Die Atlantis Story


1.Teil:

„…endlich in England!“

Als ich vor einigen Monaten zum ersten Mal davon hörte, dass Atlantis auf England-Tournee gehen würde, da schossen gleich die wildesten Fantasien durch meinen Kopf: Deutsch-Rock rolls over Britain, Inga auf der Titelseite des ‚Melody Maker‘, ‚Rock’n‘ Roll Preacher‘ in allen Hitparaden usw. Nun, Focus aus dem kleinen Land Holland hatten gerade ihren ganz grossen Coup gelandet, sie hatten Englands und Amerikas Hitlisten im Sturm genommen. Ich wusste sehr wohl, dass Focus bereits mehr als einmal über britische Bühnen gerollt war, bis schliesslich der grosse Durchbruch kam, aber ich wusste auch, dass England auf die Musik vom Kontinent wartet. Und wenn England wartet, wartet die ganze Welt. Kurz vor dem Start der GB-Tournee traf ich Inga, Karl-Heinz (Schott) und Jean-Jacques (Kravetz) in Köln. Anstelle von Frank Diez und Kurt Cress hatten sie Ex-Randy Pie-Gitarrist George Meyer und Udo Lindenberg mitgebracht. Was auch immer die Gründe für diese Umbesetzung gewesen sein mögen, sei es, dass Frank und Kurti zu jazzy waren, sei es, dass die Kommunikation sonstwie (!?!) nicht klappte, für Atlantis stand die Tür offen, der Weg ins angelsächsische Musik-Paradies war frei.

»ATLANTIS:

„INGA PRÄGT UNSERE BAND WIE ROD STEWART DIE FACES!“

WAS NUR WENIGE WISSEN UND WAS IN INTERVIEWS AUF PRESSEKONFERENZEN NIE HERAUSZUBEKOMMEN IST, DAS WURDE MIR KLAR, ALS ICH EIN PAAR TAGE MIT ATLANTIS DURCH GOOD OL‘ ENGLAND TOURTE.

Etwas ist dran an dem Gerücht, dass GB’s Rock ’n‘ Roll Energien ein klein wenig verbraucht zu sein scheinen — mit anderen Worten: Die Wunschträume vieler Bands vom europäischen Kontinent sind plötzlich zum Greifen nahe gerückt, denn Englands Rock-Welt hat seit kurzem offene Ohren für Deutsch-Rock, Focus, etc.

Jean-Jaques Kravetz, Pianist/Organist von Atlantis sieht die Realität aus einem bemerkenswerten Blickwinkel: „Meine Vorstellung geht dahin, dass wir es auf kurz oder lang zu einem Format bringen können, das auf der Ebene von, sagen wir, Rod Stewart und den Faces liegt. Inga prägt unsere Band so etwa wie Rod Stewart die Faces und ihre Stimme macht unser Image in gewisser Weise, weisst Du.“

Nun, ich werde das Gefühl nicht los. dass Jean-Jacques hier in hellseherischer Schärfe voll ins Schwarze getroffen hat.

INGA BLIEB DIE SPUCKE WEG

Aus Zeitgründen konnte ich in England nur einen Atlantis-Gig miterleben. Er fand unter etwas unglücklichen Umständen in der Leeds University statt. Drei Gruppen hatten den Abend in zwei Sälen zu bestreiten. Den Anfang machte eine lokale Band. Als Atlantis auf der zweiten Bühne nebenan ihren Auftritt begann, musste das Publikum erst einmal die Plätze wechseln. Trotz dieses Durcheinanders bemerkte ich nicht wenige verblüffte Gesichter. Der Abend sah danach aus, als würde Atlantis jeden Augenblick gefeiert werden. Doch Inga blieb, wie sie mir später erzählte, auf der Bühne fast die Spucke weg, als bei der Zugabe die Leute im Saal langsam aber sicher ihre Plätze räumten. Nur ein paar besonders Angetörnte tanzten am Ende noch zum ‚Funky-Sound‘ der Hamburger. Was war geschehen?

Nun, als letzte Gruppe spielte Procol Harum wiederum auf der ersten Bühne. Jeder wollte sich dort natürlich einen guten Platz sichern. Verständlich. Verständlich auch, dass Atlantis ganz schön sauer waren. Ein wenig gute Laune kam schliesslich doch noch in die Garderoben-Szenerie, als die Bierflaschen leerer und leerer wurden und ein paar männliche Groupies Inga mit Komplimenten überschütteten. Das hörte sich dann etwa so an: „Waouh, Inga, Du warst so sexy on stage, Du must come back to Leeds. Wir werden Deine Groupies sein forever…“

Der Auftritt in Leeds war nur einer von mehr als 25 Gigs, die Atlantis in vier Wochen in England über die Bühne gehen liess. Höhepunkte waren wohl die letzten Tage der Tournee, als Deutschlands Top-Gruppe zusammen mit Traffic auch grössere Hallen zum Toben brachte, im Vorprogramm von Stevie Winwood’s Super-Group musste Atlantis mehrfache Zugaben spielen.

DIE NÄCHSTE ENGLAND-TOUR KOMMT BESTIMMT

Ausser mit Procol Harum und Traffic tourte die Hamburger Band zeitweilig u.a. auch mit Vinegar Joe und The Sharks über die Britische Insel. Zwei Tage nach dem unglücklichen Abend in Leeds ging es zu Live-Aufnahmen in ein Londoner BBC-Studio. Dort wurden die wichtigsten Atlantis-Songs sowie ein längeres Interview mit der Gruppe für die populäre Sendereihe ‚Sound Of The Seventies‘ aufgezeichnet. In diesem Studio war es auch, wo der Zeitpunkt gekommen war, mich auszuklinken, nicht ohne vorher Inga gefragt zu haben, wie sie persönlich mit dem England-Trip zufrieden ist: „Nun, ich hatte meine Erwartungen nicht allzu hoch geschraubt, deshalb bin ich jetzt im grossen und ganzen recht zufrieden. Wir haben hier mittlerweile einen Namen und auch den Vertrag für die nächste Tournee bereits in der Tasche. Es geht also bergauf…“

Inga hat recht. Es geht mächtig bergauf. Die nächste England-Tour in diesem Sommer ist schon bis ins Detail geplant, einschliesslich der Fernseh- und Rundfunk-Auftritte. Island Records, London, bastelt auch schon an der Amerika-Tournee.

LETZTE MELDUNG:

Kaum zurück in Hamburg wird bei Atlantis bereits fleissig weiter ausgewechselt. Drummer Udo Lindenberg hat sich alles noch einmal genau überlegt und ist ausgestiegen, um seine nächste Solo-LP, die zweite, auf der er deutsch singt, aufzunehmen. Gitarrist George Meier hat sich ebenfalls beurlaubt, ob er wieder einsteigt oder nicht, steht noch in den Sternen beziehungsweise im nächsten Musik Express, im 2. Teil der Atlantis-Story.