Die besten unbekannten Platten der 70er-Jahre
Kaum ein Jahrzehnt ist breiter aufgestellt als die 70er-Jahre. Punk & Funk. Weltmusik & Avantgarde. Disco & kristallklarer Pop. Und: Kaum ein Jahrzehnt ist besser ausgeleuchtet – oder? Irrtum! Wir haben 50 Schätze jenseits des etablierten Kanons gehoben.
Annette Peacock
I’M THE ONE
(1972)
1972 hatte Annette Peacock bereits seitenweise an der Avantgarde-Geschichte der 60er mitgeschrieben – mit Albert Ayler, Don Cherry, Paul Bley, Robert Wyatt musiziert, mit Moog-Synthesizer, Stimmenverfremdung und Rap experimentiert, da staunte die Welt noch den Beatles hinterher. So kommt auf I’M THE ONE einiges zusammen. Peacocks Gesangsstil dehnt die Grenzen des Blues unermüdlich aus, die fließenden Kompositionen lassen sich zwischen Groove-Jams, Artpop, Proto-Prog und Jazz höchstens für Momente festschreiben. Anstrengende Musik? Nur so lange man das glaubt.
Oliver Götz
Todd Rundgren
SOMETHING/ANYTHING?
(1972)
Sein drittes Album zeigt den schmächtigen Mann aus Pennsylvania als Komplettkünstler und liefert damit eine Vorausschau auf seine späteren Arbeiten – so hören wir auf der vierten Seite Moogy Klingman, mit dem Rundgren später die Band Utopia gründen wird. Doch noch spielt Rundgren stets in alle Richtungen blickenden Breitwand-Pop, bei dem man nicht glauben mag, dass er aus einem Kopf, aus einer Hand kommt. Interessant ist die Struktur des Albums: drei Seiten, die Rundgren alleine aufnahm, schließt sich eine Art Mini-Rockoper an. Schlimmes Wort, tolle Platte, deren bester Song „Wolfman Jack“ ist.
Jochen Overbeck
Amnesty
FREE YOUR MIND
(1973)
Nimmt man es ganz genau, ist FREE YOUR MIND gar keine 70er-Platte – nur zwei Songs dieses unfassbar guten Killer-Albums erschienen 1973 auf vergessenen 45er-Singles, erst die Edelsteinchen-Schürfer von Stones Throw Records bannten die Songs 2007 endlich auf Platte – und dann ist sie es wiederum doch. Aber so was von! Die Band aus Indianapolis zauberte in diese Songs so viel Groove, Blechbläser-Wucht und Experimentierwillen hinein, als hätte sie das Jahrzehnt mit ihrer wahnsinnig komplexen Stil-Verschmelzung auf die Spitze treiben wollen. Man muss sich das vorstellen wie einen P-Funk-Klassiker, nur um ein Dutzend Ebenen erweitert: Wir hören warmen, fließenden Soul, mächtigen Funk-Groove, Doo-Wop-Gesangsharmonien wie bei den Temptations, Spuren von Afrobeats und die freigeistige Energie von Prog Rock.
Annett Scheffel
Cymande
CYMANDE
(1973)
Ein Traum für alle Plünderer: Die Musik des in London gegründeten Afro-Calypso-Funk-Kollektivs Cymande steckt dermaßen voller cooler Grooves, Gesänge und Hooks, dass kein Samplefuchs der Welt die LP in der Grabbelkiste stehen lassen kann. De La Soul zum Beispiel sampelten auf ihrem Debüt das Cymande-Stück „Bra“ in „Change In Speak“. Eine gute Wahl, denn „Bra“ ist unter den vielen mitreißenden Nummern des Cymande-Debüts die infektiöseste. Kritischen Geistern mag es bei ethnologischen Verwicklungen wie „Zion I“ oder dem „Rastafari Folk Song“ etwas flau im Magen werden, aber wenn diese Männer aus aller Welt ihre Choräle anstimmen und die formidable Band zum virtuosen Eine-Welt-Funk aufspielt, sitzen wir alle in einem Boot. Seit Kurzem gibt es die Band wieder, deutlich gealtert, aber nicht gerostet. Unbedingt live ansehen!
André Boße
Roy Wood
BOULDERS
(1973)
Nahezu alles hat Roy Wood auf seinem Solodebüt selbst gemacht – komponiert, arrangiert, zwei Dutzend Instrumente eingespielt, gesungen, sogar das Selbstporträt auf dem Cover stammt vom Move- und ELO-Mitbegründer. Schon nach ein paar Takten begreift man, warum der Beatles-Jünger zu den großen Poperneuerern der 70er gezählt werden muss – und doch nicht die gebührende Anerkennung fand: BOULDERS sprüht vor Fantasie und Witz, es gibt Spector-Gebrassel, Countryglühen, Flöten-Folk, Chipmunks-Chöre, Kammerpop, Boogie. Es liegt also eine eindeutige Verletzung der ollen Popregel „Treib es nicht zu bunt!“ vor.
Oliver Götz
Sparks
A WOOFER IN TWEETER’S CLOTHING
(1973)
Zu Zeiten ihres zweiten Albums galten die Sparks noch als Bande Glamrock-Quereinsteiger aus L.A. In Wahrheit versahen die Mael-Brüder und ihre Mitarbeiter ihr Werk da schon gewagter, vielschichtiger, eleganter als das Gros der Plateausohlen-Stampfer aus „Top Of The Pops“. Die Chuzpe der Single „Girl Form Germany“ bleibt ewig hinreißend, die Operetten-Rock-Karussellfahrten machen bis heute schwindelig, ihre Varieté-Anwandlungen prickeln unaufhörlich. Das Album spielt fast jede erdenkliche Facette von Glam durch und nimmt drei Jahre vor Punk nebenbei auch noch den Postpunk vorweg.
Oliver Götz
Jane Birkin
DI DOO DAH
(1973)
Jane Birkin selbst hat einmal gesagt, sie sei ein unvollkommener Mensch gewesen, der vollkommene Lieder gesungen habe. Vielleicht macht gerade das den Charme ihres Solodebüts aus: Lover und Maestro Serge Gainsbourg komponierte ihr so geistreiche wie lüsterne Chansons (wie bei HISTOIRE DE MELODY NELSON arbeite er mit Jean-Claude Vannier an der üppig orchestrierten, wahnsinnig erotischen Mischung aus Jazz, Soft-Rock und Symphonie). Und Birkin hauchte mit Flüsterstimmchen jede Zeile dahin wie ein schlüpfriges Geheimnis. So viel Lust und Liebeseifer, konzentriert in einzelnen Popsongs, hört man selten.
Annett Scheffel
Tim Maia
RACIONAL 1 & 2
(1974)
Tim Maia brachte zur Zeit der rigiden Militärdiktatur den Soul nach Brasilien und wurde dafür von den Menschen geliebt. Nach vier Erfolgsalben in Folge stieß der für seine Exzesse berüchtigte Maia während der Aufnahmen zu seinem ambitioniertesten Projekt, das Funk und Rock mit Samba und brasilianischer Volksmusik vermählen sollte, auf ein Exemplar des Buchs „Universo em Desencanto“, schloss sich dem Racional-Kult an und schrieb Texte, die davon erzählten, dass man enthaltsam leben müsse, wenn man wieder von den Außerirdischen abgeholt werden wolle. Die Plattenfirma weigerte sich, die Aufnahmen zu veröffentlichen, weshalb Maia seine beiden besten Platten in minimaler Auflage selbst auf den Markt brachte. Unerreichter Kult. „O Caminho Do Bem“ wurde 2002 zum Szenehit, als Fernando Mereilles den Song auf dem Soundtrack von „Cidade de Deus“ unterbrachte.
Chris Weiß
Gene Clark
NO OTHER
(1974)
NO OTHER war einer der größten Flops der 70er. Nachdem Gene Clark die Byrds verlassen hatte, suchte er den Erfolg – fand ihn aber nicht. NO OTHER sollte sein Meisterwerk werden, ein Album, das so golden klingt, dass es nicht wie Blei in den Läden liegen bleibt. Golden ist es geworden. Gekauft hat es wieder keiner. Was wohl daran liegt, dass Clark gerne komplex denkt und nicht die stabilste Seele hatte. „Some Misunderstanding“ heißt eines der besten Lieder. Auch sein Lebensmotto. Eine sehnsuchtsvollere Musik als auf NO OTHER ist kaum vorstellbar, vor allem „Strength Of Strings“ ist makellos, perfekt – und wohl auch zu schlau für diese Welt.
Andre Boße
Erkin Koray
ELEKTRONIK TÜRKÜLER
(1974)
Erkin Koray war in seiner Heimat längst ein Superstar, der Mann, der die Rockmusik nach Anatolien brachte, als er sich an sein ultimatives Statement wagte. Und sein Meisterwerk. Bei ELEKTRONIK TÜRKÜLER, also „Elektronische Balladen“, hatte Koray erstmals freie Hand bei der Verwirklichung seiner Vision, traditionelle Formen anatolischer Musik mit modernem Rock auszusöhnen. Drei instrumentale Eigenkompositionen erlauben es Koray, sich als Gitarrist zu strecken, aber den Schwerpunkt bilden seine Versionen teilweise jahrhundertealter Volkslieder, die das realisieren, was Led Zeppelin mit „Kashmir“ gerne erreicht hätten.
Chris Weiß
Nico
THE END
(1974)
Es wird gerne vergessen, dass wir Warhol nicht nur das epochale Debüt von The Velvet Underground & Nico zu verdanken haben, er hat dadurch auch die weitere Gesangskarriere dieser umstrittenen Künstlerin angeschoben. Erfolgreich im landläufigen Sinne konnte sie mit Alben wie THE END freilich nicht werden. Produziert von John Cale, durchzogen von geisterhaften Sounds, an denen Brian Eno mitspukte, schallt überm ewigen Harmonium Nicos überakzentuierter Alt-Gesang durch ein Album, das sich in jede Richtung in Dunkelheit verliert. Covers: „The End“ (The Doors) und „Das Lied der Deutschen“ – alle Strophen.
Oliver Götz
Chris Bell
I AM THE COSMOS
(1974/75)
Posthum veröffentlicht, trotzdem in dieser Liste am richtigen Platz. Chris Bell, der ewige Zweite bei Big Star, als zerrissener Schmerzbruder, der auf dem Albumcover fast verschwindet zwischen den Bergen, im Denim seiner Jacke. Der Titeltrack und „You And Your Sister“ dürften bekannt sein, auch die Beschäftigung mit dem weiteren Material lohnt. Songs wie „Got Kinda Lost“ klingen kraftvoll, vermeiden aber jede Breitbeinigkeit, während in „Look Up“ die späten Beatles durchscheinen. Bevor Chris Stameys (The dB‘s) Car Records das Album veröffentlichen konnte – überall sonst lehnte man den Trauersound dankend ab –, starb Bell bei einem Autounfall.
Jochen Overbeck