DIE AKTE IN UTERO
DER ERFOLG VON NEVERMIND KATAPULTIERTE NIRVANA IN DEN MAINSTREAM – EINEN ORT, DEN DIE BAND SCHNELL WIEDER VERLASSEN WOLLTE. IN UTERO SOLLTE IHRE RÜCKKEHR ZUM PUNK MARKIEREN. EIN BEFREIUNGSSCHLAG, DER AN DEN KRÄFTEN ZEHRTE, WIE UNSER MAKING-OF BESCHREIBT S.60. IM ANSCHLUSS EINES DER LETZTEN INTERVIEWS MIT KURT COBAIN ÜBER SEINE INSPIRATION HINTER DEN SONGS S.64 SOWIE AKTUELLE INTERVIEWS MIT DAVE GROHL S.70 UND KRIST NOVOSELIC S.72 ÜBER DIE BEDEUTUNG DES FINALEN NIRVANA-ALBUMS.
20 JAHRE NIRVANAS IN UTERO
EIN ME-SPEZIAL AUF 15 SEITEN
AUS DEM BAUCH HERAUS
IN DER WINTERÖDNIS VON MINNESOTA SPIELT KURT COBAIN MIT NIRVANA IM FEBRUAR 1993 SEINE PERSÖNLICHSTEN STÜCKE EIN. ENDLICH FINDET DIE BAND WIEDER ZUEINANDER, DIE AUFNAHMEN ZU IN UTERO MIT PRODUZENT ALBINI LAUFEN REIBUNGSLOS. BIS SICH DAS LABEL EINMISCHT – UND ES KRACHT.
Der Kampf gegen Gipfel, schreibt Albert Camus, vermag ein Menschenherz auszufüllen. Genau deshalb müssen wir uns Steve Albini als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Albini ist ein Mann, der gern von sich behauptet, dass ihm Integrität über alles gehe. Er ist Musiker, Sänger, Gitarrist und Produzent. Wobei ihm der Begriff Produzent gar nicht gefällt. Bekanntermaßen „produziert“ Albini keine Alben, er „nimmt sie auf“. Wem das Ergebnis als Plattenfirma nicht gefällt, den weist Albini gern darauf hin, dass er sich – pardon – die Platten „in den Arsch schieben“ könne.
Die Platte, die Albini in diesem Fall konkret ins Reich der Finsternis verbannen möchte, ist keine geringere als IN UTERO, Nirvanas letztes Studioalbum, erschienen sechs Monate vor Kurt Cobains Selbstmord.
Cannon Falls, Minnesota, Februar 1993. Die 3 500-Seelen-Gemeinde liegt unter einer dicken Schneedecke begraben. Winter in Minnesota sind kein Vergnügen, die Temperaturen fallen in den zweistelligen Minusbereich. Eisiger Wind pfeift durch die Straßen. Umgeben von diesem menschenfeindlichen Klima, wird sich an diesem hundsverlassenen Ort eine Band zurückziehen, dessen Mastermind man zu dieser Zeit einen ähnlichen inneren Gemütszustand nachsagt – misanthropisch und einsam.
Trotz aller Abgeschiedenheit sind Nirvana unter einem falschen Namen im Pachyderm Recording Studio eingebucht: The Simon Ritchie Bluegrass Ensemble hat sich angekündigt. Nur wer weiß, dass Sid Vicious‘ bürgerlicher Name John Simon Ritchie lautete, mag Verdacht geschöpft haben.
An diesem Punkt in ihrer Karriere sind Nirvana nicht mehr irgendeine Band. Mit „Smells Like Teen Spirit“ gelingt der Durchbruch, ihr zweites Album macht die Gruppe innerhalb kürzester Zeit weltberühmt. NEVERMIND stößt im Januar 1992 Michael Jacksons DANGEROUS von der Spitze der Billboard-Charts. Die Schlagzeile ist klar: Grunge-Band entthront King of Pop. Das Zauberwort in der Musikindustrie lautet fortan Wachablösung. Der sogenannte Mainstream bereichert sich plötzlich um ein obskures Genre. Zum ersten Mal verkauft sich Alternative Rock in einer Millionenauflage.
Und schon entspinnt sich eine Geschichte, der man etwas Raum für Folklore zugestehen darf. Historisch nachträgliche Schönfärberei der Protagonisten schleicht sich mühelos ein, wenn es um sensible Künstler geht, die sich vor dem Ausverkauf fürchten, gleichzeitig mit dem Druck der Plattenfirma und den Erwartungen der Fans hadern.
Die Geburt von IN UTERO (lat. „in der Gebärmutter“) lässt sich nicht erzählen, ohne den Vorgänger zu erwähnen. Und diese Geschichte geht ungefähr so: Der schlagartige Ruhm und der kommerzielle Erfolg von NEVERMIND überfordern die Band; Sänger und Gitarrist Kurt Cobain, Bassist Krist Novoselic und Drummer Dave Grohl müssen auf ungewohnte Presseanfragen reagieren, Interviews geben, Paparazzi dulden. Die eigentliche Bedeutung der Musik rückt ihnen zu sehr in den Hintergrund. Nach einigen Demosessions im Jahr 1992 entschließen sich Nirvana, für Album Nummer drei zum Grunge-Ursprung zurückzukehren, bloß weg vom glatten Pop-Lack einer NEVERMIND – und sei es auf Kosten vieler neu gewonnener Fans.
„Platten wie NEVERMIND lege ich zu Hause nicht auf. Ich kann mir dieses Album nicht anhören“, sagt Kurt Cobain in einem Interview mit dem Autor Jon Savage (siehe S. 60).“Ich mag viele der Songs darauf. Ein paar davon spiele ich sogar live ganz gern. Aus kommerzieller Sicht ist es vermutlich eine exzellente Platte. Für meinen persönlichen Geschmack ist sie zu gelackt.“
Um jedwede Form von Überproduktion auf dem dritten Album zu vermeiden, muss jemand mit echten indie credentials her. Jemand, von dem die Band ausgeht, dass er das kommerzielle Schlachtschiff Nirvana wieder auf Punk-Kurs bringen kann. Die Wahl fällt auf Steve Albini. Die Wahl fällt somit zugleich auf einen Mann, der sich den gängigen Gepflogenheiten der Musikindustrie entzieht. Der seine eigene Band Big Black auf die Gefahr hin auflöst, eines Tages „zu populär werden zu können“. Er scheint wie gemacht für Nirvanas Anspruch, sich nach dem unerwarteten Erfolg von NE-VERMIND wieder aus dem Mainstream zurückzuziehen.
„Ich weiß, dass Kurt den Sound von NEVERMIND eigentlich mochte“, sagt Krist Novoselic. „[Die Ablehnungshaltung] war nur eine Reaktion, eine Reaktion auf eine Menge verschiedener Dinge. In einer Art und Weise war es eine Reaktion, um Albini zu gewinnen. Wir wollten nicht dastehen als Band, der man Ausverkauf anlastet, und Albini war nun einmal bekannt dafür, Integrität zu haben. Für uns war es logisch, dass wir uns wieder auf unsere Wurzeln besinnen, anstatt ein weiteres glattpoliertes Album aufzunehmen. Zumal die Stücke auf IN UTERO ziemlich düster waren. Es ist ein düsteres Album. Es ist wahnsinnig schön und zur gleichen Zeit sehr finster und aggressiv. Wohingegen NEVERMIND beinah quietschbunt war.“
Albini soll bei den Aufnahmen die natürliche Akustik einer Band, die gemeinsam in einem Raum spielt, einfangen. Und nicht -wie auf NEVERMIND von Produzent Butch Vig erdacht – mit gedoppelten Aufnahmen und Drum-Samples für Radiotauglichkeit sorgen. Blaupause für die Session in Pachyderm ist SURFER ROSA von den Pixies, eins von Cobains Lieblingsalben aus jenem Jahrzehnt. Novoselic erinnert sich an eine Autofahrt, unterwegs zu Probeaufnahmen mit Butch Vig, irgendwann im Frühjahr 1990. Im Kassettendeck lief SURFER ROSA: „Wir waren irgendwo in der Nähe von Montana oder North Dakota. Chad (Channing, ehem. Schlagzeuger der Band – Anm. d. A.) saß am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz, Kurt hinten im Van auf diesem Stuhl, leicht erhöht, wie auf einem Thron. Er hielt sich an den Armlehnen fest und dann nahm er einen Arm hoch, richtete seinen Zeigefinger auf, als sei es eine königliche Anordnung, und sagte mit gespreizter Stimme: ‚So solle sich auch unser Snare anhören!‘ Kurz danach: PENG – und der Reifen ist geplatzt.“
Produziert hatte SURFER ROSA eben jener Steve Albini. Doch bevor er 1992 eine offizielle Anfrage erhält, vergehen Monate. Spekulationen machen schon länger die Runde, wer sich nach NEVERMIND des Riesen Nirvana annehmen könnte. Albinis Name fällt immer wieder. Journalisten stellen wochenlang Anfragen bei ihm nach einer möglichen Entscheidung – nur die Band selbst regt sich nicht.
Schlussendlich fühlt sich Integritätszampano Albini dazu veranlasst, eigens ein Statement abzugeben, dass es sich bei seiner Beteiligung am neuen Nirvana-Album lediglich um ein Gerücht handele, was ihm potenzielle Aufträge anderer Gruppen kosten würde.
„Ich fing an, dieses Zeug in Fanzines zu lesen, ich sei mir zu schade, mit kleinen Bands zu arbeiten, und dass ich mich verkauft hätte. Zu diesem Zeitpunkt hatten Nirvana und ich kein einziges Wort über Aufnahmen gewechselt. In der Tat hatten wir noch nie miteinander geredet! Ich glaube, ich habe eines Nachts irgendwann mal einen Anruf im Suff von Kurt bekommen, während er auf Tour war oder so. Er hat sich jedoch nicht zu erkennen gegeben damals …“
Wenn man so will, fängt zwischen Nirvana und Albini also alles mit einem Klingelstreich an. Erst der nächste Anruf von Cobain Ende 1992 dient dazu, Albini an Bord zu holen. „Es mag absurd klingen“, erzählt er Jahre später, „aber ich war überhaupt nicht vertraut mit Nirvanas Musik. Sie lief höchstens mal bei Freunden, wenn ich zu Besuch war. Fan war ich zu dieser Zeit sicherlich nicht, und ich fand auch nicht, dass sie die beste Band aus dieser Generation war. Als ich mir ihre Alben besorgt und angehört hatte, änderte das meinen Eindruck auch nicht. Ihr schwächstes Album ist ganz offensichtlich NEVERMIND. Es repräsentiert die Band, wie ich sie kennengelernt habe, am wenigsten.“
Derartige Sätze würden einen jeden Angestellten einer Plattenfirma zusammenzucken lassen – schwächstes Album offensichtlich NEVERMIND, hört, hört. Selbst wenn diese denkwürdige Sentenz erst Jahre später fiel, war man sich beim Nirvana-Label Geffen Records auch so bewusst, wen man sich mit Albini ins Haus holen würde. „Ich glaube kaum, dass sie dahinterstanden“, lacht Novoselic. „Albini ist nun mal Bilderstürmer. Und er ist bekannt als offener Kritiker gegenüber Plattenfirmen und dem ganzen musikalischen Prunk und den vielen Ausschweifungen [der Branche].“ Das beste Durchsetzungsargument lag bei der Band, und zwar in Form von siebenstelligen Absatzzahlen. „Wir hatten genug Platten verkauft, um machen zu können, was wir wollten.“
Dave Grohl, der ab 1990 die beiden Gründungsmitglieder Cobain und Novoselic am Schlagzeug begleitete, sah die Ausgangslage ähnlich: „Nach NEVERMIND konnten wir bestimmen. Unser A&R-Mann zu der Zeit, Gary Gersh, ist ausgeflippt. Ich sagte zu ihm: ‚Gary, mach dir keine Sorgen, das Album wird großartig klingen.‘ Er antwortete: ‚Ich mache mir keine Sorgen, legt einfach los und bringt mir euer Bestes mit.‘ Es klang so nach: ,Ihr tobt euch mal ruhig aus, wir holen dann schon einen Produzenten und nehmen das richtige Album auf.'“
Da der Argwohn auf Gegenseitigkeit beruht und Albini seine Aufnahmen mit der Band vor Einflüsterern aus dem Labellager schützen will, rät er Cobain am Telefon, die Studio-Aufnahmen als Band selbst zu bezahlen. Denn wann immer Geld von außen einfließe, bestehe auf deren Seite die selbstverständliche Annahme, Mitspracherecht bei der Veröffentlichung zu haben, macht Albini dem vom Richtungswechsel überzeugten Cobain klar. Durch diesen Kniff nimmt der Produzent zusätzlichen Druck von der Band und sichert sich als Studio-Svengali den größtmöglichen Einfluss auf das Endergebnis.
Diese Mischung aus vollmundigem Enthusiasmus der drei Musiker, nach dem NEVERMIND-Erfolg die Band-Geschicke ohne Label bestimmen zu können, und Albinis Aversion gegenüber den Mechanismen der Musikindustrie wird wenig später den Knackpunkt in der Entstehung von IN UTERO darstellen.
Bis dahin entwerfen Cobain und Albini erst einmal eine Strategie für die in wenigen Wochen anstehenden Aufnahmen in der Winterödnis von Minnesota. Albini schickt der Band Tapes von RID OF ME. Dem Album, das er mit PJ Harvey im Dezember 1992 in der kleinen Ortschaft Cannon Falls aufgenommen hat. Die Band soll wissen, wie die Studioakustik klingt. Nirvana schicken gleichzeitig Referenzalben an ihren Produzenten, damit er die Koordinaten abstecken kann, und beginnen währenddessen, sich im Proberaum vorzubereiten. Die Band will, dass die Songs sitzen für die Session im Februar 1993. Es soll schnell gehen, sie haben nur vierzehn Tage, das Album einzuspielen. Länger ist das Simon Ritchie Bluegrass Ensemble nicht in Pachyderm eingebucht.
Die Kosten fürs Studio halten sich mit 24 000 US-Dollar im überschaubaren Rahmen. Allein bei Albinis Gage gibt es Diskrepanzen mit Gold Mountain Entertainment, Nirvanas Management. Albini lehnt den Vorschlag ab, mit einem gewissen Prozentsatz an jeder verkauften CD beteiligt zu sein. Was ihm Prognosen zufolge bis zu 500 000 Dollar eingebracht hätte. Dieses Konzept widere ihn an, lässt er verlautbaren, die Summe sei irrwitzig. Stattdessen schlägt er eine Vorab-Einmalzahlung in Höhe von 100 000 Dollar vor. Das Management willigt ein, wohl auch in der Annahme, möglicherweise noch einen alternativen Produzenten bezahlen zu müssen, sollten sich die Aufnahmen als fruchtlos erweisen.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Band wird in der zweiten Februarwoche von Sound-Ingenieur Brent Sigmeth am Minneapolis St. Paul International Airport abgeholt und nach Cannon Falls ins Pachyderm Recording Studio gefahren. Außer ihnen sind nur Albini, Techniker Robert. S. Weston IV und die Köchin Carter Nicole Launt vor Ort. Nach Monaten bandinterner Querelen, angeschoben durch die Aufmerksamkeitswelle des Welterfolgs NEVERMIND, findet sich das Trio endlich in einer entspannten, neu fokussierten Grundstimmung wieder. Fernab der Industrieseifenblase beginnen am Valentinstag 1993 die Aufnahmen für Nirvanas drittes Studioalbum IN UTERO.
Albini beeindruckt Cobain mit seinem Tontechnikwissen und anderen akustischen Spielereien, indem er mehr als 20 Mikrofone auf dem Boden, an den Wänden und unter der Decke des Studios arrangiert. Für gewöhnlich geht die Band gegen zwölf Uhr ins Studio, arbeitet bis abends an den Songs, nach dem Essen noch einmal bis Mitternacht.
Der Vorteil eines Produzenten vom Schlage Albinis: Er hält sich nicht lange mit Dingen auf. Bei den meisten Songs verlangt er der Band nur ein oder zwei Takes ab; etwaige Ecken und Kanten bleiben unpoliert. Nach fünf Tagen sind die Stücke aufgenommen, zwei Tage werden für Overdubs benötigt, weitere fünf zum Abmischen. Cobain schreibt die meisten Songtexte dann und dort im Studio, kurz vor der Aufnahme. Seit Jahren eh von Selbstpein und Heroinabhängigkeit geplagt, balanciert er als frischgebackener Vater die Themen Geburt, Nachwuchs, Leid und Verlust mit gewohntem Zorn aus, ohne sich in den Texten der Verzweiflung komplett hinzugeben. „All ihre Aufnahmen hatten diese seltsame Intensität. Jedes Wort aus Kurts Mund sprach von einer gewissen subtilen Perversität, die mir gefiel“, erzählt Albini. Zwölf Tage brauchen Nirvana, um ihr womöglich bestes, sicher aber persönlichstes Album aufzunehmen.
Nur Industrie-Skeptiker Albini hat eine Vorahnung: „Die Plattenfirma mischte sich im Studio in keiner Weise ein. Aber es war offensichtlich, dass sie einen Plan B in der Schublade hatte.“ Direkt nach Ende der Aufnahmen in Cannon Falls ist die Erleichterung zu spüren. Starker Auftritt, tolles Album, sind sich alle Beteiligten sicher. Am letzten Tag machen – Rocker pflegen manchmal auch nur ihre neureichen Kinderseelen – tatsächlich Jubelzigarren die Runde.
Wie schnell der Nebel verziehen kann und klare Sicht auf die Dinge freigibt, merkt Albini keine zwei Wochen später. Sein Telefon klingelt, Cobain am Apparat: Steve, bad news, der A&R-Mann hasst das Album, zu viele Effekte auf den Drums, Gesang kaum zu hören. Außerdem habe Gary Gersh das Songwriting für nicht ausgereift genug gehalten, erzählt Cobain später dem „Melody Maker“. Trotzdem versichert er Albini, das Album unverändert zu veröffentlichen.
Derweil bekommt die Presse ihren Löwenfraß. Geffen steckt, dass man nicht zufrieden sei mit der Platte. Die Rolle des Schuldigen in diesem Stück fällt Albini in den Schoß. „Ein Journalist aus Chicago ruft mich an, erzählt mir, man habe ihm gesagt, die Platte könne man so nicht veröffentlichen und dass meine Arbeit schuld daran sei. Was ich darauf geantwortet habe? Dass Nirvana genau das Album gemacht hätten, das sie machen wollten, und dass die Plattenfirma es sich in den Arsch schieben könnte.“ Mit einem Mal verpufft der breitbrüstige
Spruch „Bestsellerband, wir sagen, wo’s langgeht!“, als ein weiterer Anruf bei Albini eingeht. Hallo, Kurt hier: Die Band habe sich das noch einmal durch den Kopf gehen lassen, ein paar der Lieder werde man wohl doch neu abmischen. Albini bleibt standhaft. Er sehe nicht, wie er die Stücke verbessern könne. Auftritt: Scott Litt. Der R.E.M.-Produzent mischt Mitte Mai in Seattles Bad Animals Studio zwei der zwölf Lieder neu ab, „Heart-shaped Box“ und „All Apologies“. Genau diese beiden Stücke werden später als Singles veröffentlicht.
Das Label weist per Statement jede Einflussnahme auf das erneute Abmischen zurück; die Entscheidung läge bei der Band, der man jeden kreativen Freiraum gewähre. Das gute Verhältnis zwischen Albini und Band kühlt sich mit dieser Episode merklich ab. Albini pestet gegen Geffen, die er hinter der Maßnahme vermutet, Cobain rät ihm in einem Interview, locker zu bleiben, alles halb so wild. An dieser Stelle die logische Frage: Dem Wunschproduzenten schlussendlich doch den Rücken zuzukehren – wo genau schwingt der Punkrock da seinen Stachel?
Kurt Cobain hatte mit IN UTERO den Gegenentwurf zu NEVERMIND vor Augen. Dann musste (oder wollte) er den Wünschen seiner Plattenfirma nachgeben. Für einen, der sich im Leben bereits auf existenziell bedrohlicher Sinnsuche befindet, nun, wie leicht fällt es solch einem Menschen, einen musikalischen Fixpunkt zu finden? So lässt sich das Album auch 20 Jahre nach Erscheinen auf verschiedenste Arten deuten, die Songtexte gründlich auf des Sängers Autobiografie abklopfen. Ein halbes Jahr nach Erscheinen von IN UTERO erschießt sich der 27-Jährige jedenfalls. Es die Grabschrift einer großen Band; im Nachhinein ein Beispiel für den gescheiterten Versuch von Musik als Exorzismus.
Wir müssen uns Cobain als einen zerrissenen Menschen vorstellen.