt, „Zdarlight“ ebenso. Alles einfach so passiert. Darüber sind wir eigentlich ganz glücklich.

Jence: Wäre ja auch bescheuert, wenn es anders wäre. Wenn wir sagen würden, nee, Nebenjobs sind uns jetzt gerade lieber. So anti sind wir da nicht. Das wäre ja auch ein bisschen blöd, oder?

Absolut.

Jence: Das kommt einfach aus uns raus, daran ist nichts aufgesetzt.

Isi: Wenn wir eine Nummer wie „2 Hearts“ mit Absicht schreiben wollten, würde es uns sowieso nicht gelingen. Das ist ja eigentlich das Interessante.

Musiker mögen es bekanntlich gern, wenn man ihre Musik in Schubladen steckt. Deshalb sag ich: Der Song klingt irgendwie nach Indie-Pop.

Isi: Indie-Pop ist cool.

Der kommt mir so …

Isi: … bekannt vor …

… britisch vor. Britisch, wollte ich sagen.

Während das Wort noch ein wenig im Raum hängt, bietet sich die wunderbare Gelegenheit, kurz daran zu erinnern, dass Digitalism auch gern für Franzosen gehalten werden und sie ihre ersten Platten auf dem japanisch-französischen Label Kitsuné veröffentlicht haben. Andererseits bereichern manche Stücke auf dem neuen Album den Gesamteindruck um eine New Yorker Klangfarbe, was an einer leichten stilistischen Nähe zu LCD Soundsystem liegen könnte, besonders bei dem Stück „Reeperbahn“ – was kein so ungewöhnlicher Songtitel ist, wenn man bedenkt, dass Digitalism aus Hamburg kommen. Weitaus ungewöhnlicher ist das geo-akustische Kuddelmuddel, das Digitalism anrichten, zumal sie kein bisschen hanseatisch klingen und auch nicht deutsch – was Anlass zu der Überlegung geben könnte, was denn eigentlich ein deutscher beziehungsweise hanseatischer Klang wäre – um es kurz zu machen: Ich weiß es nicht.

Wenn man allerdings von einem britischen, französischen oder einem New Yorker Klang sprechen kann, wird es wohl auch einen deutschen oder hanseatischen geben, auch wenn er nur das ist, was nach dem Abzug aller anderen bekannten Klänge übrig bleibt. Ob Jence und Isi sich darüber jemals Gedanken gemacht haben, ist von dieser Stelle aus schwer zu sagen, gefragt wurden sie jedenfalls nicht. Und so greift Jence das Wörtchen britisch auf, das immer noch im Konferenzraum kreist und sagt: „Das liegt wohl daran, dass wir die frühen Simple Minds, New Order, The Fall und solche Sachen hören. Aber eigentlich hören wir fast alles.“

Wie es für Leute, die eigentlich alles hören, nur angemessen scheint, sind Jence und Isi sich in einem Plattenladen begegnet. Seit elf Jahre machen sie gemeinsam Musik, seit sieben Jahren gibt es Digitalism. Als erste Veröffentlichung erscheint „Idealistic“ 2004 zunächst als White Label und 2005 dann ein weiteres Mal bei Kitsuné. „Ein Kumpel von uns aus Hamburg meinte, das ist ein Hit. Und wir so: ;Wir glauben dir kein Wort.‘ Und er darauf:, Ich kenn da ein paar Leute, ich schickt das Stück mal rum.'“ Wenig später meldet sich Gildas Loaëc von Kitsuné per SMS aus Paris: „Spiel gerade euer Stück, die Leute stehen drauf.“ Digitalism denken: „Wow!“ Anschließend folgt „Zdarlight“ – wieder ein Hit. Der Ruhm wächst und wie jeder bestätigen wird, dem Ruhm zuteil wurde, wächst damit auch der Raum für Missverständnisse.

Bis heute gilt „Zdarlight“ als Digitalisms Hommage an Philippe Zdar, den Begründer des French House, bekannt durch La Funk Mob, Motorbass und Cassius. Doch nichts da. Der Songtitel „Zdarlight“ ist keine Verbeugung, es handelt sich vielmehr um bewusste Legasthenie, einen gezielten Schreibfehler, einen orthografischen Scherz mit unabsehbaren Folgen. Ja, kannten Digitalism Philippe Zdar denn damals nicht? „Doch, na klar.“ Aber war ihnen nicht klar, dass solch ein Songtitel zu Missverständnissen führen würde, zumal auf einem französischen Label? „Nö, haben wir damals gar nicht daran gedacht.“ Aber wieso, und jetzt wird es eigentlich erst interessant, bestreiten Digitalism so unermüdlich und entschieden, dass es sich bei dem Titel um eine Hommage handelt, zumal er auch so klingt, als könnte er durchaus eine Hommage sein? Könnte man doch machen, wäre ja kein Problem, tät auch niemandem weh, oder? Relativ verständnislos blicken Digitalism drein: „Weil es eben nicht so ist.“

Man muss sich Jence und Isi als zwei ausgesucht bodenständige Zeitgenossen vorstellen. Ihr Betätigungsfeld mag von Exzess und Flatterhaftigkeit geprägt sein, von Entäußerung und Kontrollverlust, von Höhenflügen und Zusammenbrüchen, doch die beiden lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, nicht vom Betrieb und nicht vom Erfolg. Ohne viel Aufhebens darüber zu machen, fertigen sie einen Remix nach dem anderen, ob nun für Depeche Mode, die Futureheads, die White Stripes, Dave Gahan, Daft Punk oder die Klaxons. 2007 erscheint das Debüt, und nachdem sie zwei Jahre lang mit Idealism getourt sind, entscheiden sie einfach, keine Konzerte mehr zu geben und nur noch aufzulegen – und wenn sie jemand darum bittet, eine Ausnahme zu machen, bekommt er eine Absage.

„Wir hatten als Live-Act alles gesagt“, sagt Jence und Isi schiebt nach: „Wir wollten uns nicht wiederholen.“ Als es darum geht, das zweite Album, I Love You, Dude, zu veröffentlichen, hören sie es sich vorher noch einmal gründlich an und befinden, dass es noch nicht so klingt, wie sie es gern hätten. Sie arbeiten anschließend das gesamte Werk noch einmal Stück für Stück durch – kein wirklich außerordentlicher Vorgang, sollte man meinen, doch leider hat man nicht immer das Gefühl, dass alle Künstler derart gewissenhaft vorgehen.

Zwar wissen wir leider nicht, wie das Werk geklungen hätte, wenn es nicht gründlich durchgearbeitet worden wäre, aber alles in allem muss man sagen: Es hat sich gelohnt. I Love You, Dude ist ein prächtiges, durchaus abwechslungsreiches Album geworden, oder wie Jence es formuliert: „Wir sind den Weg des ersten Albums konsequent weitergegangen, haben die Extreme herausgearbeitet.“ Da gibt es das stimmungsvoll verschleppte Housestücke („Stratosphere“), Indie-Pop („Circles“, „Forrest Gump“), Neunzigerjahre-Warp-Techno („Antibiotics), einen Titel mit Akustikgitarre und seufzender Frauenstimme, der irgendwie an Air erinnert („Just Gazin'“), ein Titel klingt, als hätten die frühen Daft Punk einen John-Carpenter-Soundtrack in die Mangel genommen („Miami Showdown“), ein anderer wie ein Discosong mit Mönchschor („Encore“). Sollte alles eigentlich nicht so richtig zusammenpassen, aber weil es doch passt, dürfte einem weiteren Zuwachs des Ruhms nichts im Wege stehen.

Andererseits: Digitalisms Ruhm ist eigentlich schon ziemlich global. Japan, Europa und auch Amerika – was, wie Isi vermutet, vor allem an David Guetta liegt: „Man muss es nicht mögen, aber ein Dankeschön geht an David Guetta, weil er mit seiner Musik Aufmerksamkeit für andere elektronische Musik geschaffen hat.“ Es könne aber auch an dem bemerkenswerten Wandel der Black Eyed Peas gelegen haben, gibt Jence zu bedenken, was aber, wie jeder Gedanke, in dem die Black Eyed Peas vorkommen, kein schöner Gedanke ist. Schnell wendet man sich dringenderen Themen zu. Wie schafft man es als aufstrebender Elektronik-Act, weiterhin in kleineren Hallen und Clubs spielen zu dürfen, wenn man auch genug Publikum für die größeren hat? Wie erklärt man es seinem Agenten? Und wer hält die Preise niedrig? „Da achten wir selbst darauf, dass wir nicht zu viel Geld kriegen“, sagt Jence, „sonst ist der Eintritt zu hoch, und das ist immer ein Killer.“ Wenn Digitalism in einem kleinen Club spielten und die Leute müssten zwanzig Euro zahlen, dann sei das einfach assig. Und dann erzählt Isi noch empört, dass er kürzlich mit seiner Freundin im Kino gewesen sei und 29 Euro bezahlt habe. Was sie sich angeschaut haben? „Thor 3D“ Und? „Ich fand den Film gut, aber ich hätte ihn auch zu Hause sehen können.“ Und das, obwohl Digitalism demnächst wieder 265 Tage unterwegs sein werden.

Die CD, die dieser Ausgabe beiliegt, ist eine absolute Novität: Exklusiv für Musikexpress haben Digitalism einen zehn Tracks starken und 43 Minuten langen DJ-Mix erstellt – mit teilweise raren Remixen und Edits. Die Digitalism-CD markiert den Beginn unserer Serie „In The Mix“, die wir in unregelmäßigen Abständen fortsetzen werden.