Die besten unbekannten Platten der 70er-Jahre
Kaum ein Jahrzehnt ist breiter aufgestellt als die 70er-Jahre. Punk & Funk. Weltmusik & Avantgarde. Disco & kristallklarer Pop. Und: Kaum ein Jahrzehnt ist besser ausgeleuchtet – oder? Irrtum! Wir haben 50 Schätze jenseits des etablierten Kanons gehoben.
Fela Kuti & Africa 70
ZOMBIE
(1977)
Für Afrika ist ZOMBIE vielleicht die einflussreichste Platte der 70er-Jahre. Und das wegen des gleichnamigen Songs. Der ist eine höllisch ansteckende, zwölfminütige Afrobeat-Raserei und vor allem politischer Sprengstoff. Denn so unermüdlich wie die treibenden Rhythmen und Lekan Animashauns Saxofonspiel ist die politische Message: Gerichtet war die Protesthymne zunächst gegen die „Zombie“-Soldaten der korrupten Regierung in Fela Kutis Heimat Nigeria, bahnte sich schließlich ihren Weg ins gesamtafrikanische Bewusstsein. Als Kuti das Stück 1978 bei einem Konzert in Accra, Ghana spielte, brachen Unruhen aus.
Annett Scheffel
Brigitte Fontaine & Areski Belkacem
VOUS ET NOUS
(1977)
Den Tönen Raum lassen. So funktionierte es, dass die multitalentierten Künstler Brigitte Fontaine und Areski Belkacem sich gemeinsam durch die 70er-Jahre experimentieren konnten, ohne dass sie einem damit auf die Nerven gingen. VOUS ET NOUS scheint mit 33 Tracks, Chansons, Tänzen, Meditationen fast hoffnungslos überambitioniert. Aber das Duo bewegt sich so bedächtig durch diese Welt, in der sich beschwörende Gesänge, blubbernde Synthesizer und Piano, nordafrikanische und osteuropäische Harmonik und Percussion begegnen wie in einer Oase, dass man selbst auch immer aufmerksamer und dankbarer wird.
Oliver Götz
The Congos
HEART OF THE CONGOS
(1977)
Man muss Mick Hucknall nicht für viel danken – bestimmt aber für den Re-Release des 1977 untergegangenen Debüts der Congos auf seinem „Blood And Fire“-Label 1996. Produzent Lee „Scratch“ Perry führt einen unter dicke Soundschichten ins jamaikanische Unterholz. Dort trifft Cedric Mytons wendiges Falsetto auf den Tenor von Perrys Schulfreund Roy Johnson. Die Texte widmen sich zwar den Klischees des Genres – preisen Jah, fordern die Zerstörung Babylons –, aber erstens verhandelt Popmusik auch immer gleiche Topoi und zweitens bestimmt die jenseitige Atmosphäre dieses Meisterwerk des Roots-Reggae.
Stephan Rehm
Ian Dury
NEW BOOTS AND PANTIES!!
(1977)
Trotz frühen Auftritts im „Rockpalast“: Ian Dury hat hierzulande nie die anhaltende Anerkennung gefunden, die der Cockney-Rock’n’Roller schon allein für so viel Typ-Sein verdient hätte. Auch hier liegt der Grund wohl wieder in der Uneindeutigkeit von Musik, Text, Image. Seine Debütplatte kehrt den Dreck vom Punk nebenbei mit auf, es steckt aber auch noch ordentlich Pubrock-Mief darin, Funk und Disco stehen in keinem Widerspruch zu gar nichts, nicht einmal zu Durys offen gehegter Liebe zu alter Varieté-Musik und Gene Vincent. „Endlich haben die Gören aus den Sozialwohnungsblocks ihre Stimme gefunden“, jubelte Vivien Goldman in ihrer Kritik: „Eine Stimme, die für die Leute spricht, von ihnen und über sie erzählt.“ Meint: NEW BOOTS AND PANTIES!! ist eine durch und durch wahrhaftige Platte.
Oliver Götz
Liliental
LILIENTAL
(1978)
Interessante Zwischenstation der bundesdeutschen Krautrock-Geschichte: Dieter Moebius rief dieses Nebenprojekt 1976 ins Leben. Mit Alto Pappert, Helmut Hattler, Asmus Tietchen und Okko Bekker, die allesamt eher an den Schnittstellen von Jazz und Rock agierten als im Elektronikbereich, nahm er in Conny Planks legendärem, technisch hochgerüstetem Studio-Wunderland ein einziges Album auf. Wunderbar deutlich strahlt hier der Experimentierwillen der Zeit: eine weirde Mischung aus Jazz-Jamsession, Ambient-Meditation, Synthie-Loops und kosmischem Geheule. Schunkelmusik für Elektro-Nerds!
Annett Scheffel
Wire
CHAIRS MISSING
(1978)
Beim Hören vom Wire-Debüt PINK FLAG (1977) fühlt man sich wie ein Sechsjähriger, der eine Nacht im Spielzeugladen eingeschlossen wird. Alles mal anpacken! Und dann sofort weiter zum Nächsten. CHAIRS MISSING ist die erste feinere Ausarbeitung des Wire-Konzepts. Die Band ergänzt den Sound um Keyboards, die Stimmung wird noch gespenstischer, manischer. Das Lachen auf „Practice Makes Perfect“ macht Angst, aber Wire scheuen auch die Schönheit nicht: „French Film Blurred“ klingt beinahe sanft, „Outdoor Miner“ wie ein 60s-Hit, dem jemand die Postmoderne beigebracht hat. Heute sagt man Indie-Pop dazu. Auch auf der Platte: das obercoole „I Am The Fly“.
André Boße
Black Devil
DISCO CLUB
(1978)
Ein Vierteljahrhundert lang setzte die 6-Track-EP des französischen Produzenten Bernard Fevre in wenigen Plattensammlungen Staub an, bis der bei Aphex Twins Rephlex-Label gesignte Künstler P.P. Roy ein Exemplar der Platte für 25 Cent auf einem Flohmarkt erstand, seinem Chef brachte, der sie dann vor begeistertem Publikum auflegte und 2004 wiederveröffentlichte. Szenebeobachter hielten die Story so lange für einen Schwindel – zu gut passte diese Musik in die mittleren Nullerjahre –, bis Fevre sich zurückmeldete und neue Musik herausbrachte, darunter 2011 ein Album mit Gastbeiträgen von Nancy Sinatra über Yacht und Afrika Bambaataa bis hin zu Jon Spencer. Doch nichts löste je wieder die düstere Faszination seiner Debüt-EP aus, dieses giftigen Underground-Mix aus New Wave und schnell pulsierendem Synthie-Pop.
Stephan Rehm