Jahresrückblick

Die 50 besten Platten des Jahres 2018


Wir haben abgestimmt und die (subjektiv) einzig wahre Liste erstellt: Das sind die 50 Favoriten der ME-Redaktion und somit die besten Alben des Jahres 2018. Ha!

Platz 10: Helena Hauff – QUALM

Ninja Tune/Rough Trade (VÖ: 3.8.)
Dass die bekennende Raucherin Helena Hauff ihr zweites Album QUALM nennt, zeugt auf jeden Fall von einem feinen Sinn für Humor. Tschüss Healthy-Living-Diktat, zu diesem brachialen EBM-Sound darf auf dem Dancefloor noch geschwitzt, der Tequila gekippt und Kette gequalmt werden. Klingt nach 80er-Jahre-Mentalität und irgendwie nach Oldschool? Genau: nach Helena Hauff. Im Gegensatz zu ihrem eher an Songstrukturen orientierten Debüt DISCREET DESIRES von 2015 kommt QUALM fast experimentell, definitiv aber raw daher. Gewohnt analog liefert Helena Hauff neben dreckigen Acidbrettern und Industrial-Tools auch verspielte Synthie-Experimente, die auf „Entropy Created You And Me“ schon mal irgendwo zwischen Laurie Spiegel, New Age und Super Nintendo umherschwirren. Der morbide Wave-Pop ihres Debüts ist jetzt noch eine Nuance düsterer geworden. Das englische Wort „qualm“ bedeutet nämlich übersetzt auch Unbehagen, Skrupel oder Zweifel. Dass die Hamburgerin über Letzteren aber in jedem Maße erhaben ist, steht außer Frage. Laura Aha

Platz 9: Goat Girl – GOAT GIRL

Rough Trade/Beggars/Indigo (VÖ: 6.4.)
Von all den tollen neuen DIY-Bands, deren Sound 2018 aus Südlondon herüberwehte, spielten Goat Girl die bissigsten und am schönsten scheppernden Songs. Auf ihrem Debüt bündeln die vier Britinnen die ganze Schubkraft ihrer vom Brexit durchlöcherten Jugendkultur in zackigen Dreiminütern: Gelangweilt, aber rebellisch und mit viel trockenem Humor spielen sie ihre polternden Gitarren zwischen Postpunk, staubigen Honky-Tonk-Rhythmen und einer kompletten Gleichgültigkeit gegenüber gängigen Songstrukturen. Das London, das Sängerin Lottie dazu mit ihrer herrlich schleppenden Stimme besingt, ist dunkel und schmutzig: ein schlecht belüfteter Ort der Perversen und Perspektivlosen, in dem es sich zu behaupten gilt. Goat Girl tun das, indem sie zwei Postpunk-Tugenden in die Gegenwart retten: die Scheiß-drauf-Mentalität, die sie mindestens so würdevoll zelebrieren wie einst Siouxsie Sioux oder die Pixies. Und die schnodderige Romantik, die die Libertines eine Zeit lang zur besten aller Inselbands machte. Annett Scheffel

Platz 8: Julia Holter – AVIARY

Domino/GoodToGo (VÖ: 26.10.)
Die große Liebe zum Experimentellen hat man Julia Holters Kammer- und Sphärenpop immer schon angehört. Nirgends ist das aber je so deutlich geworden wie in diesem weitläufigen Mysterien-Kabinett von einem Album: opulent und seltsam berührend und vollgestopft mit Fragmenten aus Jahrhunderten klassischer und moderner Musik. Nach HAVE YOU IN MY WILDERNESS mit seinen sonnendurchfluteten Popmelodien ist AVIARY eine beeindruckend bedingungslose Rückkehr zur Avantgarde. 90 Minuten lang vertont die Kalifornierin ihre „Kakophonie des Verstandes in einer schmelzenden Welt“. Wir hören Streicher, Tröten und multiplizierte Stimmen, pfeifende Synthesizer und Hitchcock’sche Vogelschwärme in weirden Klangschichten. Es ist das große Flirren und Vibrieren einer mit Metaphern aufgeladenen Ideenwelt: von Dantes „Göttlicher Komödie“ über die antike Dichterin Sappho bis zur Jungfrau von Orléans. Eine therapeutische Musica Furioso für eine wahnsinnig gewordene Menschheit. Eine eigene Welt, die sich intellektuell und emotional erforschen lässt. Annett Scheffel

Platz 7: Idles – JOY AS AN ACT OF RESISTANCE

Partisan/PIAS/Rough Trade (VÖ: 31.8.)
Druck erzeugt Gegendruck. Und so darf man es auch als Reaktion auf den ganzen Brexit-Irrsinn verstehen, dass in einer Zeit, in der die britische Gitarrenmusik still und leise entschlafen war, plötzlich ein Album wie dieses erscheint. Idles mögen das gleiche Spiel wie Shame oder Life spielen. Es ist Punkrock, oder zumindest dort grundiert. Die Dringlichkeit, die diese Musik besitzt, ist das, was die Band aus Bristol spätestens jetzt hervorhebt. Songs wie „Samaritans“ („I love myself and I want to try“, heißt es hier mit Nirvana-Verweis) oder „Danny Nedelko“ mit seinen Zeilen „My blood brother is an immigrant, a beautiful immigrant. My blood brother’s Freddie Mercury, a Nigerian mother of three“ erinnern in ihrem Vortrag an die frühen Manics oder an Chumbawamba, auch wenn die musikalische Stoßrichtung eine andere sein mag. Wer diese Band verstehen möchte, beginnt am besten bei YouTube: Der Auftritt, den die Band Ende September in der TV-Show „Later… With Jools Holland“ bestritt, gehört zu den besten, die dort jemals stattfanden. Jochen Overbeck

Platz 6: Soap&Skin – FROM GAS TO SOLID/YOU ARE MY FRIEND

PIAS/Rough Trade (VÖ: 26.10.)
Erinnern Sie sich, wie befreiend das damals war, als Beth Gibbons nach zwei alles andere als lebensbejahenden Portishead-Alben ihr Solodebüt eröffnete mit: „God knows how I adore life?“ Es gibt immer einen Ausweg, man muss ihn nur finden wollen. Ähnliches löste die Comebacksingle von Soap&Skin aus: Ganz programmatisch „Heal“ hieß das erste große Lebenszeichen sechs Jahre nach dem tonnenschweren NARROW, auf dem Anja Plaschg sich dem Tod ihres Vaters stellte. Auf der nächsten Single, dem lichtdurchfluteten „Italy“ träumte sie sich in den Süden. Den Abschluss ihres dritten Albums bildet wieder eins ihrer grandios geratenen Covers: „What A Wonderful World“. Ganz ohne Sarkasmus. Das hier ist kein Selbsterbauungsratgeber, dafür ist Plaschg zu klug, dafür zwingt ihr die Welt zu viele Zweifel auf. Aber Plaschg ist jetzt auch Mutter und ihrer Tochter hat sie in vor unkonventionellen Ideen berstender Detailarbeit in den eigenen vier Wiener Wänden ein Art-Pop-Idyll entworfen, das schützt, das wärmt und das stärkt. Stephan Rehm Rozanes

Platz 5: Blood Orange – NEGRO SWAN

Domino/GoodToGo (VÖ: 24.8.)
In den letzten Jahren ist ausgerechnet der Brite Dev Hynes zu einer der wichtigsten Kräfte in jenen Kreisen der US-Popmusik geworden, die eine warme Fusion aus R’n’B, Soul und Jazz mit einer erwachenden political consciousness zusammenführen. Mit NEGRO SWAN, dieser Platte für alle schwarzen Schafe und hässlichen Entlein, verdoppelt er seinen Einsatz. Sein viertes Album als Blood Orange erinnert in seiner kraftvollen Verschmelzung von politisch und privat an Solanges A SEAT AT THE TABLE. Zusammen mit seinem Kollektiv aus Gaststars (u.a. Puff Daddy, Georgia Anne Muldrow) sinniert Hynes über Ängste und Hoffnungen, und darüber, was es bedeutet, schwarz und schwul zu sein. Eine kluge und in ihrer Empathie zutiefst tröstende Platte, die wie in einem sanft dahinfließenden Bewusstseinsstrom Verbindungslinien zwischen zwei Welten knüpft: den Straßen von London, auf denen er als junger Mann gemobbt wurde, und dem Amerika von heute, wo ein Besuch in einem queeren Nachtclub in einem Massaker enden kann. Annett Scheffel

Platz 4: Sophie – OIL OF EVERY PEARL’S UN-INSIDES

Transgressive/[PIAS] Coop/Rough Trade (VÖ: 15.6.)
Einfluss zeigt sich meist retrospektiv. Großer Einfluss wird erst mit großem Abstand erkennbar. 1969 wusste man nicht, dass die Stooges soeben Punk erfunden hatten. Deren Debüt war schlicht Lärm, fernab aller damaliger Hörgewohnheiten. Auch das erste „richtige“ Album der genderbendenden, schottischen Elektro-Produzentin Sophie (Lady Gaga, Madonna, PC Music) – der Vorgänger PRODUCT war 2015 eine Singles-Compilation – wird erst in einigen Jahren flä- chendeckend als das anerkannt werden, was es ist: der Evo- lutionsschritt, mit dem Pop endlich im 21. Jahrhundert ange- kommen ist. Könnte man Menschen der 1960er-Jahre per Zeitreise bisherige Superhits des neuen Millenniums wie „Blurred Lines“, „Hello“, „Crazy“ oder „Rehab“ vorspielen, dürfte sich Ernüchterung einstellen, würden die fortschrittssehnsüchtigen Sci-Fi-Traumblasen von fliegenden Autos und Haushaltsrobotern platzen. Anders beim wild sprudelnden, gleißend grellen Hyper-Avant-Pop von Sophie. Der hat weder mit der Vergangenheit noch mit der Gegenwart zu tun. Das ist wahre Zukunftsmusik. Stephan Rehm Rozanes

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Charlotte Wales