Die besten unbekannten Platten der 70er-Jahre
Kaum ein Jahrzehnt ist breiter aufgestellt als die 70er-Jahre. Punk & Funk. Weltmusik & Avantgarde. Disco & kristallklarer Pop. Und: Kaum ein Jahrzehnt ist besser ausgeleuchtet – oder? Irrtum! Wir haben 50 Schätze jenseits des etablierten Kanons gehoben.
+++ Wer mehr über die 70er erfahren will, widme sich der Musikexpress-Ausgabe 10/2020 inklusive großem 70er-Special und einem Buch über 140 Lieblingsplatten aus den 70ern. Eine Podcast-Folge dazu haben wir auch produziert. +++
Paul Williams
SOMEBODY MAN
(1970)
Songwriter Paul Williams steckt hinter Liedern wie David Bowies „Fill Your Heart“ oder „Rainy Days And Mondays“ von den Carpenters. Der Mann arbeitete als Akkordschreiber, behielt aber seinen Glauben, auch selbst Popstar werden zu können. Ein Wunschdenken, denn selbst Williams’ erste und beste eigene Platte ging unter. Eine Schande! Elegant pendelt Williams zwischen softem Rock und opulentem Pop. Nie kann er sich entscheiden, das war damals ein Problem. Heute wissen wir: Anrührendere Songs als „Time“ sind kaum vorstellbar. Daft Punk haben das erkannt – und Williams für ihr letztes Album als Texter und Sänger engagiert.
André Boße
Rodriguez
COLD FACT
(1970)
Rodriguez baute in Detroit Häuser und hatte keine Ahnung, dass ihn die Südafrikaner als verstorbenen Superstar verehrten. Große Augen auf beiden Seiten, als man sich gegenseitig kennenlernte, ein toller Film erzählt davon. COLD FACT ist das Album, das den Boom auslöste – und das in den USA keinen interessierte. Rodriguez spielt eine psychedelische Variante von Dylan, oder eben eine Folk-Version von Hendrix. Die Dealer-Ode „Sugar Man“ ist sein bekanntester Song. Rodriguez singt aber auch über politische Missstände, die Südafrikaner lernten diese Lieder im Apartheidstaat auswendig. Rodriguez, hidden Champion der Globalisierung.
André Boße
Tim Buckley
STARSAILOR
(1970)
Was kann Tim Buckley dafür, dass sich viele Jahre später eine der übelsten Britpopbands nach diesema Album benannte? Der Mann hatte Anfang der 70er bereits eine Serie mit fünf brillanten Platten vorgelegt, sein Tempo war atemberaubend. Angefangen hatte er als sensibler Songwriter, der in opulent arrangierten Songs über das Meer und die Berge sang. STARSAILOR will davon nichts mehr wissen. Zwar grinst Buckley lieblich vom Cover, doch das Stück „Come Here Woman“ ist vergleichbar mit der Art Anti-Pop, den Scott Walker heute spielt. Jazz, Dadaismus, Avantgarde – und mittendrin der atemberaubende „Song To The Siren“. Nicht von dieser Welt.
André Boße
Comus
FIRST UTTERANCE
(1971)
Selbst in den an abwegiger Musik nicht armen frühen 70er-Jahren sind Comus eine Aberration, eine britische Folkband fernab der ätherischen Leichtigkeit tonangebender Bands wie Fairport Convention, die auf ihrem ersten Album klingt wie keine Gruppe davor. Oder danach. Oder überhaupt. Wenn der Okkultschocker „The Wicker Man“ Albträume hätte, könnte er wohl klingen wie dieser Trupp versprengter Velvet-Underground-Fans aus Bromley: Musik am Rande des Nervenzusammenbruchs: kratzend, zergelnd, schniefend, bedrohend, heidnisch und immer wieder von bestechender Schönheit. Begleitet von einem von Bandleader Roger Wootton mit Kugelschreiber gezeichneten Foldout-Cover mit einer sich in Schmerzen windenden Kreatur, lotet FIRST UTTERANCE Untiefen aus, die einem den Verstand rauben. Bowie war ein Fan. Guter Bowie.
Chris Weiß
Gil Scott-Heron
PIECES OF MAN
(1971)
Hört man sich diese Platte an, meint man, Scott-Heron hätte einen guten Teil von dem, was wir heute unter Black Music verstehen, im Alleingang erfunden. PIECES OF A MAN ist unter vielen guten Platten sein großes, vor Energie glühendes Meisterwerk: eine furiose Mischung aus Jazz und Funk, Poesie und Anti-Establishment-Protest. Nicht nur wegen des berühmten Eröffnungsstücks, des rasenden Proto-Raps „The Revolution Will Not Be Televised“. Erst danach („Home is Where The Hatred Is“, „Or Down You Fall“) wird er vom Spoken-Word- zum Soul-Man, der sich mit den Großen – Sly, Marvin, Curtis – messen kann.
Annett Scheffel
Judee Sill
JUDEE SILL
(1971)
Drogen, Prostitution und Gefängnis hatte sie hinter sich und sich emanzipiert von Aushilfs-Jobs im Showbiz: So nahm die kalifornische Konvertitin Judee Sill mit Mitte 20 ihr Debüt auf. Musik, die, obwohl dem Folk versprochen, bis auf Johann Sebastian Bach verweist, über den Gospel zum Soul findet und sogar die Panorama-Schönheit der Carpenters hinkriegt. Ein Juwel der Arrangierkunst, das sich doch nie abwendet von Judees Gitarre und ihrer nach purer Schönheit strebenden Stimme. Ihre Botschaft ist die frohe Botschaft, ohne dass ihre Texte naiv wären. Rettung gab es für Judee Sill jedoch nicht: Mit 35 starb sie an einer Überdosis.
Oliver Götz
https://www.youtube.com/watch?v=CtaZKPRyhro
Bill Fay
TIME OF THE LAST PERSECUTION
(1971)
Vor vier Jahren tauchte der spirituelle 70s-Sänger wie aus dem Nichts wieder auf, und plötzlich erkannten wir, wo Spiritualized ihre religiös aufgeladenen Mantras geklaut hatten. Bill Fays zweites Album behandelt die großen Themen: Christ und Antichrist, Glaube und Ketzerei. Doch man darf sich nicht täuschen lassen, Fay ist kein Spinner, kein Evangelikaler. Seine Stärke ist es, biblische Sprache auf die Themen des Tages herunterzubrechen, im Titelsong zum Beispiel auf das Kent-State-Massaker, bei dem auf einer Anti-Vietnamkriegs-Demo vier Studenten erschossen wurden. Fay gegen Nixon. Gut gegen Böse.
André Boße
The New Rotary Connection
HEY LOVE
(1971)
Zwischen 1967 und 1971 veröffentlichten Rotary Connection aus Chicago fünf Alben engelsgleicher Kammer-Rockmusik, deren zunehmend theatralischer Breitwandsound damals als effekthascherischer Pampf abgetan wurde. Erst später wurde die Gruppe um Minnie Riperton von der Acid-Jazz-Szene gebührend als visionärer Act gefeiert, der die Leerstellen zwischen David Axelrod und Eugene McDaniels ausfüllt. Das beste Album ist das letzte, nicht zuletzt weil es „I Am The Black Gold Of The Sun“ enthält, unsterblich gemacht in der Version von Masters At Work.
Chris Weiß
Kevin Ayers
WHATEVERSHEBRINGSWESING
(1971)
Für sein drittes Soloalbum steigt der Soft-Machine-Gründer vom Prog-Rock-Gipfel herab, macht es sich in einer Talhütte gemütlich und reflektiert. Als Erzählform wählt er die orchestrale, psychedelisierte Ballade. Nur für den Riffrocker „Stranger In Blue Suede Shoes“ – Blaupause für die Dandy Warhols – verschlägt es ihn in die nächste Bar. Unterstützt von Mitgliedern seiner Backingband The Whole World, von den Spacerockern Gong, seinem Soft-Machine-Kollegen Robert Wyatt und Mike Oldfields Ratatat-Gitarre bringt Ayers nichts aus der Ruhe: nicht mal die Marschmusik, die „Champagne Cowboy Blues“ überrumpelt.
Stephan Rehm
Pan & Regaliz
PAN & REGALIZ
(1971)
Wenn man miterleben will, wie gestandene Plattensammler aus dem Mund zu tropfen beginnen, muss man ihnen eine Originalpressung des einzigen Albums von Pan & Regaliz unter die Nase halten. Nicht nur, weil die während des Franco-Regimes veröffentlichte Platte nur in einer verschwindend kleinen Auflage gepresst wurde, sondern auch, weil die Musik so gut wie eigenwillig ist. Den handelsüblichen Bombast gängiger Progressivacts der Ära ersetzt die kurzlebige Gruppe aus Barcelona mit sparsam instrumentiertem Sound, der von seinem treibenden, mit Jazzrock flirtendem Groove lebt. Und einer entmenscht über den Songs surfenden Flöte, die Pan & Regaliz entrückter wirken lässt, als es die simplen Songs vermuten ließen: „Waiting In The Monster’s Garden“ ist der große Track – Psychedelic-Funk nicht von dieser Welt.
Chris Weiß
The O’Jays
BACK STABBERS
(1972)
Kennt eigentlich noch jemand den Begriff Phillysound? Der gehypte Soul-Ableger aus Philadelphia flutete damals eine junge Erfindung namens Diskothek. Und wurde schnell wieder vergessen. Vielleicht, weil es vor allem die Clubkids in Paillettenschlaghosen und Plateauschuhen waren, die seinen Grooves verfielen – und die mit den Jahren Diskos gegen Doppelhaushälften eintauschten. BACK STABBERS spiegelt das Gefühl einer Generation wider, die mancher Millennial für die Verweichlichung der Menschheit halten könnte, so goldig und funky hat es geklungen, als der Grundstein für Disco und moderne Popmusik gelegt wurde.
Jördis Hagemeier
Curt Boettcher
THERE’S AN INNOCENT FACE
(1972)
Anfang der 70er-Jahre hatten sich für Curt Boettcher die Paradigmen verschoben. Die Zeiten, in denen er als Produzent galt, den man in einem Atemzug mit Terry Melcher und Brian Wilson nannte, waren vorbei, seine feingeistigen Psychedelic-Fingerübungen mit The Millennium und Sagittarius erfolglos geblieben. Auch THERE’S AN INNOCENT FACE rauschte mit seinen radiofreundlichen Melodien zwischen Softrock, Country und Sunshine Pop an allen Möglichkeiten vorbei. Schade, denn seine Kernkompetenz – das hypersorgfältige, vielschichtige, blankpolierte Arrangement – trägt das Album durchaus.
Jochen Overbeck