Die Energie der Provinz
Popmusik in Deutschland entsteht dezentral. Jenseits von Berlin, fern von Hamburg setzt gerade die Enge von kleineren Städten jene Kräfte frei, die zu neuen Bands führen. Weil so mit den Verhältnissen abgerechnet wird? Eine Feldforschung mit Turbostaat, Beat! Beat! Beat! und den Jolly Goods.
Turbostaat
Der Rückzugsort liegt direkt am Wasser. Ein Musikzentrum auf dem Gelände der ehemaligen „Freiheit“-Kaserne in Schleswig. Proberaum, Schlafraum und ein zünftiger Grill. „Da kann man über den kleinen Strand direkt in die Schlei reinlaufen. Was aber nicht so oft vorkommt“, sagt Tobert. Gemeinsam mit seiner Band ist der Bassist von Turbostaat mal wieder unterwegs. Ziel ist das große Sziget-Festival in Budapest, mit Zwischenstation in Cottbus, wo sie in einer Kneipe mit Sandfußboden sitzen und Backgammon spielen. Aus den Boxen klingen abwechselnd Robert Johnson und Johnny Cash; handfeste Charaktere einer US-amerikanischen Straßenmusik. „Sich den Arsch abspielen ist heute für nahezu jede Band die Währung. Überall und so viel wie möglich“, versichert er.
Seit 1999 sind Turbostaat aus Flensburg ohne Umbesetzung unterwegs. Sänger Jan Windmeier, die Gitarristen Marten Ebsen und Rotze Santos, Bassist Tobert Knopp sowie Schlagzeuger Peter Carstens, die sich bereits aus ihrer Zeit mit diversen Vorgängerbands aus dem Jugendzentrum kennen. Vier Alben, auf denen immer wieder mit einem maritimen Bezug gespielt wird. Der Norden als Leuchtfeuer. Das 2007er-Album heißt (wie der Seenotkreuzer) Vormann Leiss, 2010 wird in „Fraukes Ende“ eine Mutter besungen, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt und nach altfriesischem Brauch ins Meer getragen wird. Keine blöde Küstenromantik, sondern eine tragisch-verquere Liebesgeschichte. Eine atmosphärische Schwere, die ihre Songs einzigartig hält. Auf diese Weise macht das sonst keiner. Turbostaat haben komplexe Rhythmen im traditionellen Punkbetrieb etabliert. „Diese Grundstimmung prägt unseren Sound bis heute und ist gerade wieder ein Thema, da wir mit einer neuen Platte anfangen. Dieses Ursprüngliche und unsere Auffassung von Kargheit haben sicher damit zu tun. Man spielte früher in Bands, weil man raus wollte. Ich selbst lebe seit einigen Jahren in Hamburg und unser Gitarrist Marten ist gerade der Liebe wegen nach Berlin gezogen. Doch auch wenn dieser natürliche Einfluss mit der Zeit verschwindet, können wir uns bei allen internen Unterschieden mit diesem norddeutschen Punk-Ding identifizieren.“
Manchester, Seattle, Portland, Oregon oder eben Nordfriesland. Die Popmusik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ihre regionalen Identitäten gesucht. Und diese lagen oft genug außerhalb der großen Metropolen des Showbusiness, wo diese Strömungen aufgegriffen und industriell vermarktet werden. Doch die Zeiten, in denen Sheffield mit britischer Industrial-Electronic oder das bayerische Weilheim mit den vertrackten Entwürfen von The Notwist und Co verbunden wurden, scheinen passé. Im Internet funktioniert Pop auch ohne Orte.
Dennoch wirkt die Provinz als stetige Quelle für neue Bands. Gerade im bundesrepublikanischen Deutschland, wo „Delmenhorst“ (Element Of Crime) und „Dorfpunks“ (Rocko Schamoni) oft genug präsenter sind als die neuesten Trends aus dem Gravitationszentrum Berlin. Die Punkband The Members rotzte einst mit der Energie der brennenden Langeweile „The Sound Of The Suburbs“ auf die Clubbühnen. Eine Energie, die sich heute eigene Wege suchen muss, da im Gegensatz zur elektronischen Musik im Pop- und Rockbereich kaum noch einflussreiche Labels zu finden sind, die ihre Stärken in einem regionalen Programm haben. Das gilt für Newcomer genauso wie für gestandene Haudegen.
Für Tobert von Turbostaat wirkt die Zeit in Flensburg, wo alle mal gewohnt haben, heute wie eine Ursuppe: „Bei uns oben fangen die meisten mit Punk an, vielleicht noch Metal. Man hängt dann fast zwangsläufig zusammen, was sicherlich auch mit Dosenbier zu tun hat. Daraus entwickelten sich verschiedene Bands. Deutsch-Punk, Straight Edge Hardcore, später vielleicht noch Emo; also Rumschreien als Kunstform. Doch vom Empfinden her war das alles eins. In der Volksküche hat immer irgendjemand gekocht, und dann ging es geschlossen auf die Konzerte. Für verschiedene Subkulturen reichte das gar nicht.“
Turbostaat emanzipierten sich recht bald von frühen Stimmungshymnen wie „Blau an der Küste“. Die treue Live-Gemeinde folgte ihnen bei komplexeren Songs, die Punk auch mal mit unrunden Rhythmen oder gar per Drumcomputer wie auf „Fünfwürstchengriff“ interpretierte. Bis zum vergangenen Jahr waren Turbostaat über ein Sublabel bei Warner Music unter Vertrag. Trotz stabiler Live-Leistungen hat sich das Major-Modell insgesamt nicht gerechnet. Doch kein Verzagen, Weitermachen bleibt die oberste Priorität. „Halb so wild, kein böses Blut. Jetzt wissen wir halt, dass es komisch ist, mit Gitarren um den Hals in irgendwelchen Videos rumzuhüpfen, die nichts bringen. Es gibt eh kein Musikfernsehen mehr. Nach meinem Geschmack haben wir gar nicht so wenige Platten verkauft. Doch dieses ganze Modell funktioniert für mittlere Bands nicht mehr, was weder an der Musik liegt noch an den reinen Verkaufszahlen. Wir kommen ja bestens klar. Nur ist dieses Vermarktungsmodell überholt, wo das Video-Catering teurer ist als das Video selbst.“
Während die musikalischen Strukturen innerhalb des Punk-Rahmens immer komplexer und die Texte verquerer und metaphorischer wurden, hat sich ihre norddeutsche Aura stets gehalten: „Gerade die Weggezogenen haben eine geradezu pathetische Romantik für ihre Heimat entwickelt“, sagt Knopp. „Wenn Turbostaat dabei weiterhin ihre mittlerweile etwas zerrissene Existenz auf den Punkt bringen können, bin ich sehr glücklich. Eine Platte, die klingt, als wären wir dabei ins Watt gegangen und gestorben, wäre großartig. Zwölf Songs, die genau diese Stimmung treffen: wie früher, das geile Gefühl! Das mag jetzt etwas sakral klingen und über allem hängt auch ein Damoklesschwert aus Vermarktung, Anspruch, Erfolg und diesem ganzen Mist. Doch wir sind zu unserem Glück gezwungen, schließlich haben wir nie etwas anderes gemacht. Und weniger Mittel und kaum Möglichkeiten sind für uns nicht die schlechtesten Voraussetzungen für gute Musik.“
Und so spielen Turbostaat aufgeteilt in vier, fünf Tourblöcke noch das ganze Jahr hindurch. Und im Januar, wenn es richtig kalt wird, kämpfen sie sich durch den Schnee in ein Häuschen in Nordfriesland. „Kamin anmachen und ’ne Platte aufnehmen“, sagt Torbert. „Das ist der Plan.“
Beat! Beat! Beat!
Joshua Gottmanns kann sich ein wohliges Grinsen nicht verkneifen. 700 Leute sind an diesem Abend ins Glashaus der Berliner Arena gekommen. „Statt draußen am Badeboot vor 300 Leuten zu spielen, ist diese viel größere Halle nun ausverkauft“, verkündet der Sänger von Beat! Beat! Beat! übers Bühnenmikrofon. „Es mussten sogar viele von euch weggeschickt werden. Sorry dafür, aber das ließ sich kaum absehen!“ Manchmal hat ein verregneter Sommer auch seine guten Seiten. Das Publikum ist jung, die Band auch. Am Eingang gab es Passkontrollen. Anfang Zwanzig sind Gottmanns, Gitarrist Moritz Leppers, Schlagzeuger Marius Lauber und Bassist Tim Gerke. Fast schon britische Verhältnisse – bereits in Schulzeiten sind Beat! Beat! Beat! aus Viersen am Niederrhein ins Indie-Business gestartet.
Mit einem stürmischen ersten Jugendheim-Auftritt 2008 wurden Vorgänger-Bands und Stilexperimente mit Noise oder Stoner Rock kurzerhand beendet. „Das war ein irrer Start mit Bühne stürmen, tanzen und Crowdsurfing; was dort eher selten vorkommt. Wir dachten nur:, Das könnte noch gut werden!'“ Schließlich würde das aktuelle „Kulturangebot“ im Großraum Mönchengladbach, erzählen sie, im Wesentlichen aus der klassischen Punk-Nummer, Hardcore und Metal bestehen. „Und wenn es um ganz andere Musik geht, ist man schnell bei House, und das bedeutet David Guetta.“ Doch die vier wollten sich nicht an die Genre-Standards halten.
Ein Start aus der örtlichen Rock-Kultur-Werkstatt (RKW) in die Clubs der Metropolen. Was einst programmatische Kleinlabels übernommen haben, lief nun über Myspace („als es noch funktionierte“): die Vernetzungs- und Überzeugungsarbeit für eine Band leisten, die zwischen Phoenix und The Strokes, Elektro-Pop, Gitarrengeschrammel und New New Wave oszilliert. Das funktionierte erstaunlich gut. „Fireworks“ von der Debüt-EP „Stars“ landete im Radio, das 2010er-Album Lightmares bringt den nächsten Schub. Die Single „We Are Waves“ wird zum viel geklickten Gitarren-Pophit. „Wir kommen aus diesem Siedlungsbrei in Nordrhein-Westfalen, wo weder richtig Stadt noch richtig Land ist. Eine Ecke, die in ihrer Mittelmäßigkeit versinkt. Deshalb war es komisch, dass wir am Anfang so viel Aufmerksamkeit dafür bekommen haben, dass wir vom Dorf kommen: Wie kann das sein, dass dort so eine Musik entsteht? Und noch dazu von 16-Jährigen“, erinnert sich Gitarrist Leppers an die Startphase. Mit Konzerten in den Ferien und unter strenger Beobachtung der Mitschüler mit den Slipknot-T-Shirts. „Obwohl wir die poppigste Musik von allen Bands dort gemacht haben, waren wir die eigentlichen Punks; weil die Kollegen sich streiten mussten, ob unser Sound und der entsprechende Look noch geht oder nicht. Dort konnte man mit engen Hosen richtig schocken“, sagt Joshua. Diese relative Isolation sei durchaus ein Vorteil gewesen. „Wir sind ja recht früh rausgekommen in andere Städte. Wieder zu Hause angekommen, war es gut, nicht von zig anderen Bands umgeben zu sein. Nicht nur das Arbeiten an neuen Songs verlief ruhiger und straighter. Ohne jeden Berlin- oder Hamburg-Hype.“
Wo also die prägendende Identität eines Labels fehlt, fällt diese Aufgabe in den künstlerischen Aufgabenbereich. Gerade in der Provinz, wo man nicht so leicht mit regionalen Soundverweisen oder Coolheitsfaktoren wuchern kann. Mit selbstverständlicher Abgeklärtheit haben Beat! Beat! Beat“ diesen Job einfach so mit übernommen, ohne dabei als Produkt rüberzukommen. Nachdenkliche Sonnyboys, die ihre Bandkasse in die nächste Aufnahme stecken. Sie versichern glaubhaft, dass ihnen klassische Karrieren bislang eher komisch vorkommen. Bei ihrem Berliner Sommerkonzert setzen sie auf Charme, Bühnenbewegung und vertrackte Arrangements, die auch live funktionieren. Warmer Applaus brandet ihnen entgegen. Eigentlich sind sie auf dem besten Weg in die Pop-Zukunft. Doch sie wissen auch, dass man trotz einem soliden Publikumszuspruch heute nicht mal eben zigtausende Platten verkauft. Das sagt ihnen schon allein die graue Normalität der Heimat. „Wir haben schon viele Bands daran scheitern gesehen, die noch fest an diesen alten Rock’n’Roll-Wahnsinn glaubten. Vom ersten Vorschuss ein Haus kaufen und so ein Quatsch“, sagt Joshua. „Ist der Prosieben-Singlehit heutzutage der Durchbruch? Für uns reicht es schon, eine nächste, selbst finanzierte Platte machen zu können.“ Und dafür bleibt Viersen der Heimathafen. Schließlich gibt es noch andere Lebensthemen, Studium und so. „Wir hoffen, alle in Nordrhein-Westfalen bleiben zu können. Dann bleibt unser Proberaum in Viersen-Dülken auf jeden Fall bestehen. Die Anbindung ist gar nicht schlecht, so direkt am Bahnhof. Und die Miete hält sich auch in Grenzen. Ein guter Treffpunkt zum Runterkommen.“
Beat! Beat! Beat! überlegen, für das nächste Album mit den nach Köln übersiedelten Elektro-Kollegen von Coma zu kooperieren, die dort ein kleines Studio betreiben. Planspiele, bei denen das Verhältnis zur Heimat neu justiert wird. „Wir sind gerade in einer Entschleunigungsphase und wollen auch nicht über tolle Deals mit irgendwelchen Majorlabels nachdenken. Wir ziehen uns zurück und machen einfach Musik. Schließlich konnten wir uns neues Equipment leisten und sind darauf sehr neugierig. Ich bin durchaus skeptisch, ob wir bis zum nächsten Sommer fertig sein werden“, sagt Joshua und blinzelt in die Sonne. „Das kann dauern. Wir werden von uns hören lassen.“ Aus Viersen am Niederrhein.
Jolly Goods
Der King Kong Club auf der Brunnenstraße ist eines dieser typischen Berliner Indie-Wohnzimmer. Eher freundlich unprätentiös als angestrengt hip. Funktionalität trifft auf allerlei abgerockten Nippes. Als Wandschmuck grüßt auf einem japanischen Plakat Motörheads Lemmy Kilmister. Vom Eingang stößt man auf eine lang gestreckte Bar mit schimmernden Bierkühlschränken, an deren Ende eine kleine DJ-Kanzel thront. Gegenüber verbreiten verschiedene Sofa-Ecken jene intime Atmosphäre, in der Lyrik und Slam Poetry genauso funktionieren wie die „Kosmonautendisco“. Auf der kleinen Bühne greift gerade die Wiener Singer/Songwriterin Vera Kropf in die Saiten ihrer Fender-Gitarre, während mitten im Publikum der improvisierte Background-Chor mit Jens Friebe und zwei Kolleginnen groovt. Ein Ort, an dem Popbiografien beginnen. Oder gemächlich vor sich hintuckern können.
Mit wenigen Handgriffen wird die Bühne umgebaut für die Jolly Goods. Tanja und Angy, zwei Schwestern aus dem südhessischen Rimbach, die am heutigen Abend ihr zweites Album Walrus vorstellen. Ihr schroffer Sound, der oft nur aus Gitarre, Gesang und Schlagzeug besteht, changiert mit den neuen Songs in eine sphärisch-trippige Aura. „Mehr Lied, weniger Haltung“, beschreiben die beiden durchaus selbstironisch ihren musikalischen Schwenk vom aufgewühlten Krawall der Anfangstage. Tanja sitzt am Elektro-Piano und versenkt sich mit geschlossenen Augen in die Texte. Keine Ansagen, kein direktes Wort ans Publikum. Die schwarze Bluse bis zum obersten Knopf geschlossen. The Jesus and Mary Chain lassen schön grüßen. Lockeres Entertainment jedenfalls ist ihre Sache nicht. Stattdessen eine Mischung aus Aggression und Schüchternheit. Die existenzielle Kraft des Punk, wie sie auch bei Poly Styrene von X-Ray Spex oder den Raincoats existierte. Man spürt: Die beiden wollen etwas. Und sei es, ihre Seele zu retten. Existenzmusik, die manchmal vibriert, wenn sich Tanjas sonore Stimme überschlägt. Ein stetiges Wechselspiel von innerer Unruhe, Zerrissenheit, Wut, und als Zugabe Elizabeth Cottons versöhnliche Folk-Ballade vom „Freight Train“. So könnte irgendwo in einem Poeten-Café im West Village der frühen Siebziger die junge Patti Smith geklungen haben. Und wer nun glaubt, es ginge um Gefühlsduselei, dem klatschen die Jolly Goods ihr „Girl Move Away From Here“ um die Ohren. Ein krachig-federnder Country-Punk-Song, der sie im selbst gefilmten Video auf einer schwarz-weißen Kuhwiese zeigt. Die Provinz wirkt hier wie ein Bösemacher. Als bliebe nichts anderes übrig, als sich an ihr abzuarbeiten.
„Ich glaube nicht, dass die Anfänge im Rimbacher Jugendzimmer noch sonderlich viel mit unserer Musik zu tun haben“, sagt Tanja mit einem gewissen Misstrauen. Eine 23-Jährige und eine 20-Jährige aus einer ländlichen Grauzone kämpfen sich durch. Da könnte, so fürchten sie, jeder biografische Hinweis zur Kitschgeschichte werden. „Der Ort ist eigentlich egal. Musik ist für uns eher ein Fluchtpunkt und entsteht gegen die Realität, wo immer wir auch sind.“
Dabei ist der musikalische Geist der Provinz ja durchaus greifbar, seit Mitte der 80er-Jahre die „Fast-Weltweit“-Compilation aus dem ostwestfälischen Raum die spätere „Hamburger Schule“ mit deutschsprachigen Songs und verqueren Reimen vorbereitet hatte. Jochen Distelmeyer, Frank Spilker, Bernd Begemann und Bernadette Hengst als frühe Protagonisten einer lockeren Songwriter-Gemeinschaft, die in ihren Anfängen eben nicht auf den popkulturellen Überfluss und die Einflüsse der Metropolen zurückgreifen konnte. Mit seinem Song „Bad Salzuflen – weltweit“ legte Begemann 1996 mit seiner These noch einmal nach, dass gerade die deutschsprachige Popmusik vom Beat der Provinz geprägt sei.
Die Jolly Goods bewegten sich komplett außerhalb solcher regionalen Netzwerke. „Wir wollten nie zu einer bestimmten Label-Familie gehören. Auch die regionalen Sub- oder Jugendkulturen haben uns nie sonderlich interessiert“, erzählen sie. „Unsere natürliche Umgebung war immer Tausende Kilometer entfernt. Punk, Riot Grrrls, Garage oder Shoegaze waren sicherlich Einflüsse, doch damit verbinden wir keine konkreten Szenen. Wir singen auf Englisch und haben uns auch nie über Treffpunkte in der Umgegend definiert. Es gab vereinzelte Auftritte in Mannheim oder Frankfurt, doch in Heidelberg haben wir erst gespielt, als Tanja schon in Berlin lebte. Eine Homebase gab es jedenfalls nicht.“
Bereits ihr erstes Album Her.Barium gelangte aus einem Studio in Darmstadt zum mittlerweile abgewickelten Berliner Indie-Label Louisville. Mit der Veröffentlichung Ende 2007 folgte dann Tanjas Umzug nach Berlin-Neukölln, während Angy noch zur Schule ging. „Wir sind oft genug gependelt und haben mal in Rimbach, mal in Berlin geprobt. Dieser persönliche Kontakt war immens wichtig. Das hätte nicht funktioniert, indem man irgendwelche Soundfiles übers Internet verschickt hätte.“ Das neue Album Walrus produzierte auf eigenen Wunsch Tocotronics Dirk von Lowtzow gemeinsam mit Hans Unstern, der schon beim ersten Album mit im Studio gewesen ist. „Der Titel passt zu uns“, sagt Schlagzeugerin Angy. „Ein Tier, das mal an Land, mal im Wasser lebt. Festgelegte Kategorien interessieren uns einfach nicht. Dirk und Hans haben uns dabei geholfen, eine ganz bestimmte Atmosphäre für unseren Songkatalog zu treffen. Große konzeptuelle Erklärungen uns gegenüber gab es nicht. Wir haben uns sofort verstanden und zusammen die Feinheiten erarbeitet.“
In ihrem Video „Try“ posiert ein glatzköpfiger Mann mit Make-up und hellblauem Minikleid für die Kamera. Ein selbst produziertes Statement über die Rollenverhältnisse im Popzirkus, die sie mit Verve ablehnen. Ihre Selbstbestimmung jenseits der üblichen Geschlechterrollen ist ihnen mehr wert als jede Verbindung zu regionalen Bezügen und Eigenheiten.
Albumkritik (Jolly Goods) S. 100